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Aktualisiert: vor 2 Stunden 58 Minuten

Inflation und Zinssätze: die Erfahrung der USA

Mo, 06/05/2024 - 08:55

Wieder einmal befindet sich die US-Notenbank in einer Zwickmühle.  Senkt sie ihren Leitzins bald, um den Druck auf die Schuldendienstkosten für Verbraucher und Unternehmen zu mindern und vielleicht eine Stagflation zu vermeiden (d. h. geringes oder kein Wachstum bei gleichzeitig höherer Inflation), oder hält sie an ihrem derzeitigen Zinssatz für die Kreditaufnahme fest, um sicherzustellen, dass die Inflation in Richtung ihres Ziels von 2 % pro Jahr fällt?

Das ist die Frage, auf die Mainstream-Ökonomen und Investoren in Finanzanlagen eine Antwort haben wollen.  Aber das ist nicht die wirklich wichtige Frage.  Das derzeitige Dilemma der Fed zeigt, dass die "Geldpolitik" (d. h. die Anpassung der Zinssätze und der Geldmenge durch die Zentralbanken) nur geringe Auswirkungen auf die Kontrolle der Inflation bei den Preisen für Waren und Dienstleistungen hat, die Haushalte und Unternehmen zahlen müssen.

Zentralbanker und Mainstream-Ökonomen argumentieren weiterhin, dass die Geldpolitik einen Einfluss auf die Inflationsraten hat.  Die Beweise sprechen jedoch für das Gegenteil.  Die Geldpolitik steuert angeblich die "Gesamtnachfrage" in einer Volkswirtschaft, indem sie die Kreditaufnahme für Ausgaben (sei es für Konsum oder Investitionen) teurer oder billiger macht.  Die Erfahrung des jüngsten Inflationsanstiegs seit dem Ende der Pandemiekrise im Jahr 2020 ist jedoch eindeutig.  Die Inflation stieg aufgrund der geschwächten und blockierten Lieferketten und der langsamen Erholung der verarbeitenden Industrie an, nicht aufgrund einer "übermäßigen Nachfrage", die entweder durch eine staatliche Ausgabenwut oder "übermäßige" Lohnerhöhungen oder beides verursacht wurde.  Und die Inflation begann zu sinken, sobald die Energie- und Nahrungsmittelknappheit und die Preise nachließen, die Blockaden in den globalen Lieferketten abgebaut wurden und die Produktion wieder anlief.

Es sollte sich erübrigen,  noch einmal auf die bisherigen Beweise eingehen, dass die Inflation angebots- und nicht nachfragegesteuert war, denn sie sind überwältigend.  Dies bedeutete jedoch, dass die Geldpolitik der Zentralbanken wenig zur Verringerung der Inflation beitragen konnte.  Und hier liegt der Knackpunkt.  Die Inflationsraten beginnen wieder anzusteigen, insbesondere in den USA.  Die Kerninflation in den USA (ohne Lebensmittel- und Energiepreise) steigt im gleitenden 3-Millionen-Durchschnitt inzwischen auf über 4 % pro Jahr.


Und dafür gibt es zwei Gründe.  Erstens haben die Lebensmittel- und Energiepreise wieder zu steigen begonnen.  Die Ölpreise haben angezogen, da die Houthis die Schifffahrt im Roten Meer angreifen und Israel den Krieg im Gazastreifen auf den Iran ausweitet.

 

Und ein wichtiger Rohstoff für die Industrie, Kupfer, ist knapp und hat jetzt einen Rekordpreis.

 

 

Die US-Notenbank steckt in einer Zwickmühle, und Mainstream-Ökonomen sind gezwungen, die Wirksamkeit des Monetarismus zu überdenken, der besagt, dass die Inflation durch ein übermäßiges Geldmengenwachstum im Vergleich zur Produktion verursacht wird.  Die Zentralbanken haben das Geldmengenwachstum gedrosselt, angeblich um die Inflation zu verringern. Doch in der breiten Öffentlichkeit macht sich Unsicherheit breit.


Financial Times veröffentlichte kürzlich Woche einen Artikel mit der Überschrift: The limits of what high interest rates can now achieve" (Die Grenzen dessen, was hohe Zinssätze jetzt erreichen können) und kommentierte, dass "wir realistisch sein müssen, was die Geldpolitik tun kann und was nicht". Der Artikel räumt ein, dass "die Wirksamkeit der Geldpolitik auch von den strukturellen wirtschaftlichen Triebkräften abhängt, die sie umgeben. Schließlich wurde die Zeit der günstigen Inflation vor der Finanzkrise durch eine elastische Produktion und Energieversorgung begünstigt. Mit Blick auf die Zukunft ist die Verwendung von Zinssätzen mit unzuverlässigen Verzögerungen zur Beeinflussung der Nachfrage ein Rezept für Volatilität, da Angebotsschocks aufgrund von Regionalisierung, Geopolitik und einer weniger günstigen demografischen Entwicklung anhalten - es sei denn, es gibt kompensierende Produktivitätssteigerungen".
Der Artikel kommt zu dem Schluss, dass "die Steuer- und Angebotspolitik in der Preisstabilitätsdebatte stärker in den Vordergrund gerückt werden muss. Schließlich ist ein defekter Wasserhahn noch nutzloser, wenn die Rohrleitungen defekt sind".

Dennoch wird in dem Artikel weiterhin behauptet, dass die Geldpolitik der Fed und anderer Zentralbanken dazu beigetragen habe, die Inflation zu senken.  Der Artikel zitierte für diese Behauptung verschiedene Papiere der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und der Bank of England.  Doch wenn man sich diese Quellen anschaut, zeigt sich wieder das Gegenteil.  Das zitierte BoE-Papier kommt zu dem Schluss, dass "die Inflation im Vereinigten Königreich im Jahr 2021 durch Knappheit und Energiepreisschocks und in den Jahren 2022 und 2023 auch durch Lebensmittelpreisschocks und einen angespannten Arbeitsmarkt erklärt wird. Die Inflationserwartungen sind besser verankert als vom Modell vorhergesagt. Die bedingten Projektionen deuten darauf hin, dass die Inflation im Vereinigten Königreich im Jahr 2023 aufgrund von disinflationären Energie- und Lebensmittelpreiseffekten stark zurückgehen wird, der Rückgang sich danach aber deutlich verlangsamen wird."  Mit "übermäßiger Nachfrage" hat das nicht viel zu tun

Selbst in der Heimat des Monetarismus, der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, ist die Behauptung, die Inflation sei auf ein übermäßiges Geldangebot oder gar eine übermäßige Nachfrage zurückzuführen, nicht sehr überzeugend.  Das BIZ-Papier konzentriert sich nicht auf die anfänglichen Ursachen des Inflationsschubes, sondern auf die Wahrscheinlichkeit, dass die Inflation "hartnäckig" bleibt und nicht viel zurückgeht, weil die Gefahr besteht, dass die Arbeitnehmer die "angespannten" Arbeitsmärkte nutzen, um die Löhne zu erhöhen.  Die BIZ macht sich mehr Sorgen über die Auswirkungen auf die Rentabilität der Unternehmen als über die Tatsache, dass die Löhne der Arbeitnehmer immer noch versuchen, mit dem Anstieg der Durchschnittspreise um mehr als 20 % seit dem Ende der Pandemie Schritt zu halten. "In angespannteren Märkten ist es wahrscheinlicher, dass sich die Verhandlungsmacht zugunsten der Arbeitnehmer verschiebt und die Überwälzung zwischen Löhnen und Preisen zunimmt.  Oh je.  Aber selbst die BIZ räumt ein, dass "ungünstige demografische Trends und pandemiebedingte Präferenzverschiebungen auf der Angebotsseite einen großen Anteil an der Erklärung dieser Dynamik haben können."

Das letzte gängige Argument für die Inflation sind die Inflationserwartungen.  Die Haushalte und sogar die Unternehmen erwarten nämlich eine Beschleunigung der Inflation, so dass die Haushalte mehr kaufen und die Unternehmen die Preise stärker anheben, was zu einer noch höheren Inflation führt.  Die Erwartungstheorie ist überhaupt keine Theorie.  Sie kann nur funktionieren, wenn die Inflation bereits steigt, und kann daher den anfänglichen Anstieg überhaupt nicht erklären.  Die Erwartungstheorie ist als Erklärung für die steigende Inflation entlarvt worden.  Jetzt, da die Inflation sinkt, sind die Beweise für diese "Theorie" weiterhin schwach.

Allianz Research hat den Rückgang der vierteljährlichen annualisierten Inflation in den USA um 9 Prozentpunkte seit dem zweiten Quartal 2022 mit Hilfe einer Regressionsanalyse aufgeschlüsselt. Dabei wurde festgestellt, dass 5,5 Prozentpunkte des Rückgangs auf Probleme in der Lieferkette zurückzuführen sind, die sich einfach auflösen. Das sind also etwa 60 % des Rückgangs.  AR geht jedoch davon aus, dass 2,7 Prozentpunkte des Rückgangs von 9 % "auf die Signale der Federal Reserve zurückzuführen sind, die dazu beigetragen haben, die Inflationserwartungen neu zu verankern."  Ich überlasse es Ihnen zu glauben, was Sie von der Idee des "Signals" halten.  Weitere 2,2 Prozentpunkte sind darauf zurückzuführen, dass die höheren Zinssätze die Nachfrage drücken, was notwendig war, um den inflationären Auswirkungen der unterstützenden Finanzpolitik und des Arbeitskräftemangels entgegenzuwirken.  Selbst wenn man diese Analyse akzeptiert, bedeutet dies, dass 60-80 % des Rückgangs der US-Inflation seit Mitte 2022 auf angebotsseitige Faktoren zurückzuführen sind.

Und damit sind wir bei der "Stickiness“ der Inflation angelangt.

Welche Komponenten des Inflationsindex sind trotz der Zinserhöhungen der Zentralbanken nicht gesunken?  Die Antwort lautet: die Wohnkosten und die Kfz-Versicherung, die stark angestiegen sind.  Wie der FT-Artikel einräumt: "Beide sind zum Teil ein Produkt der pandemischen Angebotsschocks - geringere Bautätigkeit und ein Mangel an Fahrzeugteilen -, die immer noch durch die Lieferkette sickern. Tatsächlich sind die jetzt teureren Kfz-Versicherungen ein Produkt des früheren Kostendrucks bei Fahrzeugen. Die Nachfrage ist nicht das zentrale Problem; hohe Tarife können nur wenig ausrichten.

Der FT-Artikel schließt mit den Worten: "So oder so, die Geldpolitik ist ein Auffanginstrument. Sie kann die Nachfrage nicht auf schnelle, lineare oder gezielte Weise steuern. Andere Maßnahmen müssen die Flaute auffangen. Schätzungen deuten darauf hin, dass Angebotsfaktoren - auf die die Zinssätze wenig Einfluss haben - inzwischen mehr zur US-Kerninflation beitragen als die Nachfrage."  Nun, während des gesamten Anstiegs und Rückgangs der Inflation war das Angebot die Haupttriebfeder.

Wie geht es jetzt weiter? 

Das Risiko besteht nun darin, dass sich die US-Wirtschaft verlangsamt und die Produktion stagniert, während die Inflation aufgrund eines neuen Anstiegs der Rohstoffpreise "sticky" bleibt. Die US-Wirtschaft ist im vergangenen Jahr real (d. h. nach Berücksichtigung der Inflation) mit einer Jahresrate von 3,4 % gewachsen.  Dies wurde von den Mainstream- und Finanzmedien mit Euphorie begrüßt. "Die US-Wirtschaft entwickelt sich sehr gut... Wir werden wirklich von der ganzen Welt beneidet", sagte ein EconForecaster, James Smith.  Doch dann, im ersten Quartal 2024, verlangsamte sich die jährliche Wachstumsrate des realen BIP auf 1,6 %, die langsamste Rate seit der ersten Hälfte des Jahres 2022.

 

Darüber hinaus sind die jüngsten Konjunkturumfragen, die so genannten PMIs (1), für die USA düster.  Jeder Wert unter 50 deutet auf eine Schrumpfung hin.  Im April lagen sowohl der PMI für das verarbeitende Gewerbe als auch der PMI für den Dienstleistungssektor in den USA zum ersten Mal zusammen unter 50.

 

Auch der Arbeitsmarkt wird immer schwächer.  Zwar liegt die offizielle US-Arbeitslosenquote immer noch unter 4 % (3,9 %), aber die Zahl der Neueinstellungen durch US-Unternehmen nimmt ab, insbesondere bei kleinen Firmen, wie die Umfrage der National Federation of Independent Businesses zu Einstellungsabsichten zeigt. Und die NFIB-Umfrage scheint ein guter Frühindikator für das Beschäftigungswachstum zu sein.

Und die Arbeitnehmer zögern jetzt eher, den Arbeitsplatz zu wechseln, sofern sie keinen neuen bekommen.

In den letzten zwei Jahren waren die meisten neuen Arbeitsplätze Teilzeitstellen.

Während die Vollzeitbeschäftigung (die immer besser bezahlt wird und bessere Bedingungen bietet) stagniert hat.

Die hohen Zinssätze, die von der Fed und anderen Zentralbanken festgesetzt werden, haben keinen Einfluss auf die Inflation. 
Stattdessen erhöhen sie die Schuldendienstkosten insbesondere für kleine Unternehmen, während sich das Wachstum der Unternehmenseinnahmen ebenfalls verlangsamt.  Die Rentabilität wird also unter Druck gesetzt, mit Ausnahme der "Magnificent Seven"-Großunternehmen.

Die "überschüssigen Ersparnisse", die die Haushalte während der Pandemie angesammelt haben, scheinen aufgebraucht zu sein.

Die Zuversicht der amerikanischen Haushalte, Geld auszugeben, ist auf den niedrigsten Stand seit fast zwei Jahren gefallen, da die Amerikaner die künftige Wirtschaftslage immer pessimistischer einschätzen.

Bereits im November letzten Jahres kommentierte der ehemalige Chef der New Yorker Fed, William Dudley: "Muss die Arbeitslosenquote auf 4,25 bis 4,5 Prozent steigen, damit die Fed ihr Ziel, die Inflation wieder auf 2 Prozent zu senken, erreicht? Wenn ja, dann ist eine harte Landung sehr wahrscheinlich". Claudia Sahm, eine weitere ehemalige Fed-Volkswirtin, hält es für einen sehr starken Indikator für eine Rezession in der Produktion, wenn die Arbeitslosenquote drei Monate lang um etwa 0,5 Prozentpunkte über dem Tiefpunkt liegt.  Derzeit liegt dieser Sahm-Indikator um 0,36 Prozentpunkte über dem niedrigsten Wert der letzten 12 Monate.  Der Schwellenwert für eine Rezession ist also noch nicht erreicht, aber er nähert sich an.

Ein Großteil des jüngsten Wachstums der US-Wirtschaft wurde durch eine starke Zunahme der Einwanderung erreicht.  Die US-Wirtschaft wird jedoch nur dann nicht stagnieren, wenn sich das Produktivitätswachstum beschleunigt. Außerdem wird die Inflation nur durch einen Anstieg der Produktion pro Arbeitnehmer und Stunde, d. h. durch eine Steigerung der Wertschöpfung, niedrig gehalten.  Bislang ist das Produktivitätswachstum in den USA in den 2020er Jahren relativ moderat geblieben.

Die Hoffnung besteht darin, dass die KI eine "Produktivitätsrevolution" auslösen wird, die die US-Wirtschaft auf den Weg zu einem rasanten Wachstum in den 2020er Jahren bringt, bei dem das reale BIP schneller wächst als im langfristigen Durchschnitt und die Inflation niedrig bleibt.  Im Moment sieht es aber eher nach dem Gegenteil aus.

 

Anmerkung

(1) PMI - Purchasing Managers' Index)  ist ein Wirtschaftsindikator, der sich aus monatlichen Berichten und Erhebungen von privaten Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes zusammensetzt.

             

Erdüberlastung, Klimakatastrophe und das gute Leben für alle!

Fr, 03/05/2024 - 16:53

Save our Standort – fordert die IG Metall von den Unternehmern.
Aber: Nichts bleibt, wie es ist.
Ohne einen kritischen Blick auf unsere Produktions- und Lebensweise, ohne linke, alternative Industriepolitik sind progressive Veränderungen nicht möglich.

 

Am 2. Mai 2024, war „Erdüberlastungstag“, mit dem Tag hat Deutschland sein jährliches Budget an nachhaltig nutzbaren Ressourcen und ökologisch verkraftbaren CO2-Emissionen aufgebraucht. Ab heute leben wir auf Kosten der Menschen im Globalen Süden und auf Kosten unserer Kinder. Und das so früh wie noch nie!

Ein Tag, an dem wir uns daran erinnern, dass unser hoher Rohstoffverbrauch konkrete Auswirkungen auf Menschen überall auf der Welt, die Umwelt und die Verschärfung der Klimakrise hat. Darin steckt eine besondere Ungerechtigkeit: Denn gerade die Menschen im Globalen Süden verbrauchen viel weniger Rohstoffe, verursachen weniger Emissionen und leiden schon jetzt stärker an den Folgen der Klimakrise und den furchtbaren Bedingungen, unter denen Rohstoffe abgebaut werden.

Besonders beim Abbau von Rohstoffen wie Kupfer oder Gold, die am Ende in unseren elektronischen Geräten landen, sind Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen allgegenwärtig. Verunreinigtes Trinkwasser, abgeholzte Wälder, Vertreibung von Anwohner*innen für neue Minen und katastrophale Arbeitsbedingungen im Bergbau gehören für Menschen in den Abbauregionen zum täglichen Leben. Doch auch in der Produktion der Geräte und sogar bei deren Entsorgung als Elektroschrott werden Menschenrechte verletzt und die Umwelt verschmutzt.

Das sagt der Redakteur der IG Metall

Gestern, am Erdüberlastungstag, schrieb ein Redakteur des Newsletters der IG Metall:

„Eigentlich kennt es jeder: SOS ist DAS Notsignal seit mehr als 100 Jahren. Es wird gesendet, wenn es um Leben und Tod geht. SOS Kugellagerstadt – dieses Notsignal wurde am 18. April in Unterfranken ausgesendet: 5.000 Metallerinnen und Metaller waren in Schweinfurt auf der Straße.“

Weiter schreibt der Redakteur:
„Sie wollen retten, was zu retten ist: Ihre Stadt und ihre Region, die an guter Industriearbeit hängen. Save our Standort – vom Main bis hoch in die Rhön, von Schweinfurt bis nach Bad Neustadt an der Saale; die Zulieferindustrie erstreckt sich über die gesamte Region. Der Wohlstand hängt von ihr massiv ab.“ Er beschreibt dann ähnliche Aktionen der Beschäftigten bei Bosch und bei Thyssen-Krupp.
Das Zeitalter der Umstellung in der Industrie sei jetzt bei uns spürbar angekommen. Schließlich garniert er den SOS-Ruf mit einer kleinen biografischen Geschichte:

„Während ich mir in den Semesterferien hier meine Studienkosten erarbeitet habe, haben meine Fußball-Kumpels Häuser gebaut, Familien gegründet, sind mehrmals im Jahr in den Urlaub gefahren. Das machen die heute immer noch so und wünschen sich das gleiche für ihre Kinder.“ Die Menschen, die in Schweinfurt, Stuttgart, Duisburg, Zwickau und Saarlouis, die bei ZF, Kugelfischer, Bosch, Thyssen-Krupp, Volkswagen und Ford arbeiten, haben ein Recht auf soziale Sicherheit, haben ein Recht darauf, ohne Angst zu leben. Aber anlässlich von Erderschöpfungstag und Klimakatastrophe bedeutet das, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Angesichts der Profiterwartungen der großen Aktionäre bedeutet das, dass es nicht so weitergehen wird.
Appelle an die Unternehmen werden definitiv nicht helfen, „es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun, uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun“.

Im Newsletter weist der Redakteur jedoch auf eine gemeinsame Erklärung der IG Metall und des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall zum „Sozialpartnersymposium 2024“ hin und darauf, dass das SOS sich an die Unternehmen richtet und deren Willen zu bleiben. „Die Sozialpartner haben eine gemeinsame, auch gesamtgesellschaftliche Verantwortung“, heißt es in der Erklärung. „Abschließend bekräftigen die Sozialpartner der M+E-Industrie 75 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes und Wiedereinführung der Tarifautonomie ihre gesellschaftliche Verantwortung und ihren gemeinsamen Beitrag für den Erfolg der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft1.“ Keine Rede von der Spaltung unserer Gesellschaft in arm und reich, in Arbeiter*innen und Erwerbslose, in teils gut bezahlte Fachkräfte und mies entlohnte Verkäuferin, keine Rede vom Elend der Leiharbeiter*innen, der LKW-Fahrer aus Rumänien oder der Frauen aus Polen, Thailand oder Mexiko, die als Pflegerin für unser Wohlergehen sieben Tage die Woche schuftet.

Das SOS wird gesendet, wenn es um Leben und Tod geht. Aber es geht in Deutschland im Zusammenhang der Veränderungen in der industriellen Produktion nicht um Leben und Tod, sondern auch, wie der Redakteur schreibt, „mehrmals im Jahr in den Urlaub zu fahren“. Ein frommer und völlig unrealistischer Wunsch, dass alles bleiben soll, wie es gerade ist.

 

Das gute Leben für alle

Kein kritischer Blick auf das, was mit der Lebens- und Produktionsweise in unserem Land für ausgelagerte Kosten, für das Leben und Leid von Menschen im globalen Süden und für die Beschleunigung der Klimakatastrophe verbunden ist. Kein Gedanke an die unterschiedlichen, sich widersprechenden Interessen von abhängig Lohnarbeit leistenden Menschen einerseits und nur am Profit orientierten Unternehmen und Aktionären andererseits. Verschämt schreibt der Redakteur von „Umstellungen in der Industrie“. Tatsächlich geht es um Dekarbonisierung, um die Klimakatastrophe nicht weiter zu befeuern und das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen – wirklich ein gigantisches Vorhaben. Damit ist die industrielle Produktionsweise, wie wir sie bisher kennen, unmöglich geworden. Die Erdüberlastung zu beenden und den Klimakollaps zu vermeiden führt zwingend zu weniger Profit. Da ist es sinnlos, an die Unternehmen und die Sozialpartnerschaft zu appellieren – den großen Aktionären geht es im Kapitalismus systembedingt nur um maximale Profite. Erforderlich ist eine andere Produktion und eine andere Produktionsweise: nachhaltige, langlebige und bedarfsgerechte Güter und Dienstleistungen in einer mitbestimmt und demokratisch organisierten Wirtschaft.

Wenn ein solcher Umbau der Wirtschaft gelingt, wird das Kapital andere Anlagemöglichkeiten suchen und eventuell in autoritär regierten und noch nicht hoch entwickelten Ländern auch finden. Ein solcher Umbau der Industrie bedeutet keine Deindustrialisierung unseres Landes, sondern eben weniger und eine andere Produktion – Windkraftanlagen, Wärmepumpen, bezahlbare Wohnungen und Schienenfahrzeuge statt Büropaläste, Shoppingmalls, Kohlekraftwerke und Millionen Autos. Das bedeutet wohl auch, nicht mehrmals im Jahr Fernreisen machen zu können – aber es wäre der Beginn von gutem Leben für alle. Es wäre der Beginn von weniger Stress durch zu viel Arbeit oder durch zu geringe Löhne, es wäre der Beginn von mehr Zeit für die Familie, für die Gemeinschaft, für Natur und Kultur, für die Beteiligung und für die Demokratie. „Und wünschen sich das gleiche für ihre Kinder“ – schreibt der Redakteur. Wenn ein solcher Umbau allerdings nicht gelingt, dann nimmt die Klimakatastrophe ihren Lauf – und in der Konsequenz wird es auf der Erde, auch in Deutschland und auch für unsere Kinder, sehr ungemütlich.

Es liegt im wohlverstandenen Interesse der Arbeiterinnen und Arbeiter, ihrer Familien, eigentlich aller Menschen und künftiger Generationen, zu retten, was wirklich zu retten ist: Ein ungeteilt gutes Leben für alle – ob jung oder alt, Frau oder Mann, schwarz oder weiß, im Norden wie im Süden.

1https://www.igmetall.de/download/20240412_Gemeinsame_Erklaerung_von_Gesamtmetall_und_IG_Metall_Sozialpartner_Symposiums_2024.pdf

 

„Für den Kriegsfall optimal aufgestellt“

Do, 02/05/2024 - 10:36

Mit einer Strukturreform führt Verteidigungsminister Pistorius die 2014 begonnene Ausrichtung der Bundeswehr auf einen Krieg gegen Russland fort.

 

 

Militärische und zivile Elemente verschmelzen zunehmend. Die deutschen Streitkräfte richten ihre interne Organisationsstruktur auf einen Krieg gegen Russland aus. Von der Reorganisation, die Verteidigungsminister Boris Pistorius zu Monatsbeginn angekündigt hat, erhoffen sich die Militärs „Kriegstüchtigkeit, Führungsfähigkeit und Wehrpflichtfähigkeit“. Ziel der Reform ist es Pistorius zufolge, „die Bundeswehr so umzubauen“, dass sie für „den Kriegsfall optimal aufgestellt“ ist – inklusive „groß angelegtem“ Einsatz gegen eine Großmacht und „hoch intensivem Gefecht“.


Die Reform enthält drei wesentliche Neuerungen: Führungsfähigkeiten für In- und Ausland werden in einem zentralen Führungskommando gebündelt; knappe Fähigkeiten wie ABC-Abwehr, Sanitätsdienst oder Logistik werden in einem Unterstützungskommando zentralisiert; die Cyber- und Informationskräfte werden zur vierten Teilstreitkraft aufgewertet. Der Umbau soll „alle Bereiche“ der Truppe in den Blick nehmen und laut Pistorius „innerhalb der nächsten sechs Monate“ umgesetzt sein. Es gehe darum, „Aufwuchsfähigkeit, [...] Innovationsüberlegenheit und Kriegsversorgung“ sicherzustellen, heißt es; übergeordnete „Handlungsmaxime“ bleibt „Kriegstüchtigkeit“.

Kommando für die „Drehscheibe“

Um im Kriegsfall „schneller und effektiver“ handeln zu können, zentralisiert die Bundeswehr mit der angekündigten Reform der Organisationsstruktur zunächst ihre Kommandostrukturen. Ziel sei es, Führungsverantwortung zu bündeln, um „Entscheidungswege“ zu „beschleunig[en]“, teilt das Verteidigungsministerium mit.[1] Bislang gab es jeweils ein Kommando für den Einsatz im Inland bzw. im Ausland – das Territoriale Führungskommando und das Einsatzführungskommando. Beide werden jetzt zum Operativen Führungskommando zusammengefasst.[2] Das neue Kommando soll dann als „zentrale Ansprechstelle“ für „die Verbündeten und multinationalen Organisationen“ einerseits und nationale zivile und staatliche Stellen andererseits fungieren.[3] Das gilt als erforderlich, da die Bundesrepublik den Anspruch erhebt, logistische „Drehscheibe“ des transatlantischen Aufmarschs in Richtung russische Westgrenze zu sein. Auf den multinationalen Marschrouten überqueren Truppen regelmäßig Grenzen und wechseln damit vom Ausland ins deutsche Inland und umgekehrt. Gleichzeitig stützt sich die Bundeswehr insbesondere beim Ermöglichen der multinationalen Truppenverlegungen durch Deutschland auf die Zusammenarbeit mit zivilen Akteuren.[4]

Verschmelzen von Innen und Außen

Der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Carsten Breuer, erhofft sich von dem neuen Operativen Führungskommando zunächst einen Gesamtüberblick, der aus innerem und äußerem Lagebild „zusammenwächst“. Zugleich verschwimmen bisherige Abgrenzungen. So werden die Heimatschutzkräfte, die bisher dem Territorialen Führungskommando unterstellt und damit strukturell auf einen Einsatz im Inland beschränkt waren, dem Heer zugeordnet.[5] Die Heimatschutzkräfte bestehen im wesentlichen aus Reservisten. Das neue zentralisierte Kommando liegt genau an der Schnittstelle zwischen Innen und Außen einerseits und Zivilgesellschaft und Militär andererseits.

Aufwertung der Cyberkriegsführung

Bereits im neuen „Operationsplan Deutschland“ der Bundeswehr nimmt der Bereich Cyber- und Informationsraum eine zentrale Stelle ein. Die Bundeswehr gab in diesem Zusammenhang an, sich auf „Desinformationskampagnen“ und „Cyberangriffe“ vorzubereiten. Der „Gegner“ könne unter anderem versuchen, „Regierungsentscheidungen, die Meinung der Bevölkerung und vielleicht auch der Medien zu beeinflussen“.[6] Mit der Strukturreform werden die Cyber- und Informationskräfte der Bundeswehr neben Heer, Marine und Luftwaffe zur vierten Teilstreitkraft aufgewertet. Aufgestellt hatte die Bundeswehr ihr Führungskommando CIR (Cyber-und Informationsraum) bereits im Jahr 2017. Sein Aufgabenspektrum reicht von der Digitalisierung des Krieges, der „Analyse hybrider Bedrohungen“ wie etwa „Desinformationskampagnen“ und der „Sicherung von Führungsfähigkeit“ durch abhörsichere vernetzte Kommunikation auf dem Schlachtfeld bis hin zur elektronischen Kriegsführung.[7] In einem Beitrag zur Strukturreform spricht das BMVg auf seiner Internetseite von bereits stattfindenden „hybriden Angriffen Russlands auch gegen Deutschland“ – allerdings ohne nähere Informationen oder Belege.[8] In seiner Pressekonferenz zur Strukturreform betonte Pistorius, er habe AfD-Abgeordnete nicht zufällig, sondern mit „Bedacht“ als „fünfte Kolonne Moskaus“ bezeichnet.[9]

Maximale Auslastung

Drittes Reformelement ist das Aufstellen eines neuen sogenannten Unterstützungsbereiches, um der „besonderen Herausforderung der Verteilung knapper Schlüsselfähigkeiten Rechnung“ zu tragen. So seien laut Pistorius beispielsweise im Bereich Feldjäger und ABC-Abwehr Kapazitäten „nicht in dem Umfang vorhanden“, der nötig sei, um den Bedarf aller Teilstreitkräfte zu decken. Die im Unterstützungsbereich gebündelten „mangelnden Fähigkeiten“ kann das neue Operative Führungskommando zentral an die Teilstreitkräfte verteilen.[10] Das Unterstützungskommando soll zudem die „Truppe konsequent entlasten“, indem – soweit möglich – Soldaten „durch zivile Mitarbeitende ersetzt werden“.[11] Ziel sei eine Verwaltungsstruktur, die der Truppe „den Rücken freihält“.[12]

Musterungsprozesse vorbereiten

Die Umsetzung all der in den vergangenen Jahren beschlossenen Aufrüstungsprojekte strapaziert die Bundeswehr schon jetzt personell. Wie das Militär mitteilt, wird im Kriegsfall ein „größerer Teil“ der regulären Soldaten an der „Ostflanke“ der NATO kämpfen. Sie könnten deshalb zur Absicherung des deutschen Territoriums selbst „nicht eingeplant werden“.[13] Wenngleich die aktuelle Strukturreform an sich keine personelle Vergrößerung der Truppe vorsieht, erklärt sie doch „Aufwuchsfähigkeit“ zu einem „Leitprinzip“.[14] „Wir haben die Strukturen so organisiert […] dass wir die Aufwuchsfähigkeit – auf welchem Gleis auch immer – in den nächsten Monaten und Jahren organisieren können“, teilte Pistorius mit.[15] Der notwendige personelle Aufwuchs lasse sich „am Ende eben nicht alleine nur über die Frage ‘Wer kommt freiwillig zur Bundeswehr?‘, sondern eben auch über die Frage einer Wehr- und Dienstpflicht“ lösen.[16] Bei der Strukturreform sei „im Auge behalten und mitgedacht“ worden, „dass es zu einer Wiedereinsetzung der Wehrpflicht – in welcher Form auch immer – kommt“.[17] Das Verteidigungsministerium bestätigt, „Wehrerfassungs- und Musterungsprozesse“ würden „strukturell vorbereitet, um einen verpflichtenden Wehrdienst“ umsetzen zu können.[18] Laut Pistorius sei man dabei, „verschiedene Wehrpflichtmodelle“ abzuwägen – inklusive eventuell erforderlicher „Grundgesetzänderung“. Im „Kriegsfall“ gebe es „ohnehin“ eine „sofortige Wehrpflicht“.[19]

 

[1] Bundeswehr der Zeitenwende: Kriegstüchtig sein, um abschrecken zu können. bmvg.de 04.04.2024.

[2] Bundeswehr der Zeitenwende: Minister Pistorius stellt Strukturentscheidung vor. bmvg.de 04.04.2024.

[3] Bundeswehr der Zeitenwende: Kriegstüchtig sein, um abschrecken zu können. bmvg.de 04.04.2024.

[4] S. dazu Auf den Krieg einstellen (I)

[5] Pressekonferenz zur Strukturreform vom 04.04.2024, abrufbar über den Youtubekanal von ZDFheute Nachrichten.

[6] S. dazu Auf den Krieg einstellen (III)

[7] Pressekonferenz zur Strukturreform vom 04.04.2024, abrufbar über den Youtubekanal von ZDFheute Nachrichten.

[8] Was bedeutet die neue Struktur für die Bundeswehr: Fragen und Antworten. bmvg.de 04.04.2024.

[9], [10] Pressekonferenz zur Strukturreform vom 04.04.2024, abrufbar über den Youtubekanal von ZDFheute Nachrichten.

[11] Was bedeutet die neue Struktur für die Bundeswehr: Fragen und Antworten. bmvg.de 04.04.2024.

[12] Bundeswehr der Zeitenwende: Minister Pistorius stellt Strukturentscheidung vor. bmvg.de 04.04.2024.

[13] S. dazu Auf den Krieg einstellen (IV)

[14] Minister verkündet Entscheidung zur neuen Grobstruktur der Streitkräfte. bmvg.de 02.04.2024.

[15] Pressekonferenz zur Strukturreform vom 04.04.2024, abrufbar über den Youtubekanal von ZDFheute Nachrichten.

[16] Pistorius zur Zukunft der Bundeswehr. Was Nun? Youtubekanal von ZDFheute Nachrichten vom 08.04.2024.

[17] Pressekonferenz zur Strukturreform vom 04.04.2024, abrufbar über den Youtubekanal von ZDFheute Nachrichten.

[18] Was bedeutet die neue Struktur für die Bundeswehr: Fragen und Antworten. bmvg.de 04.04.2024.

[19] Pressekonferenz zur Strukturreform vom 04.04.2024, abrufbar über den Youtubekanal von ZDFheute Nachrichten.

 

 

Klima war gestern. Jetzt geht es um Kriegsfähigkeit

Do, 02/05/2024 - 10:12

Statt die Energie- und Verkehrswende voranzutreiben, macht die Deutsche Regierung genau das Gegenteil: Eine Abschwächung des Klimaschutzgesetzes. Überprüfbarkeit der Ziele, Planungssicherheit und klare politischer Verantwortung der Ministerien für ihren Sektor werden abgeschafft. 
Dafür wird Habeck "Rüstungsindustrieminister".

Das Klimaschutzgesetz war 2019 die Antwort der Großen Koalition auf die nicht mehr zu ignorierende Klimakatastrophe und die von Fridays for Future angeführten Klimastreiks. Es war die größte klimapolitische Errungenschaft der CDU-SPD-Regierung und wurde das zentrale Gesetz für mehr Klimaschutz in Deutschland. Nachdem das Bundesverfassungsgericht es 2021 für teilweise verfassungswidrig erklärte, wurde es sogar nochmal verschärft. 

Mitte März hat das Umweltbundesamt (UBA) seinen Bericht über die deutschen Treibhausgasemissionen vorgelegt. Die große Überraschung: die Klimaziele wurden in der Gesamtrechnung eingehalten. Insgesamt hat es in Deutschland einen Rückgang der Emissionen um rund zehn Prozent im vergangenen Jahr gegeben. Der Ausstoß ist von 750 auf 674 Millionen Tonnen Treibhausgase gesunken. Das ist einerseits durch krisenbedingte Produktionseinbrüche, den Rückgang der energieintensiven Industrie und die erneut milde Witterung zurück zu führen, andererseits durch Übererfüllungen unter anderem im Industriebereich möglich.

Verkehrssektor verfehlt zum dritten Mal in Folge seine Zielvorgabe

Nur ein Sektor verfehlte wieder einmal seine Vorgaben: der Verkehrssektor. Der Verkehrsbereich hat sein Klimaziel das dritte Jahr in Folge verfehlt. Im Jahr 2023 hat er sein Klimaziel um 13 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente gerissen. Seit 2021, dem Jahr des Amtsantritts Volker Wissings (FDP), sind die Emissionen in diesem Sektor sogar gestiegen.

Nach dem Wortlaut des bisherigen Klimaschutzgesetzes bestand die Notwendigkeit eines Sofortprogramms. Wissing drohte mit Fahrverboten an Wochenenden, um die CO2-Emmission zu reduzieren. Tempo 100 auf Autobahnen oder mehr Investitionen in die beschleunigte Sanierung und Ausbau von Bahn – vor allem für den Güterverkehr - und ÖPNV kamen ihm und seinen KabinettskollegInnen nicht in den Sinn.
Die erforderlichen Mittel werden ja benötigt, um Deutschland "kriegstüchtig" zu machen.
Es fährt zwar kein Zug mehr pünktlich, aber Hauptsache die Leopard-Panzer rollen in der Ukraine.

Klimaschutzgesetz entkernt

Jetzt wurde das von der SPD-CDU-Regierung 2019 eingeführte Klimaschutzgesetz tatsächlich entkernt.
Mit den Stimmen der Grünen. Am Freitag, 26. 4., stimmten die Ampel-Parteien den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Änderung zu, die Opposition stimmte dagegen. Die Ministerien werden dabei aus der Verantwortung genommen: Anstatt der verbindlichen, jährlichen sektorspezifischen Betrachtung, die ein strammes gesetzliches Korsett für effektiven Klimaschutz geschnürt hat, gibt es eine mehrjährige Gesamtbetrachtung, die Raum für politisches Fingerzeigen und Verantwortungsdiffusion lässt.

Ministerien wie das Verkehrsministerium sind nun nicht mehr verpflichtet, konkrete, wirksame und sehr kurzfristige Pläne zum Ausgleich von aus dem Rahmen fallenden CO2-Emissionen zu beschließen. Entscheidend ist, dass Klimaziele insgesamt erreicht werden.

SPD, Grüne und FDP sagen, dem Klima ist es egal, wo CO2-Emissionen eingespart werden, Hauptsache sie werden eingespart.

Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), sieht mit der Änderung die Gefahr, dass dadurch die "Hauptsache" und die Emissionsminderungsziele bis 2030 nicht erreicht werden.

"Wenn man die Sektorenziele nicht mehr hat, es auch keine direkten Verantwortlichkeiten der Ministerien mehr gibt und man damit Gefahr läuft, dass man die Emissionsminderungsziele bis 2030 eben nicht erreicht", sagt Kempfert und setzt hinzu. "Weil eben jetzt so ein Automatismus da nicht mehr hinterher ist und man auch kein Sofortprogramm mehr hat, wo die Ministerien eigentlich nachsteuern müssten."

Dazu kommt noch ein Zeitaspekt bei dem Gesetz: Erst wenn in zwei aufeinanderfolgenden Jahren sich abzeichnet, dass die Bundesregierung nicht auf Kurs ist, dann muss sie insgesamt nachsteuern. Mit der Folge, dass eine Bundesregierung erst nach zwei Amtsjahren überprüft, ob sie klimapolitisch auf Kurs ist, kann aber nicht mehr so viel korrigieren. Und dann ist die Legislaturperiode auch schon zu Ende. "Am Ende landet man genau da, wo ich befürchte, dass wir die Klimaziele nicht erreichen können", sagt Kempfert.

Auch der Umweltanwalt Remo Klinger bestreitet die von der Ampel-Koalition behauptete Wirksamkeit: "Wenn die Reform endgültig verabschiedet wird, ist die Regierung gezwungen, wirksame Maßnahmen zur Emissionsreduktion 'nur' bis 2030 umzusetzen". Politisch eine "Zauberformel": Sie ermöglicht es der amtierenden Regierung, kostspielige Klimaschutzmaßnahmen auf die nächste Regierung abzuwälzen.

In einer gemeinsamen Pressekonferenz prangerten Greenpeace, Umweltaktion Deutschland, Germanwatch, Fridays for Future und der Solarenergie-Förderverein an, dass die Änderungen der Regierung Scholz nicht nur gegen einen Meilenstein des Klimaschutzes, wie das historische Urteil des Karlsruher Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2021, sondern auch gegen die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verstoßen.

"Die Reduzierung der Emissionsverpflichtungen und viele andere Teile der Reform verzögern schnelles und wirksames Handeln im Klimaschutz und verletzen das Prinzip der Generationengerechtigkeit." Genau aus diesem Grund sind die NGO bereit, "geeignete rechtliche Schritte" einzuleiten, nachdem sie wochenlang vergeblich an die Abgeordneten appelliert haben, "nach ihrem Gewissen" abzustimmen.

Auch von Seiten der CDU gibt es Protest. Der CDU-Energiepolitiker Andreas Jung sprach von einer Entkernung des Klimaschutzgesetzes und einem Rückschritt für den Klimaschutz. Die Ampel stelle sich einen Freibrief aus. Mit der Aufweichung der verbindlichen Sektorziele werde dem Gesetz sein Herzstück entrissen, so Andreas Jung, der insbesondere die Grünen kritisierte: "Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass Sie als Grüne der Entkernung, der Aufweichung dieses Gesetzes zustimmen. Und noch mehr hätte mir die Phantasie gefehlt, dass Sie es hier auch noch schönreden. Da sind Sie auf dem falschen Trichter."

Der CDU-Abgeordnete Thomas Heilmann hatte das Bundesverfassungsgericht angerufen, um eine Abstimmung zu verhindern. Das Gericht wies seinen Eilantrag allerdings ab.

Die Regierung hingegen jubelt, vor allem weil es den Parteiführungen von SPD, FDP und Grünen nach monatelanger Verzögerung gelungen ist, das Gesetz im Parlament durchzudrücken. Dies ist der erste Schritt, um die früheren Verpflichtungen zu lockern, die in Zeiten von Krieg und Rezession nicht mehr als so streng angesehen werden.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck: Bin jetzt auch "Rüstungsindustrieminister"

Für die Ampel-Regierung ist das Klima ein Thema von gestern, Aufrüstung und Vorbereitung auf den Landkrieg ist angesagt. Nach dem gescheiterten Versuch, Weltmarktführer bei Wind und Sonne zu werden, soll es jetzt die Rüstungsindustrie richten. Und das kostet Geld und verschlingt Ressourcen. Alle 'anderen gesellschaftlichen Bereiche' sollen dafür zur Disposition stehen. Ein Vorteil für Habeck und Pistorius: Der militärische CO2-Ausstoß wird nicht erfasst und taucht in den Klimabilanzen nicht auf. 

Robert Habeck (Grüne) fordert einen deutlichen Ausbau der Waffenproduktion in Deutschland. "Wir müssen auch die Wehrindustrie in Deutschland höher skalieren", sagte Habeck am 22. April im Deutschlandfunk. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sei jetzt auch, "Rüstungsindustrieminister" zu sein.

Siehe hierzu auch
 

EU-Gipfel: Die Russen kommen. Auf Kriegswirtschaft umstellen und den Landkrieg vorbereiten

Der Wirtschaftsminister hatte Ende März schon Vertreter von Rüstungsunternehmen in sein Ministerium eingeladen, um über den Ausbau ihrer Kapazitäten zu sprechen. Die Gespräche sollen demnächst im Verteidigungsministerium fortgeführt werden. Deutschland hat über viele Jahre das Ziel verfehlt, wonach NATO-Staaten mindestens 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) für Verteidigung ausgeben sollen. Dies soll in diesem Jahr erstmals wieder anders sein, wie kürzlich aus der Regierung verlautete.
In den folgenden Jahren sollen die Rüstungsausgaben dann sogar über der 2-Prozent-Marke liegen, fordert Verteidigungsminister Pistorius (SPD).

Der Rüstungsindustrie werden Abnahmegarantien gegeben. Für die Rüstungsunternehmen lohnen sich aber erhöhte Investitionen in Forschung, Entwicklung und Fertigung nicht nur durch eine höhere Abnahme der Bundeswehr. Sie sind auf Kriege und Exportmärkte angewiesen. Ausdrücklich anerkannt wird deshalb in der Branche, dass Habecks Staatssekretär Sven Giegold schon im vergangenen September die Verwaltungs- und Genehmigungsprozesse bei Rüstungsexporten erleichtert hat.
Die Aktie von Rheinmetall hat sich in den vergangenen sechs Monaten im Wert mehr als verdoppelt.

 

In Kriegszeiten braucht es vor allem einen humanitären Journalismus. In der Berichterstattung über militärische Konflikte müssen alle Opfer gezeigt werden.

Mo, 29/04/2024 - 18:01

Jeder Krieg ist auch ein Krieg der Informationen. Das sehen wir täglich in den Nachrichten. Ob Israel und Gaza oder Russland und die Ukraine; wir werden mit Schlagzeilen und Bildern von Blut, Tod und Zerstörung bombardiert.

Oft gibt es klare Täter-Opfer-Zuschreibungen. Gleichzeitig fallen andere Kriege aus den Medien.
Beispiel Sudan: Seit einem Jahr herrscht im nordostafrikanischen Land Krieg. Über sieben Millionen Menschen sind auf der Flucht; die Vereinten Nationen sprechen von einer der größten Flüchtlingskrisen weltweit.
In den deutschen Medien erscheint diese Krise kaum. Warum?

Laut dem Nahost-Korrespondenten Tilo Spanhel ist der Krieg im Sudan „vom Kopf her sehr weit weg“, die Lage komplex und ohne klare Frontlinie. Anders als im Gazakrieg gebe es auch keine „spektakulären Bilder“, sagte er dem Deutschlandfunk. Das heißt, im Nachrichten-Stakkato der Kriegsberichterstattung kann der Sudan nicht punkten.
Denn medial lebt ein Krieg von Bildern und Polarisierung, Komplexität und Hintergründe helfen kaum.

Allerdings fehlt dem Krieg im Sudan ein weiterer wichtiger Medien-Faktor: Lobbygruppen. Das sind beispielsweise Krieg führende Regierungen, die für Unterstützung werben und entsprechend Informationen streuen. Diese Propaganda-Strategie ist weder neu noch ein Privileg bestimmter Parteien.

Universitätsprofessor Kai Hafez unterstreicht diesen Punkt unter anderem im Medienpodcast „quoted“. In Bezug auf die Israel/Palästina-Berichterstattung stellte der Nahost-Experte klar, zu Kriegszeiten verbreiten alle Gruppen Informationen.
Die Frage ist, welche schaffen es in unsere Medien, welche nicht und warum?
I
m Fall Israel/Palästina sind es fast ausschließlich die Informationen der israelischen Regierung. Intern sprechen JournalistInnen etablierter deutscher Medien über Redaktionstreffen mit der israelischen Botschaft. Auch deshalb sehen wir medial, laut Hafez, eine starke Emotionalisierung mit einem grundsätzlich starken „proisraelischen Bias“. Diese Verzerrungen, wie auch die Zuspitzung von Israelkritik zu Antisemitismus-Vorwürfen, sind nicht neu.
Seit Jahrzehnten gibt es diese Muster, teils berechtigt. Zu Kriegszeiten treten sie besonders hervor.
Eine Folge sind Informationslücken – auch die sehen wir im Fall Israel/Palästina.


In einem Interview mit der Leipziger Zeitung meinte Hafez kürzlich

Es werde beispielsweise „kaum beachtet, dass in der israelischen Regierung rechtsextreme Koalitionäre sitzen, die in rassistischer Weise anti-arabisch und anti-muslimisch sind“.
Gleichzeitig werden Bilder palästinensischer Opfer kaum gezeigt. Auch deshalb seien palästinensische Positionen in Deutschland medial „komplett unterentwickelt“. Diese Art der kritischen Analyse über die Folgen „kritikloser Solidarität“, wie Hafez es nennt, ist selten. Denn auch Wissenschaftler:innen fürchten um Ruf, Job und Karriere.

Mittlerweile hinterfragen aber auch Journalisten die Israel/Palästina-Berichterstattung, denn kein Krieg ist schwarz-weiß.
Laut Hafez braucht es vor allem einen humanitären Journalismus. Der müsse alle Opfer zeigen, egal welcher Seite. Das heißt, die israelischen Opfer des 7. Oktober und die palästinensischen Opfer seither. Vielleicht schaffen es so auch die Menschen des Sudan in die deutschen Medien.
Denn Opfer sind Opfer, mit oder ohne Lobbygruppe.

 

Erstveröffentlichung   berliner-zeitung. 29.4.2024

 

 

 

Warum die westlichen Sanktionen im Chipkrieg gegen China scheitern. Zwischenbilanz im US-Chipkrieg gegen China

Fr, 26/04/2024 - 16:04

Seit einigen Jahren hat der US-Wirtschaftskrieg gegen China, in dessen Zentrum die Halbleiter stehen, Fahrt aufgenommen. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die USA spätestens nach den US-Präsidentschaftswahlen – egal, wer gewinnt - nochmals „eine Schippe drauflegen“. Zeit also für eine Zwischenbilanz.

 

Vor knapp fünf Jahren begann der damalige US-Präsident Donald Trump den Wirtschaftskrieg gegen China. Damals konzentrierten die USA ihren Hauptangriff im Wirtschaftskrieg zunächst auf den in der Kommunikationstechnik weltweit führenden chinesischen Konzern Huawei. Mit weitem Abstand vor Nokia und Ericsson, den verbliebenen europäischen Anbietern von Kommunikationstechnologie, dominiert der chinesische Konzern den Weltmarkt und ist technologisch führend z.B. bei 5G- und 6G-Mobilfunksystemen. Die Trump-Regierung entschied, dass US-Halbleiterkonzerne wie Qualcomm ab sofort ihre Mobilfunk-Chips nicht mehr an Huawei liefern durften. Auch das Smartphone-Betriebssystem Android von Google war für Huawei künftig tabu. Alle Produkte des chinesischen Konzerns - von Tablets und Smartphones bis zu Mobilfunk-Basisstationen - wurden vom US-Markt und von den Märkten besonders williger US-Verbündeter ausgesperrt.[1]

Bis heute muss eine imaginierte Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA und ihrer westlichen Verbündeten als Begründung für den damals begonnenen Chipkrieg

herhalten. Niemals wurden irgendwelche Beweise für Spionage oder auch nur für die technischen Möglichkeiten von Spionage durch den chinesischen Staat vorgelegt. Auch intensive Überprüfungen durch den britischen Geheimdienst und durch das BSI, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, konnten in der Huawei-Hardware und Software keine Hintertüren für die KPC identifizieren. Aber längst sind auch andere chinesische Produkte im Fokus der nur in der Einbildung des Westens existierenden, aber von der politischen Propaganda fabrizierten und von den westlichen Leitmedien kräftig verstärkten Bedrohungsszenarien. Dazu gehören Hafenkräne, Gepäckscanner für Flughäfen und jetzt auch Elektroautos. Mit den chinesischen Hafenkränen hat sich inzwischen sogar der US-Kongress befasst. Weil die Digitalisierung der realen Welt und des Produktkosmos rasant voranschreitet und weil sehr viele unserer Alltagsprodukte aus China kommen, wird sich die politisch fabrizierte Anti-China-Hysterie auf weitere Produkte ausdehnen.

 

Warum Chiptechnologien?

Natürlich ist die nationale Sicherheit der USA nicht direkt von China bedroht. Im Kern geht es um die wirtschaftliche, politische und militärische Vormachtstellung der USA. Die Absicherung der weiteren US-Vormachtstellung entscheidet sich vor allem bei den Zukunftstechnologien. Hier wiederum spielen die Halbleiter eine entscheidende Rolle mit Auswirkungen auf alle Wirtschaftszweige. Die nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst für die Bedürfnisse der US-Militärs entwickelten Halbleiter sind heute als Winzig-Computer und Steuereinheiten in nahezu allen industriellen Produkten zu finden. Die Chiptechnologie ist eine Basistechnologie der kapitalistischen Industriegesellschaften geworden. Gleichzeitig ist die Chiptechnologie aber äußerst kapitalintensiv. Nur wenige große Volkswirtschaften sind in der Lage, die nötigen Investitionen dafür zu tätigen. Aber bis vor wenigen Jahren konnte jede/r die Produkte dieser Spitzentechnologie in der globalisierten Weltwirtschaft unter US-Dominanz käuflich erwerben.[2] Das ist jetzt in Zeiten der geopolitischen Konfrontation vorbei.

Speziell die neuesten Logik-Chips mit ultrafeinen Leiterbahnen mit einer Breite von 5 oder sogar nur 2nm sind sehr gefragt für Anwendungen der Künstlichen Intelligenz und für die vielen tausend Server, die in den Serverfarmen und Cloud-Rechenzentren auf der ganzen Welt ihre Dienste tun.
Es geht um Rechenoperationen, die mit den neuesten Generationen von Chips schnell durchgeführt werden, während Rechner mit älteren Chips dafür Wochen oder Monate brauchten. Natürlich können die neuesten Logik-Chips auch für militärische Projekte und Operationen eingesetzt werden ebenso wie für medizinische Projekte oder für die Entwicklung neuer Wirkstoffe in der Pharmaindustrie. Zur Erläuterung: Logik-Chips rechnen, Memory-Chips speichern Daten. Außerdem gibt es eine Vielzahl Chips für spezielle Anwendungen wie Sensoren, analoge Halbleiter etc.

 

Pateiübergreifende Allianz im US-Chipkrieg gegen China

Anders, als zunächst vermutet, kassierte US-Präsident Biden nicht die von der vorherigen Trump-Administration verhängten Zölle gegen China. Biden verschärfte sogar den Chipkrieg. Denn die Biden-Administration generalisierte und systematisierte die zunächst nur auf den Huawei-Konzern fokussierten Sanktionen. Heute dürfen schnelle Chips mit Leiterbahnen von unter 12 nm ohne ausdrückliche Erlaubnis der US-Behörden überhaupt nicht mehr nach China geliefert werden. Gleiches gilt für die  EUV-Belichtungsmaschinen, die für einen einzigen Chip Milliarden Transistoren auf die Wafer aufbringen, und für die Software zur Entwicklung und Produktion von Halbleitern mit ultrafeinen Leiterbahnen. Drei US-Hersteller, darunter eine Siemens-Tochter, dominieren den Markt für den Chipdesign.

Nach den erratischen US-Alleingängen unter Trump setzte die Biden-Administration im Chipkrieg zudem auf die Einbeziehung der US-Partner. Denn die Chipindustrie - oder besser: der Prozess vom Design eines Chips über die eigentliche Fertigung und das Testen und die Verpackung - ist hoch globalisiert: Die Chipentwicklung ist vor allem in den USA und in Taiwan und Südkorea konzentriert, die Fertigung von Halbleitern dagegen in Ostasien und zunehmend in China. Europa hat eine starke Position in der Entwicklung und Fertigung von Halbleitern für die Automobilindustrie, bei Sensoren und bei Leistungshalbleitern, die für die Energiewende unerlässlich sind. Aus Europa kommen zudem wichtige Materialien für die Chipfertigung und die modernsten und teuersten Maschinen für den komplexen Prozess der Chipfertigung.[3]

Mit massivem Druck hat die Biden-Administration die US-Verbündeten in Ostasien und Europa inzwischen dazu gebracht, China nicht mehr mit High End-Chips und mit den dafür benötigten Fertigungsanlagen zu beliefern. Weil diese Ausdehnung der US-Sanktionen absehbar war, orderten chinesische Kunden aus der Chipindustrie beim niederländischen Maschinenbauer ASML 2023 so viele Anlagen, dass der halbe Jahresumsatz auf China entfiel. Jetzt versuchen die USA nach Medienberichten, ihre Verbündeten dazu zu bringen, auch keine Ingenieure und Techniker für die Wartung der älteren Anlagen mehr nach China zu schicken.[4]

 

Die Wirkung der Sanktionen: China holt auf!

Nach fast fünf Jahren US-Sanktionen im Chipkrieg gegen China lässt sich feststellen: Die Sanktionen haben den Preis für China, sich mit Chips zu versorgen, hochgetrieben. Das Angebot ist verknappt, die Preise steigen. Gleichzeitig hat der US-Chipkrieg aber dazu geführt, dass sich Chinas Anstrengungen vervielfacht haben, sich mit Chips aller Kategorien selbst zu versorgen und besonders bei der Entwicklung und Produktion von Chips mit ultrafeinen Leiterbahnen aufzuholen. Hier lag China bislang weit zurück hinter Taiwan, Südkorea und den USA.

Jetzt boomen die Chipindustrie und die Zulieferindustrien in China. Absehbar ist, dass sich der Abstand im Produktions- und Entwicklungs-Know-how zwischen China und den Weltmarktführern weiter verringern wird. Als Ergebnis wird China innerhalb der nächsten 10 Jahre auch in der Halbleitertechnologie mit an der Weltspitze stehen. Der US-Autor Chris Miller rechnet für 2030 mit einem technologischen Gleichstand zwischen den USA und China.

Ein Beispiel ist Huawei. Der Konzern hat es inzwischen geschafft, auf Basis einer schon in die Jahre gekommenen Produktionstechnologie (die modernsten EUV-Maschinen mit Lasern von Trumpf und Optik von Zeiss darf der niederländische ASML-Konzern nicht nach China liefern) den neuen, selbst entwickelten Kirin 90-Mobilfunkchip in großen Stückzahlen vom Staatskonzern SMIC produzieren zu lassen. Damit kann Huawei wieder auf dem Markt für Smartphones etc. mitmischen - auch ohne in den USA designte Chips und ohne das Android-Betriebssystem. Nach den Trump-Sanktionen hatte Huawei 2020 vor einer existenziellen Krise gestanden: Das Geschäft mit Smartphones, Tablets etc, das damals die Hälfte des Weltumsatzes ausmachte, war wegen des Fehlens von Chips eingebrochen und zunächst fast auf Null gefallen.

 

Ultraschnelle Chips: nicht entscheidend im Chipkrieg

 Außerdem mussten die Anti-China-Strategen in Washington feststellen, dass der einseitige Fokus der US-Sanktionen auf High End-Chips etwa für KI und für militärische Anwendungen kontraproduktiv ist. Denn zur Zeit und wahrscheinlich auch in Zukunft entfallen ca. 90% des gesamten Weltmarktes für Halbleiter auf Produkte mit höheren Strukturgrößen und für besondere Anwendungen im Maschinenbau oder in der Autoindustrie, in Solaranlagen etc. In diesem Bereich hat China seinen Weltmarktanteil in den letzten Jahren aber noch ausgebaut. Das bedeutet, dass die Welt aber noch abhängiger geworden ist von chinesischer Technologie.

Zudem hat sich herausgestellt, dass etwa für KI-Anwendungen oder Cloud-Computing nicht immer der ultraschnelle neueste Chip des Weltmarktführers Nvidia gebraucht wird, der unter die US-Sanktionen fällt. Viele zusammengeschaltete, langsamere Chips tun das auch, wie chinesische Experten demonstriert haben. Außerdem nutzen chinesische IT-Konzerne und Chip-Entwickler für ihre Aufgaben die weltweit verfügbare superschnelle Rechenleistung, die Cloud-Anbieter wie Amazon oder Microsoft zur Verfügung stellen.

 

Chinas Stärken im Chipkrieg: Skalenfaktor und viele, gut ausgebildete Arbeitskräfte

China kann im Chipkrieg zudem Faktoren ausspielen, die US-Strategen wohl nicht zur Gänze in ihrem Kalkül hatten:  China hat  selbst Heerscharen von gut ausgebildeten Arbeitskräften, speziell in den sogenannten MINT-Fächern. Die westliche Erzählung, dass das chinesische System Innovation und Kreativität behindert und damit technologische Durchbrüche erschwert, ist schon länger fragwürdig. Zudem kann China auf Fachleute aus Taiwan, Südkorea und Japan zurückgreifen, die aktuell von den guten Gehältern in Chinas Chipbranche angelockt werden. Hinzu kommt das aktuelle Gewicht der Chipbranche in Chinas Wirtschaftspolitik, was inzwischen jeder ambitionierte Bürgermeister im Land verstanden hat. Die Wirtschaftspolitik und damit die massive Förderung konzentrieren sich mehr denn je auf die Zukunftsbranchen und die Chipindustrie. Es ist also der Skalenfaktor, der dafür sorgt, dass Chinas Gewicht in der Chipbranche weiter steigt.
Für China ist das zudem eine Frage der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und der nationalen Sicherheit.
Damit hätten die US-Sanktionen wohl das Gegenteil erreicht von dem, was sie eigentlich bezweckten.

Zudem bereitet der riesige und immer größer werdende chinesische Markt den US-Chipkonzernen große Sorgen: Sie wollen weiter Geschäfte machen, müssen sich aber mit den Sanktionen aus Washington arrangieren, die immer massiver werden.

 

Taiwan als Hotspot der Chipindustrie und die Taiwan-Frage

 Die Insel Taiwan, vor der Küste der chinesischen Provinz Fujian gelegen und von der Volksrepublik und ebenso von einem relevanten Teil der Bevölkerung und der Eliten Taiwans als ein Teil Chinas betrachtet, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Weltzentrum und zum technologischen Vorreiter der Chipindustrie entwickelt. Das Cluster der Chipindustrie von Chipdesign und -fertigung in Taiwan ist weltweit bislang einmalig. Der taiwanesische Konzern TSMC z.B. dominiert die hochkomplexe Fertigung von ultrafeinen Logik-Chips, noch vor Samsung und dem Intel-Konzern, der technologisch in den letzten Jahren abgehängt war. Die Kunden der taiwanesischen Chipindustrie und vor allem der Auftragsfertiger sitzen auf der ganzen Welt, vor allem aber in der Volksrepublik China, wohin zuletzt 40% der Chipexporte gingen – vor allem in Chinas boomende Elektronikindustrie.

Aufgrund dieser engen wirtschaftlichen und technologischen Verflechtungen zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland – und natürlich auch aus vielen anderen Gründen – ist ein militärischer Schlag Chinas gegen Taiwan unwahrscheinlich. In der öffentlichen Meinung Taiwans gilt die Chipindustrie deshalb als das wichtigste Faustpfand zur Bewahrung des Status Quo.

Daran ändern die – zum Großteil steuerfinanzierten – Milliardenprojekte z.B. von TSMC für neue Fertigungen in den USA oder in Deutschland (Dresden) nichts. Es findet keine Verschiebung der Chip-Lieferketten weg von Taiwan statt. Im Gegenteil: TSMC investiert nach Berichten derzeit in Taiwan etwa das Vierfache der Investitionssumme in den USA. Auch künftig werden in Taiwan, nicht in den USA die modernsten Chipfertigungen stehen. Der TSMC-Gründer und frühere Aufsichtsratschef Morris Chang hat deshalb den Chip Act der Biden-Regierung einmal als „exercise in futility“ bezeichnet.     

 

Quellen:

[1] Eine ausführliche Darstellung des US-Chipkriegs gegen Huawei findet sich in meiner Analyse: „Europa muss in der Chipindustrie aufholen – aber wie?“, Online-Publikation der Rosa Luxemburg Stiftung, April 2023. Abrufbar unter: https://www.rosalux.de/publikation/id/50322/europa-muss-in-der-chipindustrie-aufholen-aber-wie

[2] Der amerikanische Autor Chris Miller beschreibt in seinem lesenswerten Buch „Der Chip Krieg. Wie die USA und China um die technologische Vorherrschaft in der Welt kämpfen“ die Entwicklung der Halbleiterindustrie bis zum Konflikt USA - China

[3]

[4] Das berichtet die Financial Times, 26.4.2024

Europa auf dem Weg nach rechts (II)

Fr, 26/04/2024 - 07:53

Eine internationale Konferenz in Ungarn versammelt Politiker konservativer mit extrem rechten Parteien und stützt Bestrebungen im Europaparlament, den antifaschistischen cordon sanitaire endgültig zu durchbrechen.




Eine internationale Konferenz in Ungarn treibt aktuell die Zusammenarbeit konservativer mit extrem rechten Parteien in der EU voran. Die CPAC Hungary, die am gestrigen Donnerstag in Budapest von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán eröffnet wurde und am heutigen Freitag zu Ende geht, versammelt Politiker sowohl von Parteien, die gemeinsam mit CDU und CSU in der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) organisiert sind, als auch solche, die wie der belgische Vlaams Belang oder auch der französische Rassemblement National der extremen Rechten zugeordnet werden. Dies geschieht, während im Europaparlament Bestrebungen erkennbar werden, den cordon sanitaire zwischen der EVP und der extremen Rechten, der in der EU ohnehin längst bröckelt, endgültig niederzureißen und einen breiten Rechtsblock zu schmieden. Am Mittwoch haben die EVP und die zwei Rechtsaußenfraktionen ECR und ID einen Antrag im Europaparlament gemeinsam abgeschmettert – möglicherweise ein Testlauf für weitere gemeinsame Aktivitäten. Die CPAC Hungary ist ein Ableger der Trump-nahen CPAC in den USA; an ihr nehmen nicht zuletzt US-Republikaner sowie Rechtsaußen aus Lateinamerika und Israel teil.

Die CPAC

Die Conservative Political Action Conference (CPAC) wird seit 1974 regelmäßig abgehalten, um rechte Kräfte innerhalb der US-Republikaner zu vernetzen und für rechte Wahlkandidaten zu werben. Seit den 2000er Jahren hat sie sich von einer Eliten- zu einer Massenveranstaltung entwickelt, an der regelmäßig viele Tausend rechte Aktivisten teilnehmen. Im Jahr 2011 trat erstmals Donald Trump auf der CPAC auf, behauptete, die Vereinigten Staaten würden im großen Stil von fremden Ländern ausgeplündert, und kündigte darüber hinaus an, falls er sich in Zukunft entscheiden sollte, Präsident zu werden, werde „unser Land wieder großartig sein“.[1] Mit Beginn seiner Präsidentschaft im Jahr 2017 ist die CPAC dann vollständig auf seine Linie eingeschwenkt; neben Trump treten regelmäßig ultrarechte Hardliner wie Trumps früherer Chefstratege Steve Bannon oder die Abgeordnete im Repräsentantenhaus Marjorie Taylor Greene auf ihr auf. Ebenso regelmäßig berichten US-Journalisten, dass sie auf der CPAC die Präsenz rassistischer Befürworter einer angeblichen „Überlegenheit der Weißen“ und von Anhängern antisemitischer Verschwörungstheorien hätten dokumentieren können. In diesem Jahr wurde auf der CPAC laut einem Bericht des US-Senders NBC aufgerufen, der Demokratie ein Ende zu setzen und eine streng christliche Regierung zu installieren.[2]

Globale CPAC-Ableger

Im ersten Amtsjahr von US-Präsident Donald Trump haben die Organisatoren der CPAC begonnen, Ableger im Ausland zu gründen, insbesondere auch auf anderen Kontinenten. Im Dezember 2017 etwa wurde erstmals die CPAC Japan abgehalten. Sie versammelt ebenfalls Personen und Organisationen der äußersten Rechten, bezieht allerdings auch Rechte aus anderen Ländern ein, insbesondere aus den USA, aber etwa auch aus Taiwan. Sie ist ebenso klar antichinesisch geprägt wie die CPAC South Korea, die 2019 zum ersten Mal stattfand. 2019 kamen erstmals die CPAC Australia sowie die CPAC Brazil zusammen, letztere im ersten Amtsjahr des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro, dessen Mitarbeiter und Anhänger die Veranstaltung seitdem regelmäßig zur Vernetzung mit der trumpistischen US-Rechten nutzen. 2022 wurden zudem eine CPAC Mexico und eine CPAC Israel umgesetzt [3], daneben eine CPAC Hungary, diese als bisher einziger Ableger der US-Organisation in Europa. Die CPAC Hungary wurde 2023 wiederholt; Ministerpräsident Viktor Orbán begrüßte auf ihr neben konservativen Politikern aus Europa und US-Republikanern auch Politiker der extremen Rechten wie die Parteivorsitzenden der FPÖ, Herbert Kickl, und des französischen Rassemblement National, Jordan Bardella.

Die CPAC Hungary

Dies ist auch auf der dritten CPAC Hungary der Fall, die am gestrigen Donnerstag in Budapest begonnen hat und dort am heutigen Freitag zu Ende geht. Orbán bezeichnete in seiner Eröffnungsrede vor rund 800 Gästen Ungarn als „Labor“, in dem man sich „gegen die Ideologie der woken Linken“ in Stellung bringe.[4] Als weitere Redner angekündigt waren unter anderem Polens einstiger Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, Sloweniens früherer Ministerpräsident Janez Janša und Australiens Ex-Premierminister Tony Abbott. Auftritte hatten oder haben die Vorsitzenden mehrerer Parteien der extremen Rechten – Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid, Niederlande), Tom van Grieken (Vlaams Belang, Belgien), Santiago Abascal (Vox, Spanien) und André Ventura (Chega, Portugal) sowie ein Europaabgeordneter der FPÖ, Harald Vilimsky. Zum Thema „Grenzschutz“ gab es am gestrigen Donnerstag Beiträge des vormaligen deutschen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen und von Fabrice Leggeri, von 2015 bis 2022 Leiter der EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex, seit Jahresbeginn für den Rassemblement National (RN) aus Frankreich aktiv. Neben US-Republikanern sind in Budapest auch Vertreter der extremen Rechten Lateinamerikas (Eduardo Bolsonaro, José Antonio Kast) sowie zwei israelische Likud-Minister (Amichai Chikli, Gila Gamliel) präsent.[5]

Dialog mit der extremen Rechten

Die CPAC Hungary ist unter anderem deshalb von Bedeutung, weil sie dazu beiträgt, den cordon sanitaire einzureißen, der in Europa jahrzehntelang die Zusammenarbeit konservativer Parteien mit Parteien der extremen Rechten tabuisierte. Er ist ohnehin nur noch punktuell vorhanden: In diversen EU-Mitgliedstaaten sind Parteien der extremen Rechten bereits an der Regierung beteiligt bzw. beteiligt gewesen (Österreich, Finnland), stellen sogar die Ministerpräsidentin (Italien mit Giorgia Meloni/Fratelli d’Italia) oder haben die Regierung zumindest per Duldung unterstützt (Dänemark, Schweden). Seit geraumer Zeit sind derartige Bestrebungen auch im Europaparlament zu beobachten. So führt die konservative EVP schon seit Jahren einen „Dialog“ mit der ECR (European Conservatives and Reformists), der neben Polens ehemaliger Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) auch als extrem rechts eingestufte Parteien wie Die Finnen sowie die französische Partei Reconquête des rechts von Marine Le Pens RN stehenden Journalisten Éric Zemmour angehören. ECR-Mitglied sind zudem die Fratelli d’Italia der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, mit der EU-Kommissonspräsidentin Ursula von der Leyen vor allem in der Flüchtlingsabwehr äußerst eng kooperiert (german-foreign-policy.com berichtete [6]).

Ein breiter Rechtsblock

Vor dem Hintergrund offenkundiger Annäherungsbestrebungen zwischen Konservativen und Teilen der extremen Rechten hat eine Abstimmung im Europaparlament vom Mittwoch dieser Woche für Aufmerksamkeit gesorgt: Ein Antrag, der Maßnahmen gegen die Belästigung von Mitarbeitern durch Abgeordnete durchsetzen sollte, wurde durch ein gemeinsames Votum von EVP, ECR und der ultrarechten ID-Fraktion (Identity and Democracy) zu Fall gebracht.[7] Damit ist ein breiter Rechtsblock zutage getreten, wie er – freilich informell – auch auf der CPAC Hungary zu beobachten ist; dort sind neben Politikern aus EVP- und aus ECR-Parteien auch Vertreter von ID-Parteien – Vlaams Belang, FPÖ, Lega, Rassemblement National – präsent. Darüber hinaus arbeitet laut Berichten Melonis Partei Fratelli d’Italia daran, das in Italien praktizierte Regierungsmodell – dort regieren die Fratelli d’Italia (ECR) mit der Forza Italia (EVP) und der Lega (ID) – auf die EU-Ebene zu übertragen.[8]

 

Quellen:

[1] Eliza Relman: In his first CPAC speech, Trump previewed the themes that would take him all the way to the White House. businessinsider.com 24.02.2017.

[2] Ben Goggin: Nazis mingle openly at CPAC, spreading antisemitic conspiracy theories and finding allies. nbcnews.com 24.02.2024.

[3] Zack Beauchamp: CPAC goes to Israel. vox.com 23.07.2022.

[4] CPAC in Ungarn: Orbán beschwört den Geist der europäischen Völker. jungefreiheit.de 25.04.2024.

[5] CPAC Hungary 2024 Program. cpachungary.com.

[6] S. dazu https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5220-europa-auf-dem-weg-nach-rechts

[7] Eleonora Vasques: Right-wing bloc votes against bid to make anti-harassment training mandatory in Parliament. euractiv.com 25.04.2024.

[8] Max Griera: Morawiecki, Orbán plot reshuffle in EU Parliament with Le Pen. euractiv.com 23.04.2024.

 

Stationen der Waldgeschichte Naturferner Wald – Naturbeherrschung – Ausbeutung der Ware Arbeitskraft - naturgemäßer Dauerwald

Do, 25/04/2024 - 15:19

Gewalt ist konstituierender Bestandteil der Menschheitsgeschichte über alle Gesellschaftsformationen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse hinweg und in all ihren Formen gegen seinesgleichen und die Natur.
[*]

 

Wachsender Holzeinschlag und Holzverbrauch im Frühkapitalismus (Merkantilismus) für die Gewinnung und Verhüttung von Eisenerz im sächsischen Bergbaurevier führte durch den Niedergang der Wälder zur Entwicklung des Nachhaltigkeitsgedankens (Hans Carl von Carlowitz). Es sollte fortan nur so viel Holz verbraucht werden, als nachwächst. Das war die Geburtsstunde des Begriffs der „Nachhaltigkeit“ und entsprechenden Wirtschaftens im Forstbereich mit neuen Formen des Umgangs mit der Natur.

Denken und Handeln von Herrscherhäusern, Adel und des entscheidenden Teils der Forstleute in Verwaltung und Wissenschaft war bestimmt von dem mechanistischen Leitbild der Naturbeherrschung in Wissenschaft und Technik. In technischen und natur-wissenschaftlichen Berufen herrscht weltweit bis heute ein Weltbild vor, nach dem die Natur dem Menschen untertan zu sein hat. Die Komplexität der Abläufe in der belebten und unbelebten Natur wird nur zu häufig – um ein Bild zu gebrauchen - mehr oder weniger als ein schlichtes mechanisches System miteinander kommunizierender Röhren begriffen, wo sich schon alles mit Grenzwerten, technischen Lösungen und wachsendem Erkenntnisfortschritt regeln lässt. Die Wurzeln für dieses mechanistische Weltbild wurden bereits im Mittelalter mit Kopernikus, Kepler und Galilei gelegt und speisten sich aus ihrer Entdeckung, dass sich die Erde um die Sonne dreht.

Grundlage für die Realisierung der Naturbeherrschung im Wald waren Nadelholz-Reinbestände. Damit entstanden naturferne Altersklassenforste, deren Bestände in voneinander getrennten Altersstufen bis heute angebaut werden. Nadelholz hat technologische Eigenschaften, die es unverzichtbar machten für Bergbau, Hausbau, Schiffsbau etc. Bis heute noch ist Nadelholz bis auf weiteres unverzichtbar, braucht dafür aber keinen naturfernen Nadelholzanbau, sondern einen naturnah angelegten Waldbau.

Mit dem Übergang vom Merkantilismus zum Industriekapitalismus nahm der Staatswerdungsprozess Preußens Gestalt an. Mit den Stein-Hardenbergschen Reformen wurde in den Jahren 1807–1815 die Grundlage für den Wandel Preußens vom absolutistischen Stände- und Agrarstaat zum National- und Industriestaat gelegt, der 1866 im Westen eine bedeutende Erweiterung nahm und 1871 zum Deutschen Reich führte.

Mit dem Aufstieg des Industriekapitalismus und seiner Entfaltung wurden immer größere Holzmengen gebraucht. Damit wuchs der Umfang naturferner Altersklassenforste und mit ihnen entstand eine große, mit Herrschaft, Macht- und fiskalischen Interessen des Staates verbundene Forstverwaltung und Forstwissenschaft.

Im Zuge des Staatswerdungsprozesses von Preußen gewann das „Landeskulturedikt“ von 1811 besondere Bedeutung für die Wälder des Landes, dessen Grundlagen von Albrecht Thaer (Begründer der „rationellen Landwirtschaft“) entwickelt wurden. Die Trennung von Staats- und Privatwald wurde eingeleitet. Forstgesetzliche Regelungen für die zumeist adligen Privatwaldbesitzer beschränkten sich erst später auf allgemeine Rahmensetzungen.

Im Staatswald wurde analog der rationellen Landwirtschaft konsequent der Ausbau naturferner Altersklassenforste betrieben und das Kahlschlagprinzip für die Holzernte eingeführt. Es entstand der „Holzackerbau“. Da in den Privatwäldern anfangs keine Festlegungen für die Bewirtschaftung getroffen wurden, kam es vielerorts zu ungeregeltem Holzeinschlag im Wald. Allerdings folgten die Privatwaldbesitzer zum Erhalt ihrer Einkommen bald der staatlichen Waldbaupraxis.

Mit der Umwandlung der Wälder in naturferne Nadelholz-Reinbestände wuchsen die Probleme durch Schädlingskalamitäten, Windbruch, Schneebruch etc. mit strecken- und gebietsweise sehr großen Schäden. In der Praxis tätige Forstleute und einzelne Wissenschaftler wiesen spätestens ab 1850 daraufhin. Der Münchener Waldbauprofessor Karl Gayer plädierte bereits 1880 für einen gemischten Wald mit ausreichend Laubholz und gegen einförmige Reinbestände. In Sachsen erhoben sich vor dem I. Weltkrieg Stimmen gegen die weit verbreitete Kahlschlag- und Nadelholz-Reinbestandswirtschaft.

Alfred Möllers revolutionäre Dauerwaldidee löste in den Jahren 1920 bis 1922 im Forstbereich eine noch bis heute beispiellose Debatte pro und kontra naturferne Forsten aus. Es offenbarte den Gegensatz zwischen beharrenden und reformorientierten Forstleuten. Die Dauerwaldidee ist Waldwirtschaft mit der Natur, nicht gegen sie, umschließt ungleichaltrige Wälder, ist Waldbau mit standortheimischen Baumarten, bedeutet einzelstammbezogene Holzernte und keinen Kahlschlag. Die Befürworter des naturfernen Altersklassenforstes setzten sich zwar durch, aber die Diskussionen zum Dauerwald und für eine naturgemäße Waldwirtschaft verstummten ebenso nicht wie praktische Ansätze zur Umsetzung. Eine kleine Schar von Befürwortern des Dauerwaldes arbeitete weiter in der Praxis anhand dieses Konzepts. Sie konnten auf Erfolge einzelner Privatwaldbesitzer verweisen, die bereits vor oder in der Zeit der Erarbeitung der Dauerwaldidee und danach (so Waldgut Sauen) in diesem Sinne praktisch tätig geworden waren. Besonders umstritten beim pro und kontra Dauerwald war das Revier Bärenthoren im Fläming, dessen ertragskundliche Ergebnisse konnten damals nichts schlüssig beweisen, später vergleichend wiederholt auch nichts schlüssig widerlegen.

Im Nationalsozialismus wurde die Dauerwaldidee ideologisch und propagandistisch missbraucht. Die Waldarbeit in diesem Sinne war nur begrenzt erfolgreich, auch weil sie fundamental den Zielen der Kriegsvorbereitung (hoher Holzeinschlag im Rahmen der NS-Autarkiepolitik zur Rohstoffbeschaffung) und der Jagdpolitik Görings widersprach. Sie wurde bereits 1937 beendet zugunsten naturferner Waldbewirtschaftung mit Dauerwald nur in der Verpackung. Mit neuer Begriffsdefinition wurde Möllers Grundanliegen völlig verwässert. Dauerwaldvertreter konnten aber die begonnene Arbeit in einer Reihe von Versuchsrevieren in den sächsischen Staatsforsten fortsetzen. Vier von ihnen wurden im Jahre 1943 ihrer Ämter enthoben, weil sie sich nicht den Jagdinteressen des NS-Gauleiters beugen wollten. Willy Wobst wurde des Landes Sachsen verwiesen und Hermann Krutzsch musste bis zum Kriegsende in der Rüstungsindustrie arbeiten.

Nach dem II. Weltkrieg wurde in ganz Deutschland die Linie der Naturbeherrschung in der Forstwirtschaft weiterverfolgt. Allerdings gelang es in Ostdeutschland dem Dauerwaldvertreter Krutzsch, insbes. unterstützt von Blanckmeister und Heger - zwischen 1951 und 1961 den Weg einer „vorratspfleglichen Waldwirtschaft“ auf politischer Ebene durchzusetzen. Dieser Weg wurde dann wieder zugunsten naturferner Altersklassenbewirtschaftung verlassen. Der Waldbau wurde über Jahre sogar industriemäßig intensiviert betrieben. Die damit einhergehenden Probleme wurden bis zum Beginn der achtziger Jahre immer sichtbarer. Kurskorrekturen begannen.
In Westdeutschland setzte sich von Beginn an die naturferne Altersklassenforstwirtschaft durch.

Nach dem Ende der Teilung Deutschlands ist gemeinsam der Weg der naturfernen Altersklassenforste weiter beschritten worden. Bereits seit den achtziger Jahren sind deren Probleme angesichts Schadstoffeinträgen, Sturmwürfen, Schädlingskalamitäten, zunehmender Hitze und Trockenheit etc. unübersehbar geworden. Sie drohen die Produktionsgrundlage Wald zu untergraben. Deshalb ist damit begonnen worden, einen naturnäheren Umbau der Wälder in Angriff zu nehmen, die Reinbaumbestände mit Laubbäumen beispielsweise anzureichern. Allerdings geschieht im Verhältnis zur Größenordnung der Probleme viel zu wenig und damit werden sie auch nicht hinreichend gelöst. Ein konsequenter Neubeginn auf Grundlage der Dauerwaldidee wird nicht in Erwägung gezogen. Es wird aber durchaus gesehen, dass der kleine Kreis der Dauerwaldvertreter mit ihrer Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft (ANW) in der Praxis die Probleme besser meistert. Ungefähr 200 Betriebe wirtschaften auf Grundlage des Dauerwaldkonzepts. Es sind zumeist Privatwaldbetriebe, viele davon mit adligem Hintergrund.

Von einst bis heute geht mit der Naturbeherrschung die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft einher. Elende Löhne und harte Arbeits- und Lebensbedingungen waren das Los der Holzfäller und Waldarbeiter. Egal, ob sie in Staats- oder Privatwäldern arbeiteten. Erst im Zuge der erstarkenden Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung konnten gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwas bessere Löhne und Versicherungsschutz errungen werden.
 

Nach dem II. Weltkrieg gingen Ost- und Westdeutschland getrennte Wege. In der DDR entstand eine staatlich gelenkte Planwirtschaft, in der der Staat in die Rolle des Produzenten trat und die Produktionsbedingungen diktierte und regelte. Sie war ineffektiv und scheiterte letztlich, besaß aber weitreichende soziale und materielle Absicherungen für die arbeitende Bevölkerung. In der BRD wurde der kapitalistische Entwicklungsweg fortgesetzt und wohlfahrtsstaatlich ausgebaut, nicht zuletzt auch Ausdruck der Systemkonkurrenz. Nach dem Ende der Teilung und dem Abriss des Sozialstaates ist die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft auch für die im Wald Arbeitenden wieder in verschärften Formen zurückgekehrt.

Das mechanistische Weltbild ist durch ein neues Weltbild abzulösen. Es geht weniger um Naturbeherrschung als vielmehr darum, ein partnerschaftliches Zusammenspiel von Selbsttätigkeit der Natur und menschlicher Nutzung zu ermöglichen. So sollte künftig beispielsweise Fehlerfreundlichkeit als evolutionäres Prinzip den Maßstab für Forschung, Entwicklung und Einsatz von Technologien, technischen Verfahren und Stoffen bilden.

Der Kapitalismus ist durch eine demokratische und sozialistische Gesellschaftsordnung abzulösen. Ohne sie wird der Neubau einer regional orientierten, solidarischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht gelingen, die Arbeit, Soziales und Natur zusammenführt und die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft aufhebt.

Die bisher rein ökonomisch geprägten Beziehungen zwischen Mensch und Natur müssen durch eine umfassend reproduktive Orientierung abgelöst werden, in der Erhalt und Verbesserung des Naturhaushalts und der Naturressourcen sowie der menschlichen Gesundheit und Arbeitskraft die gleiche Bedeutung wie der Ökonomie zukommt. Die naturgemäße Waldwirtschaft mit Mischwald anhand des Dauerwaldkonzepts von Alfred Möller bildet eine wesentliche Grundlage auf diesem Weg.


                                                                                                               

Literatur:  

(*) Bimboes, Tjaden, 1992; Scheidler, 2018
 

  1. Bimboes, Detlef; Tjaden, Karl Hermann: Stoff- und Energieflüsse und ihre Bedeutung für die Gesellschaftswissenschaften, in: Industrialismus und Große Industrie, Hrsg. Lars Lambrecht und Karl Hermann Tjaden (Dialektik; 1992,2), Meiner Verlag, Hamburg 1992;

  2. Scheidler, Fabian: Das Ende der Megamaschine – Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Promedia Verlag, 10. Auflage, Wien 2018;

  3. Thomasius, Harald: Geschichte, Theorie und Praxis des Dauerwaldes, Veröffentlichung des Vortrags aus dem Jahre 1996 durch den Landesforstverein Sachsen-Anhalt e. V.

  4. Bode, Wilhelm (Hrsg.): Alfred Möllers Dauerwaldidee, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.


    Zum Autor: Dr. Detlef Bimboes ist Diplombiologe, Mitglied der NaturFreunde Berlin


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