SIKO Gegenaktionen München

ISW München

Subscribe to ISW München Feed
isw - sozial-ökologische Wirtschafsforschung e.V.
Aktualisiert: vor 43 Minuten 59 Sekunden

Ökonomie der Zeit – Eine linke Kontroverse um Arbeitszeitverkürzung

Di, 13/08/2024 - 17:26

Arbeitszeitverkürzung ist im Kommen – immer mehr Unternehmen bieten die Vier-Tage-Woche an.
John Maynard Keynes prognostizierte für das Jahr 2030 die 15-Stunden-Woche, sie ist eine langjährige Forderung der Frauenbewegung.
Die 25-Stunden-Woche steht als Forderung im SPD-Programm und in vielen Ländern wird erfolgreich der 6-Stunden-Tag erprobt.
Es ist höchste Zeit für den nächsten Schritt, für die 28-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, für kurze Vollzeit für alle, für Arbeitszeiten, die zum sich verändernden Leben passen!



Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.

Die IG Metall setzt schon länger die Vier-Tage-Woche wieder auf die Tagesordnung1 und Wissenschaftler wie Heinz-J. Bontrup von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memo-Gruppe) begründen die Überfälligkeit kollektiver Arbeitszeitverkürzung2.
Im VSA-Verlag ist im Frühjahr 2024 ein Buch zur neuen Aktualität von Arbeitszeitverkürzung3 mit Beiträgen von Margareta Steinrücke, Beate Zimpelmann, Philipp Frey, Sophie C. Jänicke, Steffen Liebig, Lia Becker, Andreas Ypsilanti, Nina Treu und anderen erschienen.
 In den Texten wird herausgearbeitet, warum Arbeitszeitverkürzung aktueller ist denn je.


Ohne Arbeitszeitverkürzung werden sich die drängenden Probleme der Menschen heute nicht lösen lassen, sei es die sozial gerechte Bewältigung der Klimakrise, die geschlechtergerechte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben oder die Angst vor Arbeitsplatzverlust und Abstieg, der die Menschen in die Arme der Rechten oder einfach in die Politikverdrossenheit führt.



Sophie Jänicke, Ressortleiterin im Funktionsbereich Traifpolitik beim Vorstand der IG Metall schreibt darin u.a.: „Dass die IG Metall eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit fordert, ist Ausdruck einer arbeitszeitpolitischen Entwicklung, die die Organisation, ebenso wie andere Gewerkschaften, in den letzten Jahren vorangetrieben hat. … Die IG Metall hat in der Tarifbewegung 2023 für die deutsche Stahlindustrie den Vorstoß gemacht, die Vier-Tage-Woche auch in der Industrie umzusetzen. Denn die Vier-Tage-Woche als Chiffre für eine verkürzte Arbeitszeit, die mehr Work-Life-Balance verspricht, ist ein gutes Modell für die Arbeit der Zukunft in einer digitalisierten, klimaneutralen Industrie. … Die gesellschaftliche Resonanz, die die Vier-Tage-Woche und damit einhergehend die aktuelle Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in der Stahl-Industrie findet, zeigt, dass Beschäftigungssicherung nicht das einzig gute Argument für kürzere Arbeitszeiten ist.“

In vielen Branchen haben Arbeiterinnen und Arbeiter in diversen Befragungen den Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit zum Ausdruck gebracht. Mehr als 80 Prozent der Vollzeitbeschäftigten befürworten die Vier-Tage-Woche. Allerdings haben viele Angst vor Lohneinbußen. Darum ist klar: Arbeitszeitverkürzung nur bei vollem Lohnausgleich!

Wir sind viel zu bescheiden!

Im Programm der Partei Die Linke heißt es u.a.: „Die Linke steht für die Umverteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung, für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit und einen existenzsichernden, gesetzlichen Mindestlohn. Durch die Reform des Arbeitszeitgesetzes soll die höchstzulässige durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzt werden. Perspektivisch streben wir eine Obergrenze von 35 Stunden, längerfristig von 30 Stunden an. Wir wollen, dass dabei für die Beschäftigten ein voller Lohnausgleich gesichert wird. Die Mitbestimmungsrechte von Personal- und Betriebsräten sind vor allem im Hinblick auf Personal- und Stellenpläne zu erweitern. So ist zu erreichen, dass die Verkürzung der Wochenarbeitszeit zu mehr Beschäftigung führt und der Leistungsdruck abgebaut wird.“4 „Die Verkürzung der Arbeitszeit“, so Bernd Riexinger vor wenigen Jahren als Parteivorsitzender, „auf vier Tage oder 30 Stunden pro Woche trifft den Nerv der Zeit. Aus gutem Grund: Mit Arbeitszeitverkürzung können wir Arbeitsplätze retten, für mehr Lebensqualität sorgen, aber auch Menschen in unfreiwilliger Teilzeit ermöglichen, endlich wieder mehr zu arbeiten. Im Gegensatz zu den bisherigen Flexibilisierungen der Arbeitszeit, die immer zu Lasten der Beschäftigten gingen, ermöglicht die Verkürzung der Arbeitszeit eine Flexibilisierung, die den Beschäftigten nützt und sie sogar ein Stück weit vor Entlassungen schützt.“5 Bereits 2017 haben Lia Becker und Bernd Riexinger, weil das alte Normal erodiert, Vorschläge für ein neues Normalarbeitsverhältnis vorgelegt.6 Diese Vorschläge beruhen auf den fünf Säulen guter Lohn, Planbarkeit, Humanisierung, kurze Vollzeit und Demokratie, sie werden von den beiden Autor*innen als „Schicksalsfrage der Gewerkschaftsbewegung“ bezeichnet. Das scheint sich jetzt in der De-Industrialisierung und im Mitgliederschwund der Industriegewerkschaften zu bestätigen.

Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat jüngst „Bausteine für Klimagerechtigkeit“ publiziert, darin der Baustein „Für die Vier-Tage-Woche und ein gutes Leben für alle“ mit Theorie, u.a. Frigga Haugs 4-in-1-Modell, und vielen praktischen Beispielen.7
Das Institut Solidarische Moderne (ISM) bereitet ein Papier zur Arbeitszeitverkürzung vor mit dem Ziel, unterschiedliche Akteure im Bereich Arbeitszeitverkürzung zu einem möglichst breit geteilten Verständnis von solidarischer und emanzipativer Arbeitszeitverkürzung zu artikulieren. Zum anderen soll das Papier als Aufhänger dienen, um den öffentlichen Diskurs aus progressiver Perspektive mit zu beeinflussen. Darin auch das Netzwerk Care-Revolution mit einer Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit auf die bezahlte und unbezahlte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Ich will auf Andrè Gorz hinweisen, der im Zusammenhang mit einer Ökonomie der Gemeinschaftlichkeit auf folgendes hinweist: „Das Maß des Reichtums ist hier ebenso wenig der Tauschwert wie die Arbeitszeit.“8 Schließlich will ich den Vortrag von Ingrid Kurz-Scherf benennen, den sie anlässlich der Veranstaltung der attac AG ArbeitFairTeilen und der RLS zum 100. Jahrestag des 8-Stunden-Tages am 27. Oktober 2018 in Erfurt hielt: „Und es hat wenig Sinn, sich darüber hinwegzutäuschen, dass sich der Glanz des Achtstundentags aktuell nicht übersetzt in eine Euphorie in Bezug auf den Sechsstundentag. Ich bin da gar nicht festgelegt, wir können auch über eine 28-Stunden-Woche reden. Ich habe sogar gelesen, die Zeit sei reif für eine 15-Stunden-Woche. Vielleicht sind wir immer noch viel zu bescheiden.“9


Die Kontroverse

Eigentlich verwundert es, dass ausgerechnet Vertreter der sich selbst als gewerkschaftlich orientierte Strömung bezeichnenden Sozialistischen Linken (SL), die „an linkssozialistische, links-sozialdemokratische und reformkommunistische Traditionen“ behauptet anzuknüpfen, schon länger und jetzt wieder gegen kollektive Arbeitszeitverkürzung argumentiert. Einer ihrer Protagonisten schrieb (im Zusammenhang mit einer Argumentation zur Ablehnung des bedingungslosen Grundeinkommens bzw. eines Antrages zur Ablehnung des Mitgliederentscheides zum Grundeinkommen): „Arbeitszeitverkürzung ist dann sinnvoll, wenn Kapazitäten voll ausgelastet sind und Arbeitslosigkeit vorliegt, die durch andere Auslastung der Kapazitäten abgebaut werden kann. Dem ist aber heute nicht so, wir haben Fachkräftemangel in vielen Bereichen, ergo sind die die Kapazitäten gegenüber dem gesellschaftlichen Bedarf unter-ausgelastet und eine Arbeitszeitverkürzung die falsche Lösung. Deswegen ist auch die in unserer Partei leider ebenfalls ohne all zu viel Nachdenken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung blanker Unfug.“ Die Sozialistische Linke sagt selbst von sich: „Wichtige Grundlagen unserer Positionen bilden marxistische Gesellschaftsanalyse und Strategiediskussion sowie links-keynesianische Positionen alternativer Wirtschaftspolitik.“


Ganz kurz Marx dazu

„Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab.
Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.
Ebenso muß die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen; wie der einzelne seine Zeit richtig einteilen muß, um sich Kenntnisse in angemeßnen Proportionen zu erwerben oder um den verschiednen Anforderungen an seine Tätigkeit Genüge zu leisten. Ökonomie der Zeit sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Produktion bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion.“10

Dem Protagonisten von der SL ist zugestanden, dass es ein kurzer Einwurf in einer Debatte um die Position zum bGE war. Dennoch können bestimmte Aussagen so nicht stehen bleiben und sind schlicht unhaltbar. „Wir haben Fachkräftemangel in vielen Bereichen“ kann mensch nicht behaupten, wenn gleichzeitig zu wenig ausgebildet wird, wenn gleichzeitig gesellschaftlich unnützes oder gar schädliches produziert wird (ich verzichte hier auf Beispiele), wenn gleichzeitig die industrielle Produktivität signifikant steigt. Partieller Fachkräftemangel ist nicht zu belegen, wenn es drei Millionen Erwerbslose gibt, wenn viele Menschen unfreiwillig in Minijobs schuften und drei Millionen junge Menschen keinen Berufsabschluss haben. Der logische Schluss aus einer falschen Annahme muss natürlich falsch sein: Weil wegen des unterstellten Fachkräftemangels die Kapazitäten unausgelastet seien, sei Arbeitszeitverkürzung „die falsche Lösung … und die in der Linken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung ohne all zu viel Nachdenken blanker Unfug.“

Es ist also der Blickwinkel, der die aufgeworfene Frage unterschiedlich beantworten lässt: Erwerbsarbeit als ökonomische Größe im Kapitalismus ohne alle anderen Implikationen und Dimensionen einerseits – oder Arbeit im umfassenden, die Gesellschaft und den Menschen formenden Sinne11 unter Berücksichtigung von Arbeitsteilung und Geschlechtergerechtigkeit. Wenn menschliche Arbeit und der Zeitaufwand dafür nur ökonomische Kategorien wären, hätte der Genosse der SL auch nur zum Teil Recht wegen der oben genannten Widersprüche bezüglich „Fachkräftemangel“.
Aber Mensch, Arbeit und Zeit sind eben auch gesellschaftliche, politische, gesundheitliche, soziale Kategorien.
Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung ist Kampf um Emanzipation, um Gesundheit, Recht auf Leben, Teilhabe und Demokratie.
Nach einem linken, marxistisches Verständnis der politischen Ökonomie ergibt sich das Primat der Gesellschaft und der Politik über die Ökonomie. Um diesen Kampf kann kein Bogen gemacht werden.
Wenn die Arbeiter*innenklasse den Kampf um Verkürzung der Arbeitszeit nicht führt, dann gewinnen die ökonomisch und politisch Herrschenden den Kampf um die Verlängerungen der Arbeitszeit. Deshalb hat der Genosse der SL nicht einmal zum Teil Recht mit der Behauptung, Arbeitszeitverkürzung sei „die falsche Lösung“.


Ein aktuelles Beispiel:
Die Kapazitäten in der Industrie, namentlich in der Autoindustrie, sind katastrophal unterausgelastet. Die Aufträge brechen weg, Autos werden auf Halde produziert, Zehntausende von Jobs werden gestrichen, ganze Fabriken werden geschlossen – bei Continental, Bosch, Opel, Ford und jetzt auch bei Volkswagen und Audi.
Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, aber auch bei den Managern auf Werksebene macht sich Panik breit, ist Verzweiflung angesagt, liegen die Nerven blitzeblank. Da kommen zwei Vorschläge aus Regierung und der Industrie:

  1. Rheinmetall bekommt Rüstungsaufträge in Milliardenhöhe und übernimmt Personal und leerstehende Fabriken.
  2. Das Aus vom Verbrenner-Aus wird propagiert von CDU/CSU, AfD, BSW und jetzt auch von der FDP. Damit wird die reaktionäre Hoffnung geschürt, es könnte alles so bleiben, wie es war. Dadurch werden Milliarden an Investitionen verbrannt und die umgebauten Fabriken sind samt der dort beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter dem Untergang geweiht.

Zur Sozial-ökologischen Transformation gehören beide Komponenten: einerseits die soziale, materielle Absicherung von Wohnung, Bildung, Gesundheit, Teilhabe (Demokratie), Mobilität und guter Arbeit der Menschen auch durch Arbeitszeitverkürzung und andererseits die Nachhaltigkeit, die Dekarbonisierung von Produktion und Produkten – einschließlich des Verzichts auf unnütze und schädliche Produkte wie überdimensionierte Autos, teure Werbung und Rüstungsproduktion.

Bertolt Brecht
Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt.
Und lässt andere kämpfen für seine Sache
Der muss sich vorsehen: denn
Wer den Kampf nicht geteilt hat
Der wird teilen die Niederlage.
Nicht einmal den Kampf vermeidet
Wer den Kampf vermeiden will: denn
Es wird kämpfen für die Sache des Feinds
Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.

1Richard Detje und Otto König; SOZIALISMUS 9/2020, Seite 47

2Ebd. Seite 51

3https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/weniger-arbeiten-mehr-leben/

4https://www.die-linke.de/partei/programm/

5https://www.die-linke.de/start/detail/die-4-tage-woche-konkret-machen/

6https://www.sozialismus.de/fileadmin/users/sozialismus/pdf/Supplements/Sozialismus_Supplement_2017_09_Riexinger_Becker_NAV.pdf

7https://www.oekom.de/buch/bausteine-fuer-klimagerechtigkeit-9783987260735

8https://rotpunktverlag.ch/buecher/auswege-aus-dem-kapitalismus

9https://stephankrull.info/2019/01/11/vielleicht-sind-wir-immer-noch-viel-zu-bescheiden/

10Karl Marx; Grundrisse, Das Kapitel vom Geld, MEW Bd. 42, S. 105

11Fridrich Engels; Der Anteil der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen; MEW Bd. 20, Seite 444

 

Arbeitsschutz in der Defensive: Job-Crafting statt Zeiterfassung

Sa, 10/08/2024 - 07:43

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr  2022 ist eindeutig:
Unternehmen sind in der Pflicht, die Arbeitszeit der Beschäftigten zu dokumentieren.
Das ignoriert jedoch ein großer Teil der Unternehmen.




Die Umfrage von SD Worx unter 18.000 Beschäftigten und unter 5.118 Unternehmensvertretern in 18 europäischen Ländern ergibt, dass in Deutschland nur bei 41 Prozent der Beschäftigten Zeiterfassung erfolgt.

Die Hälfte der deutschen Befragten gibt in der Studie an, regelmäßig Überstunden zu machen.
Das ist deutlich mehr als der europäische Durchschnitt mit 40 Prozent. (1) Das Bundesarbeitsgericht sieht die Erfassung der Zeiten als wichtiges Instrument des Arbeitsschutzes.

Fehltage wegen psychischer Belastungen

Deshalb überraschen Meldungen über hohe Krankentage kaum: „Die Zahl der Fehltage wegen psychischer Krankheiten ist im ersten Halbjahr 2024 stark gestiegen“, meldet das Ärzteblatt. Im Vergleich zum Vorjahr gab es 14,3 Prozent mehr Arbeitsausfälle durch Depressionen oder Anpassungsstörungen (2). „Der weitere Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen ist besorgniserregend“, sagte DAK-Vorstandschef Andreas Storm. Er forderte Unternehmen dazu auf, sich verstärkt mit der psychischen Gesundheit ihrer Belegschaft zu beschäftigen (3).

 Job-Crafting als neues Modell

Um die Motivation zu erhöhen, wird zunehmend auf das Konzept des „Job Crafting“ verwiesen.
Der Begriff stammt aus dem Englischen und bedeutet sinngemäß „Arbeit gestalten“.
Beschäftigte sollen unternehmerisch denken und in die Lage versetzt werden, das Arbeitsumfeld und „die Abläufe im Job aktiv neu und für sie selbst möglichst optimal zu gestalten“, betont die Personalberatung Personio. „Job Crafting soll Mitarbeitenden weniger Frust und mehr Freude vermitteln“ (4).

Die ersten Methoden entwickelten die US-amerikanischen Organisationspsychologinnen Amy Wrzesniewski und Jane Dutton von der Yale University. Am Anfang steht dabei die Analyse der Aufgaben, der sozialen Beziehungen im Unternehmen und der eigenen Einstellung zum Job.

Job Crafting ist ein Konzept der positiven Organisationspsychologie. Bedeutsam ist „Cognitive Crafting“, das sich auf die Veränderung der Wahrnehmung der eigenen Arbeit bezieht.
„Individuellen Stärken und Vorstellungen stehen die Ziele auf Team- und Unternehmensebene gegenüber. Aufgabe des Unternehmens, der Führungskräfte oder der Präventionsberatung ist es, eine Balance zwischen diesen beiden Polen zu finden“, beschreibt iga, die „Initiative Gesundheit und Arbeit“ der gesetzlichen Unfallversicherung. (5).
Auch die Ludwig-Maximilians-Universität München berichtet von Job Crafting und beschreibt, wie Beschäftigten geholfen wird, „ihre Arbeit zu lieben“ (6).
Job Crafting sollte „unbedingt als methodischer Lösungsansatz“ genutzt werden, empfehlen die Berater von Personion. Dies fördere die Gesundheit, nach dem Motto: Mehr Freude an der Arbeit bedeutet bessere Gesundheit. Ein Vorgesetzter gab im Betrieb das Motto aus: „Man muss seine Arbeit aus dem Holz schnitzen, das man zur Verfügung hat“.

Arbeitsschutz wird vernachlässigt

Unberücksichtigt bleibt dabei, dass über Personalausstattung und Arbeitsmenge die Unternehmensleitung entscheidet. Dazu passen Untersuchungen der Gewerkschaften. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz in den Betrieben des Dienstleistungssektors wird trotz hoher Belastungen der Beschäftigten sträflich vernachlässigt. Das zeigt etwa die Untersuchung „Arbeitsbelastung hoch, Arbeitsschutz mangelhaft" von Ver.di. Als „eine echte Katastrophe für die Arbeitswelt“ bezeichnet Ver.di-Vorstand Rebecca Liebig die Ergebnisse (7).

Nur knapp über die Hälfte der befragten Beschäftigten sagt, dass sie unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen bis zur Rente durchhalte.
„Wir brauchen gerade im wachsenden Dienstleistungssektor dringend gut qualifizierte, motivierte und vor allem gesunde Fachkräfte, um die anstehenden Transformationsprozesse zu meistern“, so Liebig und ergänzt: „Wir fordern die Arbeitgeber auf, ihren gesetzlichen Arbeitsschutz-Pflichten endlich nachzukommen.“

Zentral für das Erreichen von gesunden und guten Arbeitsplätzen ist die Durchführung einer sogenannten Gefährdungsbeurteilung, betont Ver.di (8).
Dies  ist im Arbeitsschutzgesetz festgeschrieben und soll Gefahren aus Sicht der Beschäftigten ermitteln.

Der Betrieb muss  dabei aufzeigen, welche Gefahren für die Gesundheit der Beschäftigten bestehen. Und dann ist festzulegen, welche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz erforderlich sind, also was gegen die Gefährdungen unternommen wird. Das kann auch Stress am Arbeitsplatz betreffen. Viele Unternehmen ignorieren diese Vorgabe.

 

 

Quellen:

(1) www.haufe.de/personal/hr-management/pflicht-zur-arbeitszeiterfassung-wird-nachlaessig-befolgt_80_628416.html

(2) www.aerzteblatt.de/nachrichten/153033/Fehltage-durch-psychische-Krankheiten-stark-gestiegen

(3) www.dak.de/presse/bundesthemen/gesundheitsreport/starker-anstieg-bei-psychischen-erkrankungen-im-ersten-halbjahr-2024-_76674

(4) www.personio.de/hr-lexikon/job-crafting

(5) www.iga-info.de/veroeffentlichungen/igawegweiser-co/wegweiser-job-crafting

(6) www.psy.lmu.de/evidenzbasiertesmanagement/dokumente/ebm_dossiers/ebm_27_job_crafting.pdf

(7) https://innovation-gute-arbeit.verdi.de/++co++7749254e-0215-11ef-b306-1b1aa92a88c1 (8) www.verdi-gefaehrdungsbeurteilung.de

 

 

WAPE 2024 - World Association of Political Economy

Do, 08/08/2024 - 11:41

Am vergangenen Wochenende fand in Athen der 17. Kongress der World Association of Political Economy statt. 
Die WAPE ist eine von China geführte akademische Wirtschaftsorganisation, die sich weltweit mit marxistischen Ökonomen vernetzt.
"Auch wenn das wie eine Voreingenommenheit erscheinen mag, bieten die WAPE-Foren und -Zeitschriften ein wichtiges Forum, um alle Entwicklungen in der kapitalistischen Weltwirtschaft aus einer marxistischen Perspektive zu diskutieren.
Marxistische Ökonomen aus der ganzen Welt sind willkommen, dem WAPE beizutreten und an den WAPE-Foren teilzunehmen." (WAPE-Statement).

Anbei einige Anmerkungen zu den Referaten auf der WAPE 2024, auf die hier eingegangen werden soll, ohne dabei den Anspruch einer Vollständigkeit zu erheben.  Es ist eher als eine Anregung zur Vertiefung der Auseinandersetzung um die marxistische Theorie gedacht.

Technologie

Mike Nolan vom Rochester Institute of Technology hielt einen Vortrag über Revolutionary Technology: The Political Economy of Left-Wing Digital Infrastructure" vor.  Nolan argumentiert, dass die "dezentralisierte Natur" des Internets und der sozialen Online-Medien dazu tendiert, die Klassenpolitik zu brechen und zu schwächen.  Nötig sei eine "einheitliche digitale Infrastruktur", damit "linke Organisationen die Kosten für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur teilen und gleichzeitig eine bessere Kontrolle über die Form dieser Infrastruktur ausüben können".  Klingt vernünftig, aber die Machbarkeit einer solchen "linken digitalen Infrastruktur" ist nicht klar.

João Romeiro Hermeto von der Freien Universität Berlin stellte sein Buch The Paradox of Intellectual Property in Capitalism vor, in dem er das Wesen des geistigen Eigentums unter der kapitalistischen Produktionsweise diskutiert.  Insbesondere versucht er zu erklären, was Wissen ist und wie es produziert wird.  Er betont, wie Wissen von Big Pharma und den Tech-Giganten in "geistiges Eigentum" verwandelt wird. Es geht um die Kontrolle über die Aneignung der gesellschaftlichen Mehrarbeit, die im Kapitalismus die spezifische Form des Mehrwerts annimmt.  Das ist zweifellos richtig, aber es blieb etwas unkeklärt, wohin uns das Buch dann führt.  Es bietet sich vielleicht an, Hermetos Analyse des Wissens in seinem Buch mit Guglielmo Carchedis Analyse des Wissens und der geistigen Arbeit mit dem Buch des Autors, Capitalism in the 21st Century, vergleichen (siehe Kapitel 5, S. 161-187) zu vergleichen.

Quantitative politische Ökonomie

Es gab einen sehr wichtigen Teil des WAPE-Programms, die quantitative politische Ökonomie.  Thanos Poulakis und Persefoni Tsaliki von der Universität Mazedonien stellten ihre scharfsinnige Analyse der Kaufkraftparität (KKP) vor, der wichtigsten Methode, mit der der IWF und die Weltbank das BIP in Volkswirtschaften messen.  Der Zweck des Kaufkraftparitäts-Wechselkurses besteht darin, die Landeswährung eines jeden Landes in eine gemeinsame Basiswährung - in der Regel den US-Dollar - umzurechnen. Auf diese Weise kann die Wirtschaftsleistung anhand einer einzigen gemeinsamen Währung verglichen werden und nicht anhand von Dutzenden von Landeswährungen, deren Marktwechselkurse sich schnell ändern können.

Poulakis und Tsaliki zeigen, dass die Wechselkurse tatsächlich durch die realen Arbeitskosten bestimmt werden, und wenn diese Stückkosten sorgfältig gemessen würden, könnte man genauere Schätzungen der KKP vornehmen und eine wirksamere Wechselkurspolitik entwickeln. Eine solche empirische Analyse ist nicht neu.  Siehe das Papier von Francisco Martinez. Poulakis und Tsaliki haben jedoch ihre früheren Arbeiten auf 163 Länder ausgeweitet.

Eine wichtige Schlussfolgerung daraus ist, dass Handelsüberschüsse und Handelsdefizite die direkte Folge der relativen Wettbewerbsposition der Länder in Bezug auf die realen Arbeitskosten sind. Wechselkursabwertungen haben also nur eine vorübergehende Wirkung auf die nationale Wettbewerbsfähigkeit, wenn die allgemeinen Produktionsbedingungen nicht verbessert werden.  Solange die am wenigsten wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften auf internationaler Ebene ihre allgemeinen technischen Produktionsbedingungen nicht verbessern können, werden ihre nationalen Industrien strukturell nicht wettbewerbsfähig sein, und infolgedessen würden diese Länder permanente Handelsdefizite aufweisen.

 

Terms of Trade[1]

Carlos Alberto Duque Garcia hielt einen Vortrag zum Thema "Terms of trade and the rate of profit: a suggested framework and evidence from Latin America".  Carlos Duque von der Autonomous Metropolitan University in Mexiko hat bereits eine hervorragende empirische Arbeit über Profitabilitätswellen in Kolumbien mit dem Titel Economic Cycles, Investment and Profits in Colombia, 1967-2019 vorgelegt.  In dieser Arbeit fand Duque Belege für die Marx'sche Hypothese, dass sowohl die Profitrate als auch die Masse der Profite die Investitionen bestimmen, während es im Gegenteil keine Belege dafür gab, dass die Investitionen entweder die Profitrate oder die Masse der Profite bestimmen.
Dies war eine weitere Bestätigung des Marx'schen Gesetzes der Rentabilität. 

 

 Messung der Profitrate

Dimitris Paitaridis und Lefteris Tsoulfidis gingen der Frage nach, ob eine genaue Messung des Bruttokapitalstocks für die Messung der Profitrate des Kapitals von Bedeutung ist.  Dies mag selbstverständlich erscheinen.  Aber es ist Gegenstand einer Debatte.  Einige argumentieren, dass der Kapitalstock nicht mit offiziellen Daten gemessen werden kann, weil er auf falschen neoklassischen Konzepten beruht.  Und es ist sicherlich richtig, dass die in offiziellen Datenbanken (z. B. AMECO der EU) verwendeten Kapitalstockmessungen fragwürdig sind.  Die Autoren haben jedoch eine Reihe hervorragender Arbeiten zur Messung des Kapitalstocks vorgelegt und belegen ausführlich den empirischen Zusammenhang zwischen einer zunehmenden organischen Zusammensetzung des Kapitals (der Kapitalstock wächst stärker als das variable Kapital) und einer sinkenden Gewinnrate auf den Kapitalstock.

Nikolaos Chatzarakis referierte ebenfalls über die Art der langen und kurzen Zyklen in der kapitalistischen Akkumulation.  Auch hier handelte es sich um eine weitere Arbeit über Zyklen, die der Autor und andere an der Universität von Mazedonien bereits durchgeführt haben. Ihr Zyklusmodell zeigte eine Periodizität, die durch die langfristige Entwicklung der Rentabilität und das dahinterstehende Wachstum der Mehrwertrate als regulierende Variable für die Zyklen bedingt ist. Der äußerst wertvolle Beitrag der marxistischen Wissenschaftler in Mazedonien und Griechenland insgesamt zur marxistischen Wirtschaftstheorie und zu empirischen Studien kann nicht unterschätzt werden.  Siehe meine Rezension des bahnbrechenden Buches von Tsoulfidis und Tsaliki. [2]

Apropos Theorie: Das Marx'sche Wertgesetz wurde in Fred Moseleys neuem Buch "Marx's Theory of Value in Chapter 1 of Capital: A Critique of Heinrich's Value Form Interpretation".[3]  Der Autor hat die Argumente in dem Buch im Anschluss an eine Debatte zwischen Moseley und dem deutschen Marxisten Michael Heinrich[4] auf der letztjährigen Konferenz zum Historischen Materialismus überprüft.

 

Fallende Profitrate

Christos Balomenos von der Nationalen und Kapodistrianischen Universität Athen stellte seine Doktorarbeit vor: "Eine theoretische und archivarische Untersuchung von Marx' Analyse des zinstragenden Kapitals und des Kredits im Manuskript von 1864-65 und dessen Bearbeitung durch Engels".  In dieser Arbeit untersuchte Balomenos Heinrichs Argumente für die Existenz einer entscheidenden theoretischen Verschiebung in Marx' Denken während der 1870er Jahre, die sich um seine angeblichen Zweifel an der Gültigkeit des Gesetzes der fallenden Profitrate drehte. In seiner Untersuchung kommt er zu dem Schluss, dass "die Manuskripte und Briefe, auf die sich Heinrich beruft, um seine Argumente zu stützen, weder eine Unsicherheit von Marx hinsichtlich der Gültigkeit des Gesetzes der fallenden Profitrate noch eine Veränderung seiner Meinung in den 1870er Jahren hin zu einer vorrangigen Rolle der kapitalistischen Zirkulation und insbesondere des Kredits bei der Erklärung der Wirtschaftskrise belegen."

Auf der WAPE 24 löste Fred Moseleys Interpretation der Marxschen Werttheorie jedoch einen kontroversen Disput aus.  Alan Freeman kritisierte Moseley für seine Behauptung, dass die Marktpreise um die langfristigen Produktionspreise oszillieren, die als Gravitationskraft wirken und die Preise mit den Arbeitswerten verbinden. Freeman argumentiert, dass die Outputpreise nicht mit den Inputpreisen übereinstimmen und sich ständig ändern, auch wenn sich die Produktivität nicht ändert.  Die Marktpreise oszillieren also nicht um die langfristigen Produktionspreise, die als Gravitationskraft wirken und die Preise an den Wert der Arbeit binden, wie Moseley argumentiert.
Freeman sieht darin eine Gleichgewichtstheorie des Mainstreams, die von Marx in seinem zeitlichen Ansatz abgelehnt wird.

 

Anmerkungen

[1] Terms of Trade (TOT) ist ein wirtschaftlicher Indikator, der das Verhältnis zwischen dem Preisniveau der Exporte und Importe eines Landes darstellt.

[2] Michael Roberts: Ricardo and/or Marx? A Review of Classical Political Economics and Modern Capitalism: Theories of Value, Competition and Trade by Lefteris Tsoulfidis and Persefoni Tsalik.
Er würdigt das Buch für seine überzeugende und solide theoretische Analyse des Kapitalismus. Er weist jedoch auf einen merkwürdigen Aspekt des Ansatzes der Autoren hin: Sie kategorisieren die Marxsche Ökonomie als einen Strang der klassischen politischen Ökonomie, anstatt sie als Kritik der klassischen Ökonomie anzuerkennen, wie es Marx selbst tat. Roberts findet die Entwicklung der Marxschen Theorie durch die Autoren besonders überzeugend, wenn man sie mit klassischen und neoklassischen Analysen vergleicht.

[3] Fred Moseley: "Marx's Theory of Value in Chapter 1 of Capital: A Critique of Heinrich's Value-Form Interpretation". Es handelt sich um eine  detaillierte Kritik  Michael Heinrichs Interpretation der Marx'schen Werttheorie, wie sie in Kapitel 1 des "Kapital" dargestellt wird. Moseley argumentiert gegen Heinrichs Wertforminterpretation, die die relationalen und sozialen Aspekte des Werts betont und suggeriert, dass der Austausch die Produktion bestimmt.
Stattdessen verteidigt Moseley ein produktionszentriertes Verständnis des Wertes und behauptet, dass der Wert durch die Produktion bestimmt wird und dass der Tausch daraus folgt.

[4] Michael Heinrichs Interpretation von Marx' Werk unterscheidet sich in mehreren wesentlichen Punkten von anderen Ansätzen:

  1. Kritik des Weltanschauungsmarxismus: Heinrich kritisiert den sogenannten "Weltanschauungsmarxismus", der durch einen simplen Materialismus und deterministischen Geschichtsverständnis geprägt ist. Er lehnt die Vorstellung ab, dass der Kapitalismus und die proletarische Revolution als naturgesetzliche Notwendigkeiten betrachtet werden können
  2. Fokus auf Fetischismus: Heinrich betont Marx' Rolle als Kritiker der durch den Wert vermittelten, fetischisierten Vergesellschaftung. Er sieht den Fetischismus als einen Verblendungszusammenhang, dem sowohl Kapitalisten als auch Arbeiter unterliegen, und lehnt die Vorstellung einer privilegierten Erkenntnisposition der Arbeiterklasse ab.
  3. Unvollständigkeit von Marx' Werk: Heinrich hebt hervor, dass Marx' Werk kein abgeschlossenes System darstellt, sondern aus vielen Fragmenten besteht. Er betont, dass die MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) zeigt, dass Marx' Kritik der politischen Ökonomie nicht vollständig fertiggestellt war, sondern dass es sich um ein gigantisches Forschungsprojekt handelt, von dem nur Fragmente realisiert wurden.

  4. Materialistische Betrachtung: Heinrich verfolgt einen materialistischen Ansatz, der nicht nur die theoretischen Inhalte von Marx' Texten untersucht, sondern auch die materiellen Bedingungen ihrer Entstehung. Er sieht Marx' Texte als politische Interventionen, die in spezifische Debatten und Konflikte eingreifen.
  5. Kritik an der monetären Werttheorie: Heinrich wird von Vertretern der Neuen Marx-Lektüre dafür kritisiert, dass er eine Zweiteilung der Ökonomie postuliert, die nicht über Marx hinausgeht, sondern hinter ihn zurückfällt.

Quellen dazu:
Marx, Leben und Werk, Z, Zeitschrift marxistische Erneuerung, 2017;

Michael Heinrich: Wie das Marxsche Kapital lesen? Hinweise zur Lektüre und Kommentar zum Anfang von »Das Kapital«, Stuttgart 2008.

Die Federal Reserve scheitert

Sa, 03/08/2024 - 06:37

Die US-Notenbank  (FED) verzichtete Ende Juli auf eine Senkung ihres Leitzinses von dem derzeitigen Höchststand von 5,25-5,5 %. 
Dies geschah, obwohl sie feststellte, dass sich die US-Wirtschaft abkühlte, die Arbeitslosigkeit zu steigen begann und die Wirtschaftstätigkeit sich abschwächte.



Das Problem für die Fed bestand wie immer darin, einerseits die Kreditkosten hochzuhalten, um die Inflation einzudämmen, und andererseits dem Risiko entgegenzuwirken, dass die hohen Kreditkosten dazu führen, dass die Haushalte ihre Ausgaben kürzen und die Unternehmen ihre Investitionen und die Beschäftigung zurückfahren.

Die Fed hat wie andere Zentralbanken in den großen Volkswirtschaften ein willkürliches (und ziemlich sinnloses) Inflationsziel von 2 % pro Jahr; im Gegensatz zu anderen Zentralbanken hat sie jedoch ein "doppeltes Mandat", nämlich zu versuchen, die Beschäftigung und das Wirtschaftswachstum zu erhalten und gleichzeitig die Inflation zu senken. 
Kann die Fed dieses doppelte Mandat erfüllen?
Die Fed behauptet gerne, dass sie es schaffen wird; auch unter den führenden Wirtschaftswissenschaftlern herrscht Einigkeit darüber, dass sie dieses "Goldlöckchen-Szenario" von niedriger Inflation und Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig mäßig solidem Wirtschaftswachstum erreichen wird.

Aber wenn das doppelte Mandat erreicht wird, wird das nicht an der Zinspolitik der Fed liegen.  Wie ich bereits mehrfach dargelegt habe, steuert die Geldpolitik angeblich die "Gesamtnachfrage" in einer Volkswirtschaft, indem sie die Kreditaufnahme für Ausgaben (sei es für Konsum oder Investitionen) teurer oder billiger macht.  Doch die Erfahrung mit dem jüngsten Inflationsschub seit dem Ende der Pandemiekrise im Jahr 2020 ist eindeutig:

 Die Inflation stieg aufgrund der geschwächten und blockierten Lieferketten und der langsamen Erholung der verarbeitenden Industrie an, nicht aufgrund einer "übermäßigen Nachfrage", die entweder durch eine staatliche Ausgabenwut oder "übermäßige" Lohnerhöhungen oder beides verursacht wurde.
 
Und die Inflation begann zu sinken, sobald die Energie- und Nahrungsmittelknappheit und die Preise nachließen, die Blockaden in den globalen Lieferketten abgebaut wurden und die Produktion wieder anlief. 
Die Geldpolitik hatte mit diesen Bewegungen wenig zu tun.

Und entgegen den Hoffnungen und Erwartungen des Fed-Vorsitzenden Jay Powell und aller Mainstream-Ökonomen gibt es in der US-Wirtschaft Tendenzen, die darauf hindeuten, dass das doppelte Mandat wahrscheinlich nicht erreicht werden wird. 
Erstens bleibt die Inflation "hartnäckig", d. h. sie liegt deutlich über der angestrebten Jahresrate von 2 %.  Die Fed misst die US-Inflation gerne anhand des Preisindexes für die persönlichen Konsumausgaben (PCE).  Dabei handelt es sich um ein kompliziertes Maß, das die Produktionspreise sowie die Energie- und Lebensmittelpreise ausschließt - kaum ein genaues Maß für den Preisanstieg bei der Mehrheit der Amerikaner!
Dennoch liegt der PCE-Kernpreisindex derzeit bei 2,6 % und damit unter dem Höchstwert von 5,6 % im Jahr 2022, aber immer noch deutlich über 2 % und der Rate für 2019.

 

Die Gesamtinflationsrate der Verbraucherpreise ist viel höher als die Messung der Fed. 
Sie liegt derzeit bei 3,0 % und damit unter dem Höchstwert von 9 % im Jahr 2002, aber immer noch einen vollen Prozentpunkt über dem illusorischen Ziel der Fed und doppelt so hoch wie die Rate im Jahr 2019.

 

 

Und wie zu sehen ist, scheint der Verbraucherpreisindex bei 3 % zu verharren, ohne dass es trotz der optimistischen Äußerungen der Mainstream-Ökonomen Anzeichen für einen weiteren Rückgang gibt.  Die Gründe dafür liegen für mich auf der Hand.  Erstens ist die Inflation, wie ich schon früher und weiter oben dargelegt habe, nicht auf eine "übermäßige Nachfrage" zurückzuführen, sondern auf ein schwaches Angebot, d. h. ein geringes Produktivitätswachstum und hohe Rohstoffpreise.  Zweitens sind die Preise vieler Produkte in der US-Wirtschaft in den letzten zwei Jahren stark gestiegen, was sich anscheinend nicht in den offiziellen Preisangaben niederschlägt.

Dazu gehören insbesondere die stark gestiegenen Wohnkosten, Kranken- und Kfz-Versicherungen.  In einem kürzlich erschienenen FT-Artikel wird eingeräumt: "Beide sind zum Teil ein Produkt der pandemischen Angebotsschocks - verringerte Bautätigkeit und ein Mangel an Fahrzeugteilen -, die immer noch durch die Lieferkette sickern. In der Tat sind die teureren Kfz-Versicherungen jetzt ein Produkt des früheren Kostendrucks bei Fahrzeugen. Die Nachfrage ist nicht das zentrale Problem; hohe Tarife können nur wenig ausrichten."

 

Es gibt noch ein weiteres Maß für die Inflation in der US-Wirtschaft, den so genannten "Sticky Price Consumer Price Index" (SCPI), der auf der Grundlage einer Untergruppe von Waren und Dienstleistungen berechnet wird, die im VPI enthalten sind und deren Preise sich relativ selten ändern, so dass sie von Nachfrageänderungen kaum betroffen sind.  Dieser Index zeigt erneut eine viel höhere Inflationsrate an, die derzeit bei 4,2 % im Jahresvergleich liegt und damit dreimal so hoch ist wie Anfang 2021.

US-Inflation bei "hartnäckigen" Preisen

Dieses Maß deutet darauf hin, dass die Inflation in der Wirtschaft verankert ist und die Unternehmen jede Gelegenheit nutzen, um die Preise zu erhöhen, aber keine Gelegenheit, sie zu senken.  Vergessen Sie nicht, dass die amerikanischen Haushalte in den letzten drei Jahren einen durchschnittlichen Preisanstieg von 20 % bei den von ihnen gekauften Waren und Dienstleistungen hinnehmen mussten - die derzeitige Verlangsamung der Inflation bedeutet also nichts anderes, als dass die Preise zwar immer noch enorm steigen, aber nicht mehr so schnell. Diese Preisinflation hat die Realeinkommen der meisten Amerikaner in den letzten Jahren aufgefressen, so dass sich der Lebensstandard verschlechtert hat, auch wenn alle eine Arbeit haben (meist eine schlecht bezahlte im Dienstleistungsbereich).

Im Gegensatz zu dem, was die Fed sagt, ist der "Krieg gegen die Inflation" also noch nicht gewonnen.  Infolgedessen hat die Fed ihren Leitzins noch immer nicht gesenkt.  Der hohe Leitzins der Fed sorgt jedoch dafür, dass die Kreditzinsen hoch bleiben, was sich auf die Gewinne vor allem kleiner Unternehmen auswirkt, die häufig Kredite aufnehmen müssen, um zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen, sowie auf die Kreditkarten- und Hypothekenzinsen der Haushalte.

Dies wirft die Frage auf, ob die US-Wirtschaft wirklich vorankommt und somit einen Abschwung vermeiden kann, der durch den Druck auf die Gewinne aufgrund der hohen Zinssätze verursacht wird.  Die jüngste Vorausschätzung des realen BIP-Wachstums in den USA für das zweite Quartal dieses Jahres, das von 1,4 % im ersten Quartal auf 2,8 % im Jahresvergleich gestiegen ist, wurde viel beachtet.  Doch diese Schlagzeile hat viele Schwachstellen.

Erstens handelt es sich um eine "annualisierte" Rate, was bedeutet, dass der vierteljährliche Anstieg des realen BIP im zweiten Quartal in Wirklichkeit nur 0,7 % betrug.  Zweitens enthält die Gesamtrate wichtige Beiträge aus den folgenden Bereichen: Gesundheitsdienstleistungen (0,45 Prozentpunkte), Vorräte (0,82 Prozentpunkte) und Staatsausgaben (0,53 Prozentpunkte).  Die Gesundheitsdienstleistungen sind eigentlich ein Maß für die steigenden Kosten der Krankenversicherung und nicht für eine bessere Gesundheitsversorgung, und diese Kosten sind in den letzten drei Jahren in die Höhe geschnellt.  Unter Vorräten versteht man Bestände an unverkauften Waren, mit anderen Worten: Produktion ohne Verkauf; und die Staatsausgaben dienten hauptsächlich der Rüstungsproduktion, was kaum einen produktiven Beitrag darstellt.

Wenn man all diese Komponenten ausklammert und die so genannten "realen Endverkäufe an private inländische Käufer" betrachtet, ein besseres Maß für die US-Wirtschaftstätigkeit, dann gab es keine Verbesserung gegenüber dem schwachen ersten Quartal.  Tatsächlich lag das Wachstum der realen Endverkäufe in der ersten Hälfte dieses Jahres bei Null, verglichen mit rund 2 % im gesamten Jahr 2023.

Und die Verkäufe an die Verbraucher waren besser als das Wachstum des realen persönlichen Einkommens. 
Im Durchschnitt verzeichnen die amerikanischen Haushalte nach zwei Jahren des Rückgangs der Realeinkommen jetzt nur einen sehr geringen Anstieg.  Das real verfügbare persönliche Einkommen (das ist das Einkommen, das den Menschen nach Abzug von Inflation und Steuern zur Verfügung steht) stieg auf Jahresbasis nur um 1 % und damit langsamer als im ersten Quartal.

Kein Wunder, dass die Stimmung der US-Verbraucher auf den niedrigsten Stand seit acht Monaten gefallen ist. 
Der von der University of Michigan ermittelte Index der Verbraucherstimmung erreichte im Juli einen Wert von 66,4 und damit den niedrigsten Stand seit November. Die etablierten Wirtschaftswissenschaftler, die davon ausgehen, dass die Verbraucherausgaben und -einkommen boomen, sind darüber verwundert und sprechen von einer "Vibecession".  Die amerikanischen Haushalte scheinen nicht zu erkennen, dass es ihnen sehr gut geht!  Aber "die hohen Preise drücken weiterhin auf die Stimmung, vor allem bei denjenigen, die über ein geringeres Einkommen verfügen", so Joanne Hsu, die Leiterin der Umfrage in Michigan. Das ist die Verbraucherfront. 

An der Produktionsfront sieht es nicht viel besser aus.  Die Saison der Unternehmensgewinne in den USA hat begonnen, und es gab durchweg schlechte Nachrichten, insbesondere von den Mega-Tech- und Social-Media-Unternehmen, die den US-Aktienmarkt dominieren und den Großteil der Gewinne im Unternehmenssektor einfahren.

Vier der so genannten "Magnificent Seven", die in den letzten neun Monaten die US-Börsenrallye angetrieben haben, https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/07/from-the-magnificent-seven-to-the-desperate-hundred/

beendeten die Woche mit Kursverlusten von mehr als 10 Prozent gegenüber den jüngsten Höchstständen im "Korrekturbereich".  Zwei weitere - Microsoft und Amazon - stehen kurz vor den zweistelligen Kursverlusten, die eine Korrektur definieren.  Von den glorreichen Sieben zu den gebrochenen Fünf!

Big Tech hat sich voll auf die zu erwartenden riesigen Gewinne aus der KI festgelegt.  Sie haben Investitionen in noch nie dagewesenem Umfang getätigt und sind damit zum Haupttreiber der Unternehmensinvestitionen in der US-Wirtschaft geworden.  Microsoft hat erklärt, dass "wir in diesem Jahr einen erheblichen Anstieg der Investitionsausgaben erwarten" und dass "die kurzfristige KI-Nachfrage unsere verfügbaren Kapazitäten ein wenig übersteigt". Amazon sagt, die starke Nachfrage nach Cloud-Diensten und KI bedeute, dass das Unternehmen seine Investitionsausgaben "deutlich erhöhen" werde. Meta sagt, dass KI sowohl in diesem Jahr als auch bis 2025 zu höheren Investitionen führen wird. Allerdings werden Zweifel an der schnellen Realisierung höherer Gewinne durch KI laut, und wenn Big Tech beginnt, seine Ausgaben zu kürzen, wird sich dies auch auf die Wirtschaft der Unternehmen auswirken.  Es wird vermehrt von einem "Tail Risk" für den Aktienmarkt gesprochen.

Kommt noch mehr dazu?

 

Auch die Aktienkurse des Zustelldienstes UPS, der oft als Indikator für die Wirtschaft im Allgemeinen gilt, fielen um 12 %, nachdem UPS seine Prognosen für den Rest des Jahres zurückgenommen hatte.  Seit dem Ende der Pandemie gab es einen enormen Anstieg der Investitionen in Transportausrüstung, um den Anstieg der weltweiten Produktion zu bewältigen.  Diese Entwicklung scheint sich jedoch ihrem Ende zu nähern.

 

 

Zur Beschäftigung

Was die Beschäftigung anbelangt, so zeichnet sich auch hier das Gesamtbild eines schwächeren Beschäftigungswachstums und einer steigenden Arbeitslosigkeit ab.  Die ADP-Daten zeigen, dass die Zahl der Beschäftigten in kleinen Unternehmen mit 20 bis 49 Mitarbeitern im Jahresvergleich um 88.000 abgenommen hat. Und die Tendenz ist bei allen Unternehmen außer den sehr großen negativ.

Die Dynamik der Wirtschaftstätigkeit schwächt sich ab.

 

 

Tatsache ist, dass die US-Wirtschaft unter den führenden G7-Volkswirtschaften zwar am besten abschneidet, aber nicht in Fahrt kommt. https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5260-eine-sanfte-landung-oder-ein-faules-ei-a-soft-landing-or-curates-egg


Dennoch ist die Situation in Europa und Japan noch viel schlimmer - darauf werde ich in einem späteren Beitrag zurückkommen.  Im Vereinigten Königreich ist die Lage so schlecht, dass die Bank of England beschlossen hat, ihren Leitzins jetzt zu senken.  Die Gesamtinflation im Vereinigten Königreich ist drastisch auf 2 % gesunken, aber nur, weil die britische Wirtschaft stagniert.

 

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: 
Die US-Notenbank wird mit ziemlicher Sicherheit auf ihrer September-Sitzung mit der Senkung ihres Leitzinses beginnen -  genau das hat sie angedeutet. 
Sie hat auch keine andere Wahl, wenn sie eine Stagnation oder gar Rezession in der Wirtschaft vermeiden will, wie es die Bank of England bereits tut.

Die Fed wird also damit leben müssen, dass sie ihr Inflationsziel von 2 % nicht erreicht. 

Und die amerikanischen Haushalte werden mit einer noch höheren Inflation in den Geschäften und bei wichtigen Dienstleistungen konfrontiert werden.

Diplomatie statt Waffen

Fr, 02/08/2024 - 08:36

Neue Bemühungen um Waffenstillstand in der Ukraine:
Selenskyj zieht „Diplomatie statt Waffen“ in Betracht;
Beijing verhandelt mit Kiew;
Finnlands Präsident wünscht Gespräche.
Berlin unternimmt zur Kriegsbeendigung nichts.



Ohne jegliches Zutun der Bundesregierung zeichnen sich vorsichtige Bemühungen um ein Ende des Krieges in der Ukraine und um eine mögliche Friedenslösung ab.

So hat etwa der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit französischen Medien erklärt, er bestehe nicht mehr darauf, die territoriale Integrität der Ukraine „mit Waffen“ zu erkämpfen; denkbar seien stattdessen auch diplomatische Schritte. Selenskyj wünscht zudem die Teilnahme russischer Delegierter an einem Friedensgipfel; auch eine Vermittlung durch China schließt er nicht aus.
Zugleich lädt Kiew nach mehrtägigen, als produktiv bezeichneten Gesprächen von Außenminister Dmytro Kuleba in der Volksrepublik nun Chinas Außenminister Wang Yi zu einer Fortsetzung der Verhandlungen in die ukrainische Hauptstadt ein.
Beijing hat sich bislang Gesprächen, die es lediglich zum Ziel hatten, Russland zu isolieren, anstatt nach einer Friedenslösung zu suchen – so etwa der Ukraine-Gipfel in der Schweiz –, konsequent verweigert.
Als erster Hardliner aus dem Westen hat sich auch Finnlands Präsident Alexander Stubb für Verhandlungen ausgesprochen. Hintergrund sind die für Kiew miserablen Kriegsperspektiven.

Frontlage: „Viele Probleme auf einmal“

Die Lage an der Front verschlechtert sich laut Berichten für die ukrainischen Streitkräfte zusehends. Demnach hat Russland in der vergangenen Woche in Donezk seine umfassendste Offensive in diesem Jahr gestartet, ist zuletzt vergleichsweise rasch vorgerückt und droht wichtige ukrainische Versorgungslinien abzuschneiden.

Für die ukrainischen Truppen, urteilt Gustav Gressel, Militärexperte des European Council on Foreign Relations (ECFR), „kommen jetzt viele Probleme auf einmal zusammen: abgekämpfte Einheiten, hohe Verluste von qualifiziertem Personal vor allem im Frühjahr, fehlende Munition, fehlendes Material (vor allem gepanzerte Fahrzeuge), Verwundbarkeit gegenüber russischen Gleitbombenangriffen, kaum Möglichkeiten, russische Aufklärungsdrohnen abzufangen“.[1] „Frisch mobilisierte Soldaten“ seien außerdem „in neue Brigaden“ abkommandiert und nicht in bestehende Brigaden integriert worden; für sie fehle es „am geeigneten Führungspersonal“. Ob die vielgepriesenen Kampfjets F-16 überhaupt „in der Nähe der Front“ operieren könnten, um Angriffe mit Gleitbomben zu verhindern, sei unter anderem wegen der geringen Reichweite ihres Radars ungewiss. Zu hierzulande so beliebten Berichten über „Schwächen der russischen Armee“ äußert Gressel, sie täuschten darüber hinweg, dass die Ukraine „ähnliche Probleme“ habe.

Zum Gebietsverzicht bereit

Gressel weist zudem darauf hin, dass der Krieg „auch abseits der Front ... zunehmend die Moral, Ressourcen und Infrastruktur der Ukraine“ strapaziert.[2]

In der Tat sprachen sich im Juli im Rahmen einer Umfrage in der ukrainischen Bevölkerung 44 Prozent dafür aus, in Friedensverhandlungen mit Russland einzutreten. 

Im Mai 2023 hatten dies kaum 23 Prozent getan.[3] Eine weitere Umfrage ergab, dass der Anteil derjenigen, die zum Erreichen von Frieden zur Preisgabe von Territorien bereit wären, von rund 9 Prozent im Februar 2023 auf nun 32 Prozent gestiegen war.
Der Anteil derjenigen, die jeglichen Gebietsverzicht dezidiert ablehnten, war von rund 74 Prozent im Dezember 2023 auf nur noch 55 Prozent gefallen.[4]
Hintergrund sind unter anderem die wachsenden Belastungen durch massive Zerstörungen der Infrastruktur. Auf politischer Ebene kommt starke Unklarheit darüber hinzu, wie ein etwaiger US-Präsident Donald Trump sich gegenüber Kiew verhielte.

Wie BRD und DDR

Vor diesem Hintergrund mehren sich die Zeichen, die Ukraine könne sich für Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine etwaige Friedenslösung öffnen.

Nachdem der Versuch gescheitert ist, auf einem vorgeblichen „Friedensgipfel“ in der Schweiz den Globalen Süden gegen Russland in Stellung zu bringen (german-foreign-policy.com berichtete [5]), hat Präsident Wolodymyr Selenskyj vor rund zehn Tagen mitgeteilt, er schließe Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin nicht mehr aus [6]. In einem am Mittwoch erschienenen Interview mit französischen Medien äußerte Selenskyj nun explizit, er wünsche eine Präsenz russischer Delegierter auf einem nächsten „Friedensgipfel“.[7]
Selenskyj teilte zudem mit, Kiew bestehe weiterhin auf der territorialen Integrität der Ukraine; diese müsse man aber nicht unbedingt „mit Waffen“ erkämpfen – denkbar seien auch diplomatische Schritte. Damit nähert sich Selenskyj der bereits im vergangenen Jahr diskutierten Option an, die Frontlinie einzufrieren und zu einem praktischen Nebeneinander mit Russland zu finden, ohne die Annexion ukrainischer Territorien in aller Form anzuerkennen.[8]
Man könne die Territorien vielleicht auf ähnliche Weise wiedergewinnen wie einst die BRD das Territorium der DDR, heißt es meistens dazu.

China als Vermittler

Selenskyj schließt zudem eine Vermittlung durch China nicht aus.

Zwar ziehe er es vor, wenn Beijing nicht zwischen Kiew und Moskau vermittle, sondern stattdessen seinen Einfluss auf Russland nutze, um es zur Beendigung des Krieges und zum Abzug seiner Streitkräfte zu zwingen, teilte Selenskyj mit. Eine offene Ablehnung chinesischer Bemühungen, den Krieg durch einen Abgleich zwischen den beiden Seiten zu beenden, unterließ er allerdings.[9]
Das ist deshalb von Bedeutung, weil einschlägige Gespräche kürzlich begonnen haben und jetzt möglicherweise fortgesetzt werden. In der vergangenen Woche hielt sich der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zum ersten Mal seit Kriegsbeginn zu Gesprächen in Beijing auf, die sich insgesamt über einige Tage zogen und als durchaus produktiv eingestuft wurden. Kuleba bestand lediglich auf der Souveränität und auf der territorialen Integrität der Ukraine; diese freilich waren schon Bestandteil des chinesischen Zwölf-Punkte-Plans vom Februar 2023, den Kiew damals in ersten Reaktionen begrüßt hatte.[10]
 Am Dienstag teilte die ukrainische Regierung mit, sie habe Chinas Außenminister Wang Yi zu weiteren Gesprächen nach Kiew eingeladen; Wang habe sich offen dafür gezeigt.
Man schließe selbst ein Treffen zwischen Selenskyj und Chinas Präsident Xi Jinping nicht mehr aus.[11]

„Abzug keine Vorbedingung“

Selbst im Westen gibt es vorsichtige Hinweise auf ein Einlenken. Dies ergibt sich aus Äußerungen von Finnlands Präsident Alexander Stubb, der mit Blick auf den Ukraine-Krieg bisher eher als Hardliner auftrat. Im Mai hatte er noch erklärt, „der einzige Weg zum Frieden“ führe „über das Schlachtfeld“.[12] Am Wochenende urteilte er nun aber in einem Interview mit der französischen Abendzeitung Le Monde, man sei „an einem Punkt angekommen, an dem Verhandlungen beginnen müssen“.[13] Einen Abzug der russischen Streitkräfte, der auch in Berlin unablässig als Voraussetzung für Verhandlungen gefordert wird, könne man nicht „als Vorbedingung betrachten“, äußerte Stubb nun. Klar sei, dass Selenskyj bezüglich der von Russland annektierten Gebiete eine Entscheidung treffen müsse. Darüber hinaus seien Sicherheitsgarantien westlicher Staaten für die Ukraine erforderlich. Diese liegen mittlerweile zahlreich vor, haben jedoch aus Kiewer Sicht durchweg den Nachteil, dass sie für den Fall eines erneuten russischen Angriffs keine feste Verteidigungszusage geben, sondern lediglich versprechen, innerhalb kürzester Frist zu Gesprächen zusammenzukommen und Kiew auf ähnliche Weise zu unterstützen wie im aktuellen Krieg. Das gilt auch für die deutsche Sicherheitsgarantie (german-foreign-policy.com berichtete [14]). Selbstverständlich benötige die Ukraine auch Wiederaufbauhilfen, konstatierte Stubb. Man darf vermuten, dass Kuleba dies bei seinem Besuch in Beijing ebenfalls besprach.

Deutschland? Fehlanzeige.

Beobachter weisen darauf hin, dass die Gespräche über einen etwaigen Waffenstillstand sich allenfalls in einem frühen Stadium befinden und die Erfolgsaussichten völlig ungewiss sind. Zumindest indirekt sind inzwischen allerdings auch europäische Politiker involviert; so tauschte sich – nach dem kürzlichen Besuch von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in Beijing [15] – zu Wochenbeginn Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni im Gespräch mit Chinas Präsident Xi Jinping über den Ukraine-Krieg aus.
Sie sei der Auffassung, Beijing könne „ein Schlüsselakteur“ bei dem Versuch werden, „Elemente eines gerechten Friedens“ für die Ukraine zu identifizieren, teilte Meloni nach dem Gespräch mit.[16]
Von etwaigen Bemühungen deutscher Regierungspolitiker, Wege hin zu einem Waffenstillstand zu finden, ist nichts bekannt.

 

[1], [2] Tobias Mayer: Militärexperte über die Lage im Ukrainekrieg: „Friedensverhandlungen sind pure Spekulation von Biertischdiplomaten“. tagesspiegel.de 30.07.2024.

[3] Nate Ostiller: 44% of Ukrainians believe it’s time to start official peace talks with Russia, survey finds. kyivindependent.com 15.07.2024.

[4] Brendan Cole: Ukrainian Support for Ceding Territory Surges. newsweek.com 23.07.2024.

[5] S. dazu Ziele klar verfehlt

[6] Ella Strübbe: Kreml lobt Selenskyj. tagesspiegel.de 22.07.2024. S. auch Streit um Viktor Orban

[7] Thomas d’Istria: Volodymyr Zelensky : renoncer à des territoires ukrainiens est « une question très, très difficile ». lemonde.fr 31.07.2024.

[8] S. dazu Der Korea-Krieg als Modell und Der Übergang zur Diplomatie

[9] Thomas d’Istria: Volodymyr Zelensky : renoncer à des territoires ukrainiens est « une question très, très difficile ». lemonde.fr 31.07.2024.

[10] S. dazu Auf der SEite der Diplomatie (III)

[11] Dan Peleschuk: Kyiv hails dialogue with Beijing, hints at potential Zelenskiy-Xi meeting. reuters.com 30.07.2024.

[12] „Gerade führt der einzige Weg zum Frieden über das Schlachtfeld“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.05.2024.

[13] Philippe Ricard: Alexander Stubb, president finlandais, à propos de la guerre en Ukraine : « Nous arrivons à un point où les négociations doivent commencer ». lemonde.fr 27.07.2024.

[14] S. dazu Die Dominanz im Mittel- und Osteuropa

[15] S. dazu Streit um Viktor Orban

[16] Riyaz ul Khaliq, Giada Zampano: China can become ‘key player’ to help identify peace in Ukraine, says Italian premier. aa.com.tr 30.07.2024.

 

Panzer und Subventionen für die Konzerne statt Kindergrundsicherung

Do, 01/08/2024 - 08:21

Die Kindergrundsicherung war als größte Sozialreform der Ampelkoalition angekündigt.
Jetzt kam das Aus: Rüstung statt Kinder.
Subventionen für die Aktionäre der Konzerne: 10,7 Milliarden Euro im Jahr 2023 für die DAX-Konzerne.  Die Ampel-Regierung  zeigt wieder einmal, dass sie fest an der Seite der Konzerne und Reichen steht!

 

Die Kindergrundsicherung war als größte Sozialreform der Ampelkoalition angekündigt. Der Start der Kindergrundsicherung war für Januar 2025 geplant. Doch weder das Datum, noch das Geld oder die notwendigen Stellen konnte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) durchsetzen. Die Kindergrundsicherung - einst als das größte sozialpolitische Vorhaben der Grünen gestartet - ist auf fünf Euro mehr beim Kindergeld geschrumpft.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte bei der Sommer-Pressekonferenz am Mittwoch vergangener Woche (24.7.), dass die Kindergrundsicherung in dieser Legislatur nicht mehr umgesetzt werde. Gegenwärtig, sagte Scholz, diskutierten Regierung und Koalitionsparteien über erste Schritte zur Einführung: "Und dann auch darüber, wie man den Weg zum zweiten Schritt formuliert, der vermutlich dann nicht in dieser Legislaturperiode sich ereignen wird."

Da es aber voraussichtlich eine weitere Legislaturperiode dieser Koalition nicht mehr geben wird, wird auch die Kindergrundsicherung nicht mehr kommen.

Geplant war, verschiedene staatliche Leistungen wie Kindergeld oder Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien sowie Sozialleistungen für Kinder zu bündeln. Die Grundsicherung sollte dann aus zwei Teilen bestehen: einem fixen Grundbetrag, dem Kindergarantiebetrag - heute das Kindergeld - und einem flexiblen Zusatzbetrag - dem Kinderzusatzbetrag -, der abhängig vom Einkommen der Eltern sein sollte. Dafür sollte der Antrag für die Familien einfacher, übersichtlicher und digitaler werden, damit am Ende mehr Kinder profitieren.

Doch jetzt bleibt es bei einer "ersten Stufe", mit einer geringfügigen Erhöhung beim Kinderzuschlag und Kindergeld um fünf Euro. Mit einem Kindergrundsicherungscheck sollen Familien leichter wissen, ob sie einen Anspruch auf staatliche Leistungen haben. Zusätzlich soll es ein weiteres Portal im Netz geben: Familien mit wenig Einkommen sollen darüber leichter Zuschläge für Musikschulen oder etwa Sportvereine bekommen. (Frage: Warum wird Sport und Musik nicht mehr im normalen Schulunterricht angeboten?) Dieser erste Schritt soll noch vor der nächsten Bundestagswahl kommen, hofft die grüne Familienministerin.

"Ein weiterer Schritt ist gegenwärtig nicht etatreif" blockte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) den "zweiten Schritt" ab. Es dürften "nicht immer neue Subventionen, neue Sozialausgaben, neue Standards dazukommen." Sonst sei die zur Sicherung der "Freiheit" des Westens nötige Erhöhung der Verteidigungsausgaben nicht möglich, so Lindner.

Stolz betonte Lindner im ARD-Sommerinterview, dass Deutschland die Rüstungsausgaben erhöht habe. "Deutschland erfüllt das NATO-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die äußere Sicherheit. Wann in den letzten Jahrzehnten hat es das gegeben? Wir tun mehr als Frankreich und Italien beispielsweise."

An die Adresse von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gerichtet, der eine noch stärkere Steigerung der Rüstungsausgaben fordert, sagte er: "Herr Pistorius hat ein 100-Milliarden-Euro-Sonderprogramm für die Ertüchtigung der Streitkräfte, das hatte keiner seiner Vorgänger."

Deutschland hat der NATO für das laufende Jahr geschätzte Verteidigungsausgaben von 90,6 Milliarden Euro gemeldet (davon 51,95 Milliarden Euro aus dem regulären Verteidigungshaushalt) und erreicht damit derzeit klar das Zwei-Prozent-Ziel des Bündnisses.[1]

Für den Krieg um die Ukraine hat Deutschland der Ukraine inzwischen Militärhilfen in Höhe von etwa 28 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt beziehungsweise für die kommenden Jahre bereitgestellt.[2]

Im Haushaltsentwurf für das Jahr 2025 Entwurf 2025 sind 53,25 Mrd. Euro (+2,5 Prozent) im regulären Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14, Bundesministerium der Verteidigung) vorgesehen. Bis 2028 sollen die Ausgaben auf 80 Mrd. Euro steigen.

Bundesregierung: Kanonen statt Butter

"Kanonen und Butter, das ist Schlaraffenland", hatte ifo-Chef Clemens Fuest bei der Talk-Runde von Maybrit Illner am 22. Februar vorhergesagt und war damit auf heftigen Widerspruch von SPD und Grünen gestoßen. "Wir dürfen die Sicherheit nach außen nicht gegen soziale Sicherheit im Land ausspielen", hatte die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang entgegnet. (siehe kommunisten.de, 29.2.2024: "Kanonen statt Butter"

Doch jetzt bestätigen sich die Erfahrungen aus der Vergangenheit auf die Ifo-Chef Fuest hingewiesen hatte: "Wenn man mehr für das Militär ausgeben musste, dann blieb eben weniger für andere Dinge."

Dafür klingeln bei der Rüstungsindustrie die Kassen.

2023: 10,7 Milliarden Euro Subventionen für die Aktionäre der DAX-Konzerne

Genügend Geld gibt es aber auch für Subventionen an die großen Konzerne. Wie das Magazin Monitor unter Bezug auf eine Analyse des Flossbach von Storch Research Institute berichtete, sind in den letzten fünf Jahren sind nicht nur die Gewinne der 40 DAX-Konzerne gestiegen, sondern auch die staatliche Unterstützung hat heftig zugelegt. Allein 2023 flossen mindestens 10,7 Milliarden Euro an die deutschen DAX-Unternehmen. Fast doppelt so viel wie im Vorjahr.

Laut der Studie lagen die Subventionen bis 2018 bei jährlich rund zwei Milliarden Euro. Danach seien die staatlichen Unterstützungen jedes Jahr gestiegen. Insgesamt seien von 2016 bis 2023 rund 35 Milliarden Euro staatlicher Gelder an die größten Börsenkonzerne gegangen. Unabhängig davon, wie viel Gewinn sie gemacht haben.

RWE und E.ON hätten deswegen in der Nettobetrachtung in den vergangenen acht Jahren "keinen Beitrag zu den öffentlichen Kassen geleistet".

Besonders davon profitiert hat der Energiekonzern E.ON mit 9,3 Milliarden Euro seit 2016. Die Gesellschaft erhielt aufgrund des Strompreisbremsegesetz und Erdgas-Wärme-Preisbremsengesetz besonders viele Gelder. Darüber hinaus erhielten sie Investitionszuschüsse.

Auf Platz 2 folgt Volkswagen mit 6,4 Milliarden Euro Subventionen seit 2016. Diese gingen auf Steuervergünstigungen und Förderungen für Forschungen in der Antriebs- und Digitaltechnik. BMW erhielt 2,3 Milliarden, unter anderem für den Bau von neuen Standorten.

Im Vergleich zum Vor-Pandemie-Jahr 2019 stieg die Ausschüttungssumme der DAX-Konzerne im Jahr 2023 um 54 Prozent.

Für das Jahr 2024 erwarten die Experten der DekaBank, dass die DAX-Konzerne 54,6 Milliarden Euro an Dividende ausschütten. Das sind 1,6 Milliarden Euro mehr als 2023 und ein neuer Höchstwert. Bezuschußt mit Steuermilliarden.

Der Ampel geht es mehr um den Wohlstand der großen Unternehmen und seiner Aktionäre als um den Wohlstand der Bevölkerung. Sie subventioniert die maßlosen Gehälter der Konzernvorstände – VW-Vorstandschef Oliver Blume erhält ein Jahresgehalt von zehn Millionen, Bjorn Gulden (Adidas) 9,2 Millionen Euro, Christian Sewing (Deutsche Bank) 9,0 Millionen Euro, Christian Klein (SAP) 8,8 Millionen, Roland Busch (Siemens) 8,5 Millionen Euro -, hat aber kein Geld für die Kindergrundsicherung mit veranschlagten Kosten von 5 Milliarden Euro.

Die Ampel zeigt wieder einmal, dass sie fest an der Seite der Konzerne und Reichen steht!

 

 

 

[1] Tagesschau, 18.6.2024: NATO-Verteidigungsausgaben deutlich gestiegen
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nato-verteidigungsausgaben-106.html

[2] Bundesregierung, 29.7.2024: Diese Waffen und militärische Ausrüstung liefert Deutschland an die Ukraine
https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/krieg-in-der-ukraine/lieferungen-ukraine-2054514

 

Waldliebe als Geschäftsmodell. Gelüftet: Das Geheimnis von Wohllebens Baum-Geheimnis

Do, 25/07/2024 - 16:29

In den Ausführungen „Das Geheime Leben der Bäume“ schreibt Deutschlands bekanntester Förster, Peter Wohlleben, beliebt bei vielen Umwelt- und Naturschutzverbänden, Bäumen menschliche Eigenschaften zu. Da stillen Mutterbäume ihren Nachwuchs, sie kuscheln miteinander, und der Wald soll wieder zu Urwald werden und nur nachrangig zur Holzerzeugung dienen. Kritische Kommentare über diese Denkweise richten sich gegen neue ideologische Begründungen gegen die Wald-Erzeugung von Holz.

Peter Wohlleben ist Deutschlands bekanntester Förster und Autor, weit über Deutschland hinaus seit Erscheinen seines Buches „Das Geheime Leben der Bäume“. Seine Bücher verkauften sich bisher millionenfach und in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Er ist bekannt und beliebt in Talkshows und Medien und hat einen großen Kreis um sich geschart in den Umwelt- und Naturschutzverbänden. Da werden Bäumen menschliche Eigenschaften zugeschrieben, dass Mutterbäume ihren Nachwuchs stillen, dass sie miteinander kuscheln, der Wald wieder zu Urwald oder mindestens zu einem weitgehend dem natürlichen Urwald ähnlicher Naturwald werde und nur nachrangig zur Holzerzeugung dienen soll.


Nun hat sich Wilhelm Bode zu Wort gemeldet, streitbarer Jurist und Forstakademiker, einst Leiter der saarländischen Forstverwaltung und der Obersten
Naturschutzbehörde. Denn „hier werde mit neuer ideologischer Begründung gegen die Wald-Erzeugung von Holz mobilisiert“. Wilhelm Bode ist engagierter Verfechter des auf Stetigkeit von Waldökosystemen in Raum und Zeit aufbauenden Dauerwald-Konzepts von Alfred Möller.
Der hatte das Konzept bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet und stieß damit auf harten, anhaltenden Widerstand konservativer Forstwirtschaft.
Dennoch wird nach dem Konzept erfolgreich gewirtschaftet, zumeist von Privatwaldbetrieben. Bemerkenswert ist, dass Peter Wohlleben (gemeinsam mit Pierre Ibisch) zwar sein neuestes Buch „Waldwissen“ Möller gewidmet hat, aber das Konzept nur bruchstückhaft aufgreift und kein Wort verliert zu damit erfolgreich arbeitenden Betrieben.
Das sei aber an dieser Stelle nur erwähnt.
Zurück zu Bode´s Kritik. In seinem Essay geht es hart zur Sache. Mit Blick auf die Geschäftstätigkeit Wohllebens merkt er an, dass dieser sich hier für „waldliebende Bürger sowie kommunale Waldbesitzer – und gerne auch für die produzierende Wirtschaft – zu saftigen Preisen eine gänzlich neue Marktnische eröffnet habe“.
 Auf den Spuren für den Markterfolg des Bestsellers kommt Bode zu dem Ergebnis, dass es hier „eher unwahrscheinlich ist, dass es sich dabei um einen Zufallserfolg handelte“,
sondern um einen, der „marktstrategisch gezielt konstruiert und angegangen wurde“.
Dafür wird „die romantische Waldliebe der Deutschen angesprochen, indem er den Bäumen Sprache und Gefühle andichtet“.
Diese Zuschreibung menschlicher Eigenschaften gegenüber Bäumen, Tieren oder Naturgewalten, der sogenannte Anthropomorphismus, ist – so auch Bode - weltweit Bestandteil aller großen Religionen und hat breiten Eingang in die Alltagskulturen aller Völker gefunden.

Das dürfte das große Echo auf sein Buch erklären. Mit solchen Zuschreibungen setzt sich eine jüngst veröffentlichte Literaturstudie von 35 führenden europäischen und nordamerikanischen Ökologie- und Waldbauwissenschaftlern auseinander. Deren Ergebnisse teilt Wilhelm Bode und verweist Wohllebens menschliche
Verhaltenszuschreibungen von Bäumen ins Reich von „Fake-News“, Fabeln und Märchen. Die Studie befasst sich mit der Frage, „inwieweit über die Mykorrhizanetzwerke (das
Wurzelnetzwerk der Bäume, der Verf.) ein erheblicher Kohlenstofftransfer („Nahrungstransfer“, der Verf.) von „Mutterbäumen“ auf ihre Nachkommen und nahe
gelegene Sämlinge stattfindet“. Diese Behauptung wurde verneint.
 "Jüngste Übersichten zeigen, dass die Beweise für das „Mutterbaumkonzept“ nicht schlüssig oder gar nicht vorhanden sind“. Trotz dieser Ergebnisse werden aber, da ist sich der Rezensent sicher, die Diskussionen zur Lebensgemeinschaft der Waldbäume und möglichen Interaktionen von gleichen Baumarten untereinander und zwischen unterschiedlichen Baumarten weitergehen.
Pflanzen reagieren auf Änderungen ihrer biotischen und abiotischen Umwelt mit mannigfaltigen physiologischen und morphologischen Anpassungen.
Insgesamt geht es letztlich darum, nüchtern und sachlich – frei von Esoterik - zu erforschen, wie sich Pflanzen im Rahmen von Arterhalt und Konkurrenz behaupten und weiterentwickeln können.
Schlussendlich kommt Wilhelm Bode zu einem harten Urteil über Peter Wohlleben: „Er macht die begründete Kritik an der realexistierenden Forstwirtschaft, die natürlich primär der Holzerzeugung dient und auch in Zukunft dienen muss, in Deutschland unglaubwürdig, ja unmoralisch.
Er hilft mit seinem Vorgehen eher den Gegnern einer, im bestehenden Klimawandel dringend gebotenen, Waldreform.….

Der Einsatz gilt für nutzbare Wälder, die dauerhaft dem Klimawandel standhalten und biologisch effizient das Nutzholz der Zukunft zu erzeugen, da es der beste erneuerbare Rohstoff ist, den wir haben, und der sich biologisch nachhaltig in Dauerwäldern erzeugen lässt“.

 

Literaturhinweis

Wilhelm Bode: Waldliebe als Geschäftsmodell: Gelüftet: Das Geheimnis von Wohllebens Baum-Geheimnis,  Juli, 2024

NATO-Jubiläumsgipfel – stramm auf Kriegskurs

Do, 25/07/2024 - 07:12

Grund zum Jubeln hatten auf dem diesjährigen NATO-Jubiläumsgipfel nur Rüstungskonzerne und Kriegsstrategen.
Schon im Vorfeld erteilte die NATO der ukrainischen Regierung die Erlaubnis, mit westlichen Waffen Ziele in Russland anzugreifen; offensichtlich inclusive russische Frühwarnsysteme.
Ohne jede öffentliche Diskussion hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz dann beim NATO-Gipfel zugestimmt, US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, die auch Moskau erreichen können.
Der Weg der Ukraine in die NATO sei unumkehrbar, wurde im Schlussstatement festgehalten.

 

Nicht nur weitere zig Milliarden wurden der Ukraine zugesagt, auch F16 Kampfflugzeuge und weitreichende Waffensysteme.
Zur Koordinierung des Waffeneinsatzes soll ein neues 700-köpfiges NATO-Kommando in Wiesbaden eingerichtet werden.
Damit werden weitere Eskalationsschritte gemacht, die uns einem Atomkrieg näherbringen.


Keine Mittelstreckenraketen! Eskalationsspirale jetzt beenden und abrüsten!

So lautet die Forderung der Naturwissenschaftlerinnen Initiative (NATWIS Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit) in einer Erklärung:

„Bei ihrem 75. Geburtstag in Washington beschwor die NATO den Geist des Kalten Krieges. Um ihre Existenz zu rechtfertigen und die westliche Hegemonie unter Führung der USA gewaltsam aufrecht zu erhalten, riskieren sie einen Aufrüstungskurs, der die Welt an den Rand des Atomkriegs bringt.

Dazu passt die beim Gipfel von Bundeskanzler Olaf Scholz unterstützte Erklärung vom 10. Juli 2024, ab 2026 in Deutschland Mittelstrecken der USA zu stationieren, die Ziele in Russland treffen können“.

INF-Vertrag wurde entsorgt

Der INF-Vertrag von 1987 enthielt das Verbot, Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km und Abschussvorrichtungen in Europa zu stationieren.
Dieser Vertrag wurde 2019 durch den früheren US-Präsidenten Donald Trump aufgekündigt. Der INF-Vertrag war für die US-Regierung ohnehin ein Hindernis für die Entwicklung und Stationierung eigener Mittelstreckenraketen in verschiedenen Regionen, insbesondere in der Pazifikregion gegen China und in Europa gegen Russland gerichtet.

In einer Analyse der Informationsstelle Militarisierung (IMI) aus Tübingen weist auf das Bedrohungspotential dieser Waffen hin:

„…Drastisch beschrieb Wladimir Putin seine Sichtweise auf diese Waffensysteme in einer Rede zur Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk am 21. Februar 2022 mit den Worten:
„Nachdem die Vereinigten Staaten den Vertrag über Kurz- und Mittelstreckenraketen gebrochen haben, entwickelt das Pentagon bereits offen eine Reihe von bodengestützten Angriffswaffen, darunter ballistische Raketen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 5.500 Kilometern erreichen können. Wenn solche Systeme in der Ukraine eingesetzt werden, können sie Ziele im gesamten europäischen Gebiet Russlands sowie jenseits des Urals treffen. Tomahawk-Marschflugkörper bräuchten weniger als 35 Minuten, um Moskau zu erreichen, 7 bis 8 Minuten für ballistische Raketen aus der Region Charkow und 4 bis 5 Minuten für Hyperschallraketen. Das nennt man, das Messer an der Kehle zu haben. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass sie diese Pläne genauso umsetzen werden, wie sie es in den vergangenen Jahren immer wieder getan haben, indem sie die NATO nach Osten ausdehnen und militärische Infrastruktur und Ausrüstung an die russischen Grenzen verlagern, wobei sie unsere Bedenken, Proteste und Warnungen völlig ignorieren. Nach dem Motto: Entschuldigen Sie, die sind uns wurscht und wir tun, was immer wir wollen, was immer wir für richtig halten…“

Das entschuldigt den russischen Angriff in keiner Weise, aber es zeigt, welcher Stellenwert diesen Waffen in Moskau beigemessen wird. Ob die Systeme nun in der Ukraine oder in Deutschland stationiert werden, dürfte für Russland dabei kaum einen Unterschied machen: Bei Überschallgeschwindigkeit (Wikipedia spricht von bis zu Mach 17, also von rund 21.000km/h) und einer Reichweite von 2.700 bis 3.000 Kilometern wäre die Dark Eagle locker in der Lage, Ziele in Moskau in kurzer Zeit zu erreichen …“

Die Politik der Nato bringt die Welt an den Abgrund eines atomaren Krieges und Deutschland wird, wie schon im Kalten Krieg, zur möglichen Abschussrampe, Zielscheibe und Schlachtfeld eines drohenden Atomkriegs.
Das verantwortungslose Gerede über die Notwendigkeit, Deutschland kriegstüchtig zu machen, ist Teil einer ideologischen Kriegsvorbereitung.

Deutschland muss nicht kriegstüchtig, sondern friedenstauglich werden.

Die Friedensbewegung muss sich lautstark zu Wort melden.

Bei den Aktionen am 6 August, dem Jahrestag des Bombenabwurfes auf Hiroshima und Nagasaki.

Und bei den Aktionen und Demonstrationen rund um den Antikriegstag, dem 1. September.

 

Die innere Zeitenwende. Wie die Liberalen schon heute das Geschäft der AfD betreiben.

Di, 23/07/2024 - 13:41

In einem facettenreichen "Sittengemälde" zeigt der Autor auf,  wie der Rechtsruck aus der Mitte von Gesellschaft und Politik kommt, und wie unter der Maske von Liberalität und "Doppel"Moral über alle Lebensbereiche ein neuer Totalitarismus implementiert wird. Militarisierung treibt die Entdemokratisierung voran, vergiftet die gesellschaftliche Debatte, begründet Macht und Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes und bereitet den Boden für rechte bis rechtsextreme Machtoptionen.

 

"Ob SPD oder Grüne: Die Gesellschaft wird rhetorisch derart nach rechts geschoben, dass die AfD nur frohlocken kann."

Wer mit der ultra-rechten Nethanyahu-Regierung paktiert und zum Völkermord an den Palästinenser:innen schweigt, ist in seiner Doppelmoral unglaubwürdig in Bezug auf den Krieg um die Ukraine und den Protest gegen die AfD.
"Alternative gegen Deutschland" titelte jüngst der Spiegel, mit Bezug auf mutmaßliche Zahlungen, die der AfD-Europa-Spitzenkandidat Maximilian Krah aus China erhalten haben soll. Ein Mitarbeiter Krahs wurde wegen Spionageverdacht für die Volksrepublik verhaftet. Der Spiegel erhob den Vorwurf des "Landesverrats". Mal abgesehen davon, dass ganz allgemein auch Deutschland – nicht zuletzt über seine zahlreichen parteinahen Stiftungen – ausgiebig Akteure im Ausland finanziert und dass seine Geheimdienste selbstverständlich spionieren: Wer als liberaler Antifaschist glaubt, es sei ein besonders cleverer Schachzug, heute den Begriff des "Landesverrats" gegen eine rechtsautoritäre Partei zu wenden, die behauptet, nationale Interessen zu verfolgen, der wird sich morgen wundern, dass er damit diese illiberale und nationalistische Rhetorik wieder in der politischen Kultur der Bundesrepublik etabliert haben wird.

Linke können ohnehin die Uhr danach stellen, wann sich Strafverfolgung mit Landes- oder gar Hochverratsvorwürfen auch und vor allem wieder gegen sie wenden wird. Schon in den kommenden Jahren dürfte jeden dieser Bannstrahl treffen, der auch nur leise Zweifel anmeldet und eine offene demokratische Diskussion darüber einfordert, ob Hochrüstung, Deutschlands Nuklearbewaffnung, die einst allein von postfaschistischen Haudegen wie Franz Josef Strauss, heute aber mit einem frisch, fromm, fröhlich, freien "Ja zur Atombombe" von Ulrike Herrmann bis Joschka Fischer gefordert wird, tatsächlich gute Ideen sind und ob eine neue Blockkonfrontation gegen China und die Entsendung der Fregatten "Bayern" und "Württemberg" ins Südchinesische Meer, damit sie dort – wie einst die Kreuzerdivision vor Kiautschou – "Flagge zeigen" für "unsere Werte und Interessen", wirklich dazu beitragen, den Frieden in der Welt zu sichern und globale Menschheitsprobleme wie die soziale Ungleichheit und die Klimakatastrophe zu bewältigen.

Die am Februar 2022 ohne vorherige parlamentarische, geschweige denn breite gesellschaftliche Debatte von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete "Zeitenwende" – schon der Form nach ein demokratiepolitischer Skandal – ist in der Tat eine Zeitenwende auch dem Inhalt nach. Sie wendet die Zeit, aber nicht in eine goldene Zukunft; sie dreht die Uhr zurück in die düstere deutsche Vergangenheit.

 

Zeitenwende – zurück in die Vergangenheit

Bei der inneren Zeitenwende geht es zurück in eine Zeit der Soldatendenkmäler, damit eine"glückssüchtige Gesellschaft" (Joachim Gauck, damals Bundespräsident) wieder lerne, die im Kampf fürs Vaterland am Hindukusch Gefallenen als Helden zu verehren. Es geht zurück in die Zeit der "Pflichtjahre", mit der dieselben Leute, die im Rahmen der "Agenda 2010" und der Hartz-Gesetze einst Sprengsätze am sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft legten, heute wieder "Gemeinsinn stärken" wollen und vergessen, dass es das "Pflichtjahr" in der deutschen Geschichte schon einmal gab und wann und zu welchem Zweck, nämlich demselben: ideologisch zu kitten, was wirtschafts- und sozialpolitisch zerbrochen wurde.

 

Neue Soldaten braucht das Land

Bei der inneren Zeitenwende geht es weiter um den Wiedereinbruch des Militärischen in die Schulen, wo die Kinder nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) im Sinne eines "unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr" und für "unsere Widerstandsfähigkeit" zusammen mit Soldaten der Armee den Kriegsfall üben sollen und wo Jugendoffiziere der Bundeswehr als "Karriereberaterinnen und Karriereberater" auf die Schüler losgelassen werden, um mit den aktuellen Rekordzahlen an Minderjährigen im Kriegsdienst die allgemeinen Rekrutierungsprobleme der Truppe zu lösen.

Aber klar, in Zeiten angespannter Arbeitsmärkte reicht die reine Wehrpflicht aus ökonomischen Gründen, die die Amerikaner "economic draft" nennen, und die an die Stelle der "Bürger in Uniform" die "Prekarier in Uniform" und eine "Unterschichtenarmee" (Michael Wolffsohn) setzte, in der Ostdeutschland zwar keine Generäle, aber nach dem Motto "Arbeitslos oder Afghanistan" fast zwei Drittel der Soldaten im Kriegseinsatz stellte, nicht mehr aus, um bis 2031 das erklärte Ziel eines 203.000 Soldaten starken Heeres zu erreichen.

 Auch die angeworbenen EU-Ausländer sind bislang ausgeblieben, weil die südeuropäische Jugendarbeitslosigkeit eben nicht mehr 50 Prozent oder mehr beträgt wie noch zu Eurokrisenzeiten. Hinzu kommt die Abbrecherquote bei der Grundausbildung. Sie ist eklatant hoch, weil die Realität beim Kommiss nun einmal herzlich wenig mit dem Bild zu tun hat, das die jährlich 35 Millionen verschlingende Armeewerbung an Straßenbahnen, Bushaltestellen und auf YouTube verspricht: Kameradschaft, Rumschrauben an geilen PS-strotzenden Karren, Krieg als Gaming (bloß ohne Resetknopf), Weltreisen, Weltrettung, Lebenssinn.

Neue Soldaten jedoch braucht das Land angesichts der Rekordzahlen nachträglicher Verweigerungen bei Reservisten, deren Lust, sich fürs Vaterland zusammenschießen zu lassen, offenkundig gering ist – untertroffen nur noch von den Anhängern der Grünen, die Umfrage auf Umfrage zwar stabil Waffen und Kriegsdienst für Ukrainer und andere fordern, aber von denen nach einer Forsa-Umfrage nur 9 Prozent bereit wären, Deutschland auch persönlich mit der Waffe zu verteidigen.

Nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sollen Schulkinder im Sinne eines "unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr" und für "unsere Widerstandsfähigkeit" zusammen mit Soldaten der Armee den Kriegsfall üben.

Die innere Zeitenwende bringt indes das Militärische nicht nur in die Schulen zurück, sondern auch an die Universitäten, wo Regierung und konservative Opposition unter dem Jubel linksliberaler Medien gegen das verpflichtende Friedensgebot im Grundgesetz verstoßen und die Zivilklauseln aushebeln wollen, die es als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg bislang verboten haben, Forschung und Wissenschaft in den Dienst der Rüstungskonzerne zu stellen. In Nordrhein-Westfalen ist das mit den Stimmen von CDU und FDP längst geschehen.

Innere Zeitenwende meint auch die Rückkehr der Unterscheidung von "Gut" (wir, na klar!) und "Böse" (die anderen, was sonst?), von (westlicher) "Zivilisation" und (östlicher) "Barbarei", bloß das die Grenze vom "Ostproblem" (Walther Harich) weiter nach Osten verschoben wurde und die Barbarei nicht schon an der Grenze zu Polen beginnt. Es ist die Rückkehr der "Erbfeinde" (einst Frankreich, heute Russland und China) und die Rückkehr der "Bürde des weißen Mannes" (Rudyard Kipling) zur Zivilisierung der Barbaren, die wieder am deutschen Wesen genesen sollen und sich – so jüngst Reinhard Bütikofer, außenpolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament, auf PHOENIX – sich "einfach von uns so verwandeln lassen" müssen, "dass am Ende dann etwas rauskommt, was einfach den Vorstellungen entspricht, die man von uns über das Land und darüber" gehabt hat, "wie die Welt insgesamt organisiert sein soll."

 

Die innere Zeitenwende ist, wenn ein autoritärer Liberalismus, anstatt den Dialog zu suchen, seine Kritiker pauschal unter Verfassungsfeindverdacht stellt.

Die innere Zeitenwende ist auch die Rückkehr des ostentativen Unwillens, in geschichtlichen Kontexten und Kausalzusammenhängen zu denken und dabei auch die Perspektive de "Feinde" einzunehmen (um, wenn schon nicht Völkerverständigung zu befördern, wenigstens der Kriegseskalation vorzubeugen); ja, es ist die Rückkehr der medialen Ächtung bis hin zur Unterstrafestellung des bloßen Versuchs, es zu tun.

Innere Zeitenwende bedeutet die Rückkehr der "vaterlandslosen Gesellen", die schon heute wieder als "fünfte Kolonne" des Feindes bezeichnet und vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit illiberaler Justiz und Polizeigewalt abgehalten werden, während für die Feinde von außen autoritäre Einreise- und Sprechverbote erteilt werden, so wie dies jüngst der renommierten Philosophin Nancy Fraser und dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis widerfuhr.

Innere Zeitenwende ist, wenn eine Wissenschaftsministerin, sich auf einen Schmähartikel aus der Bild-Zeitung beziehend, massivste Polizeigewalt gegen friedlich protestierende Studentinnen und Studenten rechtfertigt. Und wenn ein autoritärer Liberalismus, anstatt den Dialog zu suchen, seine Kritiker und die, die bloß ihre Bürgerrechte wahrnehmen, pauschal unter Verfassungsfeindverdacht stellt.

Innere Zeitenwende ist, wenn der Bundestag, wie vor zwei Jahren im Rahmen der Verschärfung von Paragraf 130 StGB und der "Holodomor"- Resolution geschehen, über Nacht Gesetze erlässt, die in erheblichem Maße die Freiheit und den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung einschränken und durch Kriminalisierung Gesinnungskonformismus produzieren, wo einst Historiker ergebnisoffen debattierten.

Längst gelten wieder Berufsverbote für die "inneren Feinde", die man durch Gesinnungsprüfungen vom öffentlichen Dienst fernhält, wie beim neuen "Radikalenerlass" in Brandenburg.

 

Die Empörung über die "Remigrations"-Träume der AfD wurde umso unglaubwürdiger dadurch, dass nur wenige Wochen zuvor die Ampelkoalition das europäische Asylrecht geschliffen hat.

Migranten sollen, sofern sie sich nicht zur "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" und Staatsräson einer bedingungslosen Unterstützung des israelischen Staates bekennen, egal, welche rechtsextremen Kräfte ihn gerade regieren und welche KI-gesteuerten Kriegsverbrechen er gerade begeht, nicht nur keine Staatsbürgerschaft erhalten, wie dies der Bundestag Anfang des Jahres mit den Stimmen der Ampel beschlossen hat, sondern man will sie ihnen sogar bis zu zehn Jahre rückwirkend entziehen. Dies forderten u.a. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und die Sozialdemokraten gegenüber Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft.

Dass dieselben Akteure dann wenig später – nach Bekanntwerden der sogenannten "Wannseekonferenz 2.0" der AfD und des rechtsextremen Identitären-Chefs Martin Sellner – vor den Vertreibungsplänen von Rechtsaußen warnten und skandalisierten, dass der AfD-Bundestagsabgeordnete Gerrit Huy auf dem Treffen für die doppelte Staatsbürgerschaft plädierte, um so Menschen mit Migrationshintergrund den deutschen Pass leichter entziehen zu können, bekam dadurch ein Geschmäckle.

Jedenfalls ergaben sich Glaubwürdigkeitsprobleme, wenn dieselben, die diese Pläne als rote Haltelinie bezeichnen, weil der Entzug der Staatsbürgerschaft schließlich das Mittel der Nazis gewesen sei, ihre Gegner zu vertreiben, nun selber damit liebäugeln. Und die Empörung über die "Remigrations"-Träume der AfD, die schon bei Björn Höckes Buch – ohne Frage – "Terror mit Ankündigung" gewesen sind, wurde umso unglaubwürdiger dadurch, dass nur wenige Wochen zuvor die Ampelkoalition das europäische Asylrecht geschliffen und Scholz im Rahmen der vom Spiegel begrüßten "neuen Härte in der Flüchtlingspolitik" "Abschiebungen im großen Stil" gefordert hatte. (siehe kommunisten.de, 21.12.2023: EU einig zum Abbau der Menschenrechte von Geflüchteten)

 

Rückkehr einer Agitation und Propaganda in staatlichen und privaten Medien, die Feindbilder, Siegesgewissheit und Durchhalteparolen verbreiten

Die innere Zeitenwende beinhaltet weiter, auch weil die Bevölkerung ihren Eliten über weite Strecken der Nachkriegsgeschichte nicht in Aufrüstung und Kriegseinsätze zu folgen bereit war, die Rückkehr einer Agitation und Propaganda in staatlichen und privaten Medien, die – Feindbilder, Siegesgewissheit und Durchhalteparolen verbreitend – wenig mit vierter Gewalt und viel mit Volkserziehung zu tun hat.

Dazu gehört die Schaffung eines inneren Kollektivs mit nationalen Mythen und einer "Leitkultur", die ein in sozialer Ungleichheit auseinanderlaufendes Land zusammenhalten sollen, eine allgemeine Renationalisierung und Militarisierung der Sprache und Beförderung emotionaler Verhärtung.

Innere Zeitenwende ist, wenn etwa die auflagenstärkste Zeitung in Deutschland den größten deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall – Aktienkurssteigerung seit dem Ukrainekrieg: +523 % – die Rückkehr zur Wehrpflicht fordern lässt, weil "die Zeitenwende (…) eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe" sei und "freiheitliche Gesellschaften (…) in der Lage dazu sein" müssten, "für ihre Werte einzustehen".

Bleibt es bei diesem Tempo, dürfte im Rahmen von Initiativen, wie dem von CDU und CSU geforderten "Bundesprogramms für Patriotismus" unweigerlich auch der "Sedan-Tag" fröhliche Urständ feiern, mit dem man im Kaiserreich den Sieg über den damaligen Erbfeind feierte. Schon jetzt dürften in manchen Planstellen Überlegungen angestellt werden, wie ein – an sich nie wahrscheinlicher und heute immer unwahrscheinlicher gewordener – militärischer Sieg über Russland angemessen in der kollektiven Erinnerung verankert werden könnte.

 

Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kehren in Worten und Taten des "liberalen" Bürgertums zurück, dafür braucht es gar keine Nazis.

Die vielen Artikel aus bürgerlich-liberalen Schreibstuben, die im Geiste eines "ohnmächtigen" und "hilflosen Antifaschismus" vor der AfD warnen oder gegen die rechtsautoritären Nationalisten den Vorwurf des "Landesverrats" erheben, merken dabei augenscheinlich nicht, dass jeder ihrer mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger geschriebene Artikel den Rechtsextremen mindestens ein paar Hundert neue Wähler zutreibt, weil deren sich ohnmächtig fühlenden Wähler die Angst der Herrschenden spüren und zum Glauben verleitet sind, durch ein Kreuz bei der AfD sich selbst zu ermächtigen und den verhassten Eliten eins auszuwischen.

Aber während sie verkennen, dass sie – mit Brecht gesprochen – doch eigentlich nur wie die Kälber sind, die der Trommel hinterhertrotten, für die sie das Fell selber liefern, verkennen die Liberalen vor allem eines: Es braucht für die Rückkehr der Gespenster der dunklen Vergangenheit keine Weidels und Höckes. Sie selbst, die Liberalen, sind es, die sie beschwören.

 

Die "innere Zeitwende" rehabilitiert in einer Weise Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dass es dafür einer AfD gar nicht bedarf.

Zurück ist die "nationale Sicherheit", in deren Namen internationales (Investitions- und Handels-)Recht und das Völkerrecht, auf das man sich sonst gelegentlich beruft, gebrochen wird. Wieder da sind "Staatsräson", "Autarkie", die heute "De- Risking" heißt, Hochrüstung und die Aufforderung zur "Kriegstüchtigkeit", denn sonst steht, na klar, "in fünf bis acht Jahren" der Russe bei dir im Keller. Wieder wird vor "Kriegsmüdigkeit" im Volk gewarnt, finden öffentliche Gelöbnisse und Militärparaden vor Landesparlamenten statt und markiert eine "neue Lust auf Helden" die Rückkehr des "heroischen Denkens", das über den – an Verdun und den Ersten Weltkrieg gemahnenden und nicht zu gewinnenden – Stellungs- und Abnutzungskrieg in der Ukraine sagt: "das Gemetzel ist notwendig".

Entstanden ist ein neuer Gewaltkult, der – vollkommen geschichtsvergessen – nach innen nie zuvor gesehene Ausmaße der Gewalt von Jugendlichen mit Silvesterböllern beklagt, während er nach außen selbst nur noch die Sprache der Gewalt vorlebt und ausschließlich die Logik des Militärischen kennt.

Auf einmal wieder da ist eine politische Kultur des "Wer nicht hören will, muss fühlen", deren Losung "Waffen, Waffen und nochmals Waffen" ist und in der liberale Journalisten und ein grüner Wirtschaftsminister wie einst die Pimpfe vom Deutschen Jungvolk für die technischen Daten der allerneuesten Waffen-Systeme der Rüstungskonzerne schwärmen, um dann anschließend wie Ego Shooter vor der Mattscheibe Kill Counts gegen die als "Orks" entmenschlichten Feindsoldaten zu feiern und sich am Töten von Russen aus Weltrekordentfernung zu weiden. Kurz: das alles kehrt in Worten und Taten des "liberalen" Bürgertums zurück, dafür braucht es gar keine Nazis.

 

Es bedurfte keiner Faschisten für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus

Es braucht sie nicht, um "Veteranentag" und Heldendenkmäler für Gefallene einzuführen oder für die Forderung nach "Wehrkunde im Schulunterricht". Es braucht sie nicht, um Holocaust-Mittäter wie Stepan Bandera zu Freiheitskämpfern umzudeklarieren.

Und es bedurfte auch keiner Faschisten mit Trademark und Copyright für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus und die monströse Holocaustrelativierung, die Wladimir Putin mit Hitler gleichsetzt und den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine mit Hitlerdeutschlands Vernichtungskrieg im Osten, dessen Ziel im Rahmen des "Generalplan Ost" bekanntlich die Versklavung der Ostvölker und Vernichtung ihrer gesamten gesellschaftlichen Elite – wenigstens 30 Millionen Menschen – durch systematische Massaker an Unbewaffneten ("Kommissarbefehl") und systematisches Verhungernlassen (wie während der Leningrad-Blockade mit mehr als einer Million Ziviltoten) war und aus dem sich auch der Plan zur systematischen Ermordung des europäischen Judentums ergab.

Während Liberale es lieben, auf X (ehemals Twitter) vom "Putler" zu sprechen, war es mit Berthold Kohler ein FAZ-Herausgeber, der sogar noch vor Bekanntwerden des russischen Kriegsverbrechens von Butscha den Begriff "Vernichtungskrieg" für den Ukrainekrieg nutzte, selbstverständlich in vollem Bewusstsein, dass er damit Russlands Krieg gegen die Ukraine, den nach UN-Angaben in mehr als zwei Jahren mindestens 10.810 Zivilisten mit dem Leben bezahlt haben, gleichsetzt mit dem "Russlandfeldzug" der Nazis, die in unter vier Jahren 27 Millionen Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger aus der Ukraine, Belarus und Russland töteten, etwa die Hälfte davon Zivilistinnen und Zivilisten.

Dabei war es das Europäische Parlament, das vor vier Jahren mit den Stimmen der Liberalen und im Geist der NPD und des Geschichtsrevisionismus von Ernst Nolte der Sowjetunion die (Mit-)Schuld für den Zweiten Weltkrieg gab, während die taz und die "Grüne Jugend" Höckes "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gleich in Eigenregie vollzogen, als die Berliner Tageszeitung unter dem Titel "Putin ist der neue Stalin" ihrer grünalternativen Leserschaft erklärte, "die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges" sei, "dass Stalin diesen Krieg geplant hatte (…), lange bevor Hitler an die Macht kam", und die "Grüne Jugend" gleich noch das "Unternehmen Barbarossa" zum Höhepunkt der "Siedlungseroberung" eines russischen "Kolonialstaats" erklärte und damit den Nazis und ihrer für sich reklamierten "europäischen Sendung" zur Befreiung der "Ostvölker" die rückwirkende Legitimation erteilte.

 

Es sind Liberale, die jetzt schon für die Zeit nach dem Ukrainekrieg rüsten und fordern, der "Pazifismus darf nicht wieder auferstehen".

Im Übrigen bedarf es auch für einen antifeministischen Rollback keiner rechtsextremen Incel- und "Männerbewegung". Als Björn Höcke vor sieben Jahren bei Pegida in Dresden eine unverweichlichte "Männlichkeit" als Voraussetzung von "Wehrhaftigkeit" forderte, wurde er als ewiggestrig gescholten.

Im Zuge der "inneren Zeitenwende" kommen dieselben Forderungen aus der sogenannten bürgerlichen Mitte, wenn zum Beispiel der Literaturwissenschaftler, SZ-Redakteur und Theodor-Wolff-Preisträger Tobias Haberl ("Der gekränkte Mann") im Spiegel aufklärte, der "deutsche Großstadtmann", der "kochen kann", sei mit seinen "gepunkteten Socken" "zu weich für die neue Wirklichkeit", weswegen ein Zurück zur "nötigen Härte" und der "Streitkultur seiner Väter" fällig sei, denen – aber ja nur zu unserem Besten! – regelmäßig die Hand ausrutschte, weil sie eben noch wussten, dass sich "nicht jedes Problem wegdiskutieren lässt".

Es sind Liberale, für die es zur neuen Normalität gehört, ihre Gegner wie Kritiker von (einseitigen) Waffenlieferungen als "Lumpenpazifisten", "gewissenlose" "Unterwerfungspazifisten", "Friedensschwurbler", "Putins willige Helfer" oder gleich als "Totengräberinnen der Ukraine" und "Secondhand-Kriegsverbrecher" zu bezeichnen.

Es sind Liberale, die jetzt schon für die Zeit nach dem Ukrainekrieg rüsten und fordern, der "Pazifismus darf nicht wieder auferstehen".

Es war die liberale Zeit, die am 80. Jahrestag der "Wollt ihr den totalen Krieg?"-Rede von Joseph Goebbels das Interview einer linken Liberalen, Eva Illouz, betitelte mit: "Ich wünsche mir einen totalen Sieg", um diese dann unter dem Jubel des tagaus tagein die Trommel rührenden Perlentauchers, ausführen zu lassen, dass sie sich diesen "totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine" wünsche, "weil die Russen täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, die nicht ungesühnt bleiben dürfen" und "weil Putin die ideellen Werte Europas bedroht."

Kurz, für all das braucht es keine extreme Rechte. Dieselben Leute, die heute die Konservativen davor warnen, als Lehre aus der Geschichte von 1933 ja nicht die "Brandmauer" einzureißen, während sie, wie Ursula von der Leyen, in Europa die "Post-Faschistin" Meloni küssen, wo sie sie treffen, bemerken gar nicht den Flammenwerfer in der eigenen Hand, mit dem sie das Land längst angezündet haben.

 

Insbesondere der "linke" Flügel des Bürgertums legt sich in Sachen innere Zeitenwende besonders ins Zeug

Dabei muss auffallen, dass es eben nicht nur ewiggestrige Konservative von der "Stahlhelm-Fraktion" sind, sondern gerade der "linke" Flügel des Bürgertums, der sich in Sachen innere Zeitenwende besonders ins Zeug legt.

Sicher, es war der CDU/CSU-Außenminister im Wartestand, Roderich Kiesewetter, der vor wenigen Wochen forderte, dass der "Krieg nach Russland getragen werden" müsse und man "alles tun" sollte, dort nicht nur "russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere" oder "Ölraffinerien", sondern auch "Ministerien" "zu zerstören". Aber der liberale Extremismus, der sich dadurch auszeichnet, dass er keine Rücksicht auf reale Gegebenheiten, Risiken und realistische Ziele nimmt, sondern in seinem auf selbstgerechtem Moralismus fußenden Fanatismus gegen den "Totalitarismus" selber totalitäre Züge an den Tag legt und keine Mittelbeschränkung zur Erreichung seiner Ziele erkennen lässt, hat seine Ursprünge letztlich in einem bis heute ungebrochenen Avantgardismus der Ex-Maoisten in der Partei Die Grünen.

 "Kriegstüchtigkeit" wiederum forderte ein sozialdemokratischer "Verteidigungsminister". Bei den Forderungen nach pauschal weiteren 100, 200, 300 Milliarden Euro für die Bundeswehr bei gleichzeitigen Sozialkürzungen, versteht sich, war Roderich Kiesewetter bloß das Echo der SPD-Politiker Scholz, Eva Högl, Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, und Pistorius.

Vor "Kriegsmüdigkeit" wiederum warnte eine grüne Außenministerin, die sich zu Karneval gerne als "Leopard"-Panzer verkleidet hätte und sich im Ergebnis eines tief blicken lassenden Freud’schen Versprechers längst "im Krieg mit Russland" sieht.

Es war der grüne Wirtschaftsminister, der bei Maybrit Illner über die Panzerhaubitze 2000 ins Schwärmen geriet: "Die kann richtig was!".

Es war die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie- Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die auf die Frage der "heute-Show", ob sie denn gedient habe, antwortete, sie sei "gut für den Volkssturm".

 

Das linksliberale Bürgertum korrigiert heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung

Und die Forderung nach "Waffen, Waffen und nochmals Waffen" wiederum stammte ebenfalls von einem grünen Bundespolitiker, in diesem Fall Anton Hofreiter, der auch systematisches Aushungern wieder zum Prinzip deutscher Machtpolitik machen will. Als Beispiel für die von ihm markig geforderte Außenpolitik, die – im Geist von "Blut und Eisen" und "Macht ist das größte Aphrodisiakum" – endlich wieder "mit dem Colt auf dem Tisch verhandel(t)", schlug er im Dezember 2022 im Interview mit der "Berliner Zeitung" vor, mit der Kornkammer Ukraine am Wickel zukünftig 1,4 Milliarden Chinesen – denn womöglich "wagt" es mal wieder einer von ihnen, uns Deutsche "scheel anzusehen"! – offen den Hungertod anzudrohen: "Wenn uns ein Land Seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: 'Was wollt ihr eigentlich essen?‘"

 

Es sollte also auch nicht verwundern, dass es das linksliberale Bürgertum ist, das heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung korrigiert und durch symbolische Gelübde seine Loyalität zum Vaterland beweist, als wäre es noch einmal August 1914. Die Liste derjenigen, die es für nötig hielten, symbolisch ihre Wehrdienstverweigerung zurückzuziehen und den Fahneneid auf die Nation in Waffen zu schwören, ist lang. Sie reicht von Scholz und dem "grünalternativen" Wirtschaftsminister Robert Habeck über gealterte Intellektuelle, Journalisten und Schriftsteller wie Ralf Bönt ("Das entehrte Geschlecht"), Stern-Redakteur Thomas Krause und den taz-Redakteur Tobias Rapp bis zu anderen Personen des öffentlichen Lebens wie dem evangelischen Bischof Ernst-Wilhelm Gohl, dem Komiker Wigald Boning und dem "ewigen Hofnarr" Campino von der bekannten Schlagerband "Die Toten Hosen".

Vor diesem Hintergrund war es auch nur folgerichtig, dass Rapp als ehemaliger Redakteur und bis heute Mitherausgeber der "linksradikalen" Jungle World jüngst im Spiegel auch den "Veteranentag" begrüßte als einen "großen Schritt weg von alten Lebenslügen": "Eine Gesellschaft" könne nun "sagen: Wir können die Last nicht von euren Schultern nehmen, die es heißt, gekämpft und möglicherweise getötet zu haben. Aber wir können euch einmal im Jahr eine Bühne geben und an diese Last erinnern. Es war nicht sinnlos."

 

Theodor W. Adorno: weniger Angst vor der extremen Rechten als vor der rechten Radikalisierung der "Mitte"

Es war Theodor W. Adorno, der einmal schrieb, er habe weniger Angst vor der extremen Rechten als vor der rechten Radikalisierung der "Mitte", vor der Rückkehr des Nationalistischen, Autoritären und Faschistischen in der Sprache der Demokratie.

Wer heute glaubt, die Rechte am besten mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können, von der Übernahme ihrer Migrationspolitik, ihres Kulturkampfes und ihrer Begriffe und Politikmittel aus dem "Zeitalter der Katastrophen" (Eric Hobsbawm), der betreibt ihr eigentliches Geschäft.

Kurzfristig mögen die Umfragewerte der AfD in Folge der Skandalisierung der Machenschaften ihres Spitzenkandidaten für die Europawahl heruntergehen. Langfristig mag man sich in der AfD zurücklehnen, weil man weiß: "Rechts wirkt". Das Land rast mit atemberaubendem Tempo in eine rechte Vergangenheit; aber im Führerstand stehen nicht Björn Höcke und Maximilian Krah, sondern die Liberalen selbst.

 

 

 

„Unnötig Angst vor dem Atomtod“

Di, 23/07/2024 - 06:09

Mit ersten Protesten aus der Bevölkerung und denunziatorischen Tiraden gegen Kritiker beginnt der neue Konflikt um die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland.
Experten warnen, die Stationierung könne die atomare Aufrüstung anheizen und verstärke die Gefahr eines Atomkriegs.

Die Bundesregierung hatte am Rande des NATO-Jubiläumsgipfels eine entsprechende Stationierungsvereinbarung mit der US-Administration unterzeichnet; sie sieht vor, bis 2026 US-Marschflugkörper des Typs Tomahawk, SM-6-Lenkraketen und Hyperschallraketen des Typs Dark Eagle in Deutschland aufzustellen. Mit den Waffen können nicht nur Sankt Petersburg und Moskau erreicht werden. Es ist auch möglich, zentrale Elemente der russischen Nuklearstreitkräfte auszuschalten – beispielsweise das Frühwarnsystem, das kürzlich die Ukraine attackierte. Experten warnen, Moskau könne deshalb auf die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland „mit Änderungen seiner Nukleardoktrin“ antworten; im Kriegsfall sei sogar ein „präemptiver“ Atomangriff auf die Raketenstellungen denkbar.
Außenministerin Annalena Baerbock nennt Protest gegen die Raketenstationierung „verantwortungslos“. In einer Zeitschrift der Evangelischen Kirche heißt es, „Desinformationsschleudern“ schürten „unnötig Angst vor dem Atomtod“.

Der Bruch des INF-Vertrags

Die Bundesregierung hat in einem Schreiben an die Bundestagsausschüsse für Äußeres und für Verteidigung ihre Entscheidung, die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen auf deutschem Territorium zuzulassen, mit der Behauptung begründet, Russland habe – zunächst unter Bruch des INF-Vertrags – „bodengestützte Mittelstreckensysteme entwickelt“ und sich trotz mehrfacher Aufforderung der westlichen Staaten geweigert, das zu unterlassen.[1] Die Behauptung verkürzt die reale Entwicklung sinnentstellend. So hat Washington, bevor es am 1. Februar 2019 den INF-Vertrag kündigte, nie Beweise dafür vorgelegt, dass Moskau tatsächlich an der Entwicklung von Mittelstreckenwaffen arbeite.[2] Es hat aber eingeräumt, seinerseits Ende 2017 die Entwicklung solcher Waffen gestartet zu haben. Recherchen der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), die im Jahr 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, belegen, dass die USA spätestens im Oktober 2018 Aufträge in Milliardenhöhe für Entwicklung und Bau neuer Raketen vergaben.[3] Ziel war es, Mittelstreckenwaffen in der Asien-Pazifik-Region zu stationieren – mit Angriffsziel China. Letzteres hat Washington kürzlich auf den Philippinen begonnen, allerdings vorläufig nur für einige Monate (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Eine dauerhafte dortige Stationierung schieben die USA noch hinaus.

Erhöhte Atomkriegsgefahr

Anders als in der Asien-Pazifik-Region will Washington Mittelstreckenwaffen schon 2026 dauerhaft in Deutschland stationieren.
Es handelt sich um Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6-Lenkraketen und Hyperschallraketen des Typs Dark Eagle. Die Tomahawk und die Dark Eagle können nicht nur Sankt Petersburg, sondern auch Moskau erreichen. Besonders im Fall der Dark Eagle erhöht dies wegen der massiv verkürzten Vorwarnzeiten – und weil die Hyperschallrakete, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) festhält, ohnehin „kaum zu stoppen“ ist [5] – die Spannungen erheblich. Dies gilt umso mehr, als Russland, wie es in einem aktuellen Fachbeitrag heißt, in Betracht ziehen muss, dass im Kriegsfall die Dark Eagle zentrale Elemente seiner Nuklearstreitkräfte zerstören könnte, etwa Radaranlagen [6]; einen Testlauf für einen Angriff auf das russische Frühwarnsystem gegen Nuklearwaffen haben erst kürzlich die ukrainischen Streitkräfte unternommen (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Denkbar sei deshalb, heißt es in dem Fachbeitrag weiter, dass Moskau auf die Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland „mit Änderungen seiner Nukleardoktrin“ antworte. Sollte Russland zudem zu der Auffassung gelangen, es könne seine Nuklearstreitkräfte nicht verlässlich gegen die Dark Eagle verteidigen, seien im Kriegsfall sogar „präemptive“ Atomangriffe auf deren Stellungen möglich.[8]

Anders als 1979

Mit Blick auf die dramatischen Gefahren werden inzwischen erste Proteste laut.
So forderte etwa am vergangenen Freitag eine Kundgebung in Potsdam eine umgehende Rücknahme des Vorhabens, US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren.[9] Am Montag äußerte der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, als erster – und bislang einziger – Politiker einer der drei Berliner Regierungsparteien, man dürfe „die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden“.[10] Angesichts der äußerst kurzen Vorwarnzeit der Raketen sei „die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ... beträchtlich“, warnte Mützenich; dabei besitze die NATO bereits ohne die Mittelstreckenwaffen „eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit“. „Mir erschließt sich auch nicht“, fuhr Mützenich fort, „warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll“. Zu letzterem Aspekt hieß es bereits in dem erwähnten Fachbeitrag, die Tatsache, dass eine Stationierung ausschließlich in Deutschland geplant sei, unterscheide die aktuelle Maßnahme vom NATO-Doppelbeschluss im Jahr 1979: Damals habe Bundeskanzler Helmut Schmidt „noch darauf hingewirkt, eine derartige Singularisierung unbedingt zu vermeiden“.[11] Zudem sei die damalige Maßnahme „mit einem Angebot zur Rüstungskontrolle verbunden“ gewesen. Heute hingegen sei dies nicht der Fall.

„Verantwortungslos, naiv“

Während Beobachter warnen, „keinesfalls“ dürfe „der Eindruck entstehen“, die Bevölkerung werde „ohne Risikoabwägung vor vollendete Tatsachen gestellt“ [12], attackieren Politiker sowie Militärexperten jede Stellungnahme gegen die Stationierung der Mittelstreckenwaffen auf das Schärfste.
„Wir“ müssten „uns und unsere baltischen Partner schützen, auch durch verstärkte Abschreckung und zusätzliche Abstandswaffen“, behauptete Außenministerin Annalena Baerbock und erhob pauschal gravierende Vorwürfe gegen Kritiker:
„Alles andere wäre nicht nur verantwortungslos, sondern auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml“.[13]

Weshalb es „verantwortungslos“ sein soll, Einwände gegen die Stationierung von Waffen zu erheben, die nach Einschätzung von Experten die Atomkriegsgefahr erhöhen, erläuterte die Ministerin, deren Partei einst der Friedensbewegung nahestand, nicht.

„Desinformationsschleudern“

Zu Baerbocks Partei hat sich vergangene Woche Frank Sauer geäußert, ein Privatdozent an der Münchener Universität der Bundeswehr.
„Bei der grünen Basis“ gebe es „schon seit langem ein Umdenken“, hielt Sauer fest:
„Ein Pazifismus im Stile der Bonner Republik wirkt heute für viele ... aus der Zeit gefallen.“[14]
Unabhängig davon, ob er „bei der Böll-Stiftung in Berlin oder bei einem Lokalpolitiker [der Grünen, d. Red.] in Bayern zu Gast“ sei: „Die meisten nehmen die Bedrohung durch Putin als gefährlicher wahr als eine westliche Aufrüstung.“
Jegliche Kritik an der Stationierung der Mittelstreckenwaffen denunziert Sauer, indem er erklärt, „das Bündnis Sahra Wagenknecht und die AfD“ schürten „falsche Ängste“:
Beide seien nur „Desinformationsschleudern“ und wollten „den Menschen jetzt aus innenpolitischen Motiven unnötig Angst vor dem Atomtod einreden“.[15]
Sauers Aussage ist über ein Interview mit Chrismon an die Öffentlichkeit getragen worden, der Zeitschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

 

Mehr zum Thema: Moskau in Schussweite.

[1] Thomas Wiegold: Dokumentation: die – nun doch anlaufende? – Debatte über US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. augengeradeaus.net 20.07.2024.

[2] Till Ganswindt: Wer ist für den Bruch des INF-Abrüstungsvertrages zu Mittel- und Langstreckenraketen verantwortlich? mdr.de 16.07.2024.

[3] S. dazu Abschied vom INF-Vertrag (III).

[4] S. dazu moskau-in-schussweite

[5] Jonas Schneider, Torben Arnold: Gewichtig und richtig: weitreichende US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. SWP-Aktuell 2024/A 36. 18.07.2024.

[6] Alexander Graef, Tim Thies, Lukas Mengelkamp: Alles nur Routine? ipg-journal.de 16.07.2024.

[7] S. dazu Die Erweiterung des Schlachtfelds.

[8] Alexander Graef, Tim Thies, Lukas Mengelkamp: Alles nur Routine? ipg-journal.de 16.07.2024.

[9] Matthias Krauß: Keine Atomwaffen für Brandenburg. nd-aktuell.de 19.07.2024.

[10] Thomas Wiegold: Dokumentation: die – nun doch anlaufende? – Debatte über US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. augengeradeaus.net 20.07.2024.

[11], [12] Alexander Graef, Tim Thies, Lukas Mengelkamp: Alles nur Routine? ipg-journal.de 16.07.2024.

[13] „Alles andere wäre naiv“. tagesschau.de 21.07.2024.

[14], [15] Constantin Lummitsch: „Sahra Wagenknecht und die AfD schüren falsche Ängste“. chrismon.de 17.07.2024.

 

 

Chinas politische Signale und Programmatik: Modernisierung von Wirtschaft und Staat, Reformvorhaben, Wirtschaftsstabilität

Mo, 22/07/2024 - 08:38

Das Ergebnis der Beratungen der 3. Plenartagung des Zentralkomitees der führenden Kommunistischen Partei bilden neben der Halbjahres-Bilanz 2024 die Grundlage für den weiteren wirtschaftspolitischen Weg in China.

Gliederung der Ausführungen

  1. Die Zielsetzung der 3. Plenartagung
  2. Hohe Erwartungen
  3. Die Halbjahres-Bilanz der chinesischen Wirtschaft
  4. Höhepunkte des Wachstums – und seine Lücken
  5. Communique der 3. Plenartagung. Die Rahmenvorgaben für Modernisierung, Reformen und weitere Öffnung
  6. Ein Zwischenfazit

 

  1. Die Zielsetzung der 3. Plenartagung

Die 3. Plenartagung der führenden Gremien der politischen Führung Chinas ist eine der wichtigsten Sitzungen des Landes für Entscheidungen und politische Richtungsweisungen. Sie stand in diesem Jahr ganz im Zeichen von Reformen und der Modernisierung von Wirtschaft und Staat.
Reformen? Wie passen Reformen zu einem kommunistischen Staat, der sich unbeeindruckt von den Versuchen der westlichen politisch-militärischen Machtzirkeln dagegen verwahrt, den seit 1949 konzipierten Weg des Aufbaus eines sozialistischen Landes aufzugeben und konsequent eine sozialistische Gesellschafts-Entwicklung chinesischer Prägung anzugehen?
In der Tat, die chinesische Auslegung von Reformen,  die auf der 3. Plenartagung 1978  unter Deng Xiaoping begannen, belegen  einen entscheidenden Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung des sozialistischen  Landes. Diese Reformen führten China auf einen Kurs der wirtschaftlichen Öffnung und Reform, der eine rasante Entwicklung ermöglichte. Die wichtigsten Aspekte dieser Reformen umfassten:

  • Die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in die sozialistische Planwirtschaft, was als sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Merkmalen definiert ist,
  • Die Öffnung des chinesischen Marktumfeldes zur Beschleunigung der bedarfsgerechten Versorgung und Bereitstellung von Produkten und der damit auch zugestandenen Stärkung des Eigeninteresses kapitalistischer Wirtschaftsteilnehmer, ein pragmatisches Zugeständnis für ausländische Investitionen und Technologien,
  • Die staatliche Dezentralisierung und Liberalisierung auf den vertikalen und regionalen Ebenen. (1)

In der politischen Auseinandersetzung der letzten 100 Jahre sind (vermutlich) zentnerweise Begründungen, system-kritische Analysen und Empfehlungen entstanden, die sich mit der Frage von Reformen auch in einem sozialistisch strukturierten Gesellschaftssystem befassten.  Aber das soll an dieser Stelle nur als eine Anregung verstanden werden, um sich gegebenenfalls intensiver mit der Kultur, Politik und Gesellschaftsentwicklung der Volksrepublik China zu befassen und die eine oder andere vorgeprägte Meinung über das Land China zu überdenken.
Im folgenden Beitrag geht es aber um die aktuellen Reformen und Richtungsweisungen, die im Mittelpunkt der 3. Plenartagung des Zentralkomitees und seinen ständigen Ausschüssen standen. (2)

  1. Hohe Erwartungen

Die Bedeutung dieses Treffens im Juli 2024 lag darin, eine Bewertung der aktuellen sozial-ökonomischen Situation in seiner Komplexität vorzunehmen. So standen Fragen an zur dynamischen Fortschreibung und Modernisierung der wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Bestandteile der chinesischen Gesellschaft sowie die Erörterung der politischen Leitlinien für  Reformvorhaben und  Modernisierungs-Ansätze  in den erkannten Problemfeldern.
Eine zentrale Rolle spielte  auch die Thematik einer weiteren Öffnung mit all seinen Konsequenzen; einen besonderen Stellenwert  nahmen dabei Themen der Zulassung und Förderung unternehmerischer Aktivitäten ausländischer Firmen ein.

Reformen sind in diesem, chinesischen, Kontext als Modernisierungspfad der chinesischen Gesellschaft zu begreifen.  Reformvorhaben kennzeichnen also eine planmäßige Umgestaltung oder Verbesserung bestehender Strukturen. Eine Abkehr von den Grundprinzipien des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft und deren grundlegenden geistigen und kulturellen Fundamenten war und ist nach der vorherrschenden kommunistischen Gesellschafts-Ideologie Chinas nicht beabsichtigt.
Existierende Schwachstellen wie etwa die anhaltend ungleiche Einkommensentwicklung, die regionalen Unterschiede der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die fehlenden Ausbildungs- und Jobangebote gerade in den Bereichen der Fortschritts-Industrie und der zu erwähnenden Problemzone Immobilienmarkt lassen sich als die reformbedürftigsten Problembereiche angeben. (3) Siehe als ergänzende Beschreibung hierzu die vor der Plenartagung erstellte Analyse von Wolfgang Müller: Justiert China die Wirtschaftspolitik neu? Debatten vor dem Dritten Plenum des ZK der KP, Sozialismus.de, Heft 7/8-2024  


Die Bedeutung von Öffnung für das Marktumfeld

Im Vorfeld der Plenumstagung entstanden eine Reihe von Analysen, die sich mit der Bedeutung der Öffnung, einer pragmatischen Öffnung für westliches Kapital zur Förderung der eigenen Wirtschaft und auch der internationalen Kooperation im Rahmen der Mitwirkung in globalen Organisationen befaßten; beispielhaft für Letzteres ist dafür vor allem die Mitgestaltung in der UN und in der Welthandelsorganisation (WHO) zu nennen. (5)

Neben der grundlegenden Beibehaltung der Staatsführung und der bewährten Wirtschaftspolitik sind die Bereitschaft zur Veränderung von Strukturen und die pragmatische Bereitschaft zur Öffnung nach meinem Verständnis die zentralen Faktoren, die China zur 2. größten Wirtschaftsmacht gemacht haben. Die Türen offen zu halten und Platz für pragmatische Experimente einräumen, sind nach wie vor integrale Bestandteile des wirtschaftlichen Erfolgs Chinas, vor allem, wenn es den dringend notwendigen Wandel zu einem wissensbasierten, fortschrittlichen Produktionszentrum angeht.
Nach Meinung von Experten sollte China seine Unternehmer dazu befähigen, die Wettbewerbsfähigkeit sowohl privater als auch staatlicher Unternehmen experimentell und zukunftsorientiert zu steigern. Der Wirtschaftswissenschaftler Keyu Jin hat auf das Nachfragedefizit und den Vertrauensverlust in den Privatsektor als Hindernisse für Chinas Erholung nach der Pandemie hingewiesen. (6) Chinesische Wirtschaftsexperten plädierten im Vorfeld der Plenartagung auch für eine kontinuierliche Öffnung für Ausländer, egal ob es sich um Touristen, Studenten oder qualifizierte Arbeitskräfte handle. Zheng Yongnian, Politikwissenschaftler und Professor an der chinesischen Universität von Hongkong in Shenzhen, rief China dazu auf, wenn erforderlich auch eine einseitige Öffnung gegenüber dem Rest der Welt zu wagen.

Die Anzeichen mehren sich, dass die politische Führung den Anforderungen und Interessen ausländischen Unternehmen durch weitere Zugeständnisse zu ihren Aktivitäten in China entgegenkommen will.  Dazu gehören etwa die Lockerung der Visa-Beschränkungen für Nicht-Chinesen und die Aufnahme Australiens und Neuseelands in die Liste der Länder, die schon von der Visumspflicht befreit sind. (7)
Der Abbau von administrativen Hindernissen bei der rechtlichen Registrierung, Geschäftsstreitigkeiten und der unzureichenden Transparenz der einzuhaltenden Vorschriften gehört nach Experten-Meinung zu den Arbeitsfeldern der Öffnung, die einer    Bereitschaft der unternehmerischen Tätigkeit in China entgegenkommen würde.
Und ein weiteres zu erwähnendes Thema der Öffnung ist die konsequente Beibehaltung des konstruktiven  Dialogs  mit wohlmeinenden Gesprächspartnern, die das Ansehen von China, auch in westlichen Gesellschaften, fördern können.

Das unterstreicht auch das Ansinnen Chinas, im immer härter werdenden internationalen Wettbewerb den eigenen Einfluß beizubehalten und auszubauen.


Wie die rasche sozio-ökonomische Entwicklung des Landes in den letzten mehr als 40 Jahren zeigt, sind Öffnung und Reformen zu wirksamen Instrumenten geworden, mit denen die Partei und das Volk große Fortschritte machen können, um mit der Zeit Schritt zu halten.

John Ross:  How China will continue achieving its high-quality development, Senior Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies an der Renmin University of China. (8)

Die 3. Plenartagung war nach Meinung der Veranstaltet problem- und ergebnisorientiert angelegt und hat die Voraussetzungen geschaffen für eine intensive, offene und konstruktive Diskussion über praktikable Lösungen, die dem Land helfen sollen, einige große Hindernisse auf seinem Weg zu nachhaltigem Wachstum zu überwinden und gleichzeitig seine langfristige strategische Autonomie zu bewahren.

Während mehrheitlich die Presse-Stimmen im Westen im Vorfeld des Plenums wenig Objektivität bei der Beurteilung der Reformbemühungen walten ließen und das Halbjahres-Ergebnis der Wirtschaft ideologisch begründet eher unsachlich kommentierten, war die Plenartagung ein Ausdruck von Zielstrebigkeit und politischer Programmatik eines anders organisierten Staates, der einfach in einem schlechten Licht erscheinen muß. (9)

  1. Die Halbjahres-Bilanz der chinesischen Wirtschaft

Während sich Chinas Spitzenpolitiker auf das dritte Plenum des 20. Zentralkomitees vorbereiteten, hat das Nationale Büro für Statistik, NBS die aktuellen Zahlen der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung Chinas bekanntgegeben, die Halbjahres-Bilanz 2024.

Nach den Vorläufigen Schätzungen des Nationalen Statistischen Amtes, NBS stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der ersten Jahreshälfte 2024 um 5,0 Prozent
(gegenüber Vorjahr).

Aufgeschlüsselt nach Quartalen stieg das BIP im ersten Quartal um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr und im zweiten Quartal um 4,7 Prozent, was quartalsweise einem leichten Rückgang im ersten Quartal entspricht.

Chinesische Behörden und Analysten wiesen darauf hin, dass es sich bei dieser Verlangsamung um eine kurzfristige Schwankung handle, die die Wirtschaft nicht von ihrem anhaltenden Erholungsschwung abbringen werde. Die Fundamentaldaten der Wirtschaft seien nach wie vor positiv und würden sich in der zweiten Jahreshälfte verbessern. Dafür sind eine Reihe herausragender wirtschaftlicher Triebkräfte anzugeben, darunter die laufende Modernisierung der Industrie, robuste Exporte sowie umfangreiche Investitionen in die High-End-Produktion. (10)

Aufgeschlüsselt nach Wirtschaftszweigen stieg die Wertschöpfung in der Primärindustrie um 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr, während die Sekundärindustrie einen Anstieg von 5,8 Prozent verzeichnet und der Sektor der Dienstleistungen einen Anstieg von 4,6 Prozent aufweist.

Jahresziel im Fokus

Das BIP-Wachstum von 5 Prozent in der ersten Jahreshälfte 2024 entspricht dem Ziel, das sich die Regierung zu Beginn des Jahres gesetzt hat.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Daten zitierten einige westliche Medien jedoch die Verlangsamung im zweiten Quartal als eher negative Entwicklung der chinesischen Wirtschaft. Einige übertrieben den Abwärtsdruck, dem das Land ausgesetzt sei und deuteten unvermittelt an, dass China von seinem jährlichen BIP-Ziel abrücken werde. Blickt man aber auf die nach dem Covid-Einbruch verlaufende Wachstumskurve, bewegt sich das Wachstum (im Gegensatz z.B. der deutschen Wirtschaft) auf einem bemerkenswert konstanten hohen Niveau.
Die amtliche Statistik räumte zwar eine gewisse Belastung der aktuellen Wirtschaftstätigkeit ein, erklärte jedoch, dass die Verlangsamung im Zeitraum April bis Juni auch durch kurzfristige Faktoren wie extreme Wetterbedingungen und häufige Regen- und Flutkatastrophen beeinflusst wurde. Das stabile Wachstum von 5 Prozent in der ersten Jahreshälfte bringe China auch auf einen guten Weg, sein Ziel eines Wirtschaftswachstums von rund 5 Prozent für das gesamte Jahr zu erreichen, so die Ökonomen.

"Die chinesische Wirtschaft ist trotz eines komplexen globalen und nationalen Umfelds stabil geblieben und hat [in den ersten sechs Monaten] nicht nur ein quantitatives Wachstum, sondern auch eine qualitative Verbesserung erzielt. Dies ist ein lobenswertes und solides wirtschaftliches Zeugnis."
NBS-Sprecher,15. Juli 2024
 

  1. Höhepunkte des Wachstums – und seine Lücken

Analysten zufolge ist das Wirtschaftswachstum im ersten Halbjahr "stabil und moderat" und spiegelt prinzipiell ein umfassendes Bild des Aufschwungs der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt nach dem Covid-Einbruch wider. Sie befindet sie sich in einer Phase des Wandels, in dem die Entwicklung neuer Triebkräfte durch ergänzende Impulse zur Förderung der Produktivkraftentwicklung Wirkung zeigen. Die Industrietätigkeit ist nach wie vor der wichtigste Motor für die Wirtschaft, was zum Teil auf die robuste Nachfrage aus dem Ausland zurückzuführen ist. Die Wertschöpfung von Industrieunternehmen ab einer bestimmten Größe stieg in den ersten sechs Monaten im Vergleich zum Vorjahr um 6 %, wobei die Entwicklung neuer, qualitativ hochwertiger Produktivkräfte spürbar an Fahrt gewann. (11)

Hierzu sind eine Reihe aktueller Zahlen zur Halbjahres-Bilanz der Wirtschaftstätigkeit in der folgenden Tabelle zusammengestellt:

Zu einigen der in der Tabelle dargestellten Werte anbei einige ergänzende Anmerkungen:

Anmerkung 1:
Eine Analyse nach Eigentumsverhältnissen ergab, dass die Wertschöpfung von Unternehmen in staatlicher Hand um 4,6 Prozent, die von Unternehmen in Aktienbesitz um 6,5 Prozent, die von Unternehmen, die von ausländischen Investoren oder Investoren aus Hongkong, Macao und Taiwan finanziert werden, um 4,3 Prozent und die von privaten Unternehmen um 5,7 Prozent zunahm.

Anmerkung 2:
Im ersten Halbjahr belief sich der Gesamtwert der Warenein- und -ausfuhren auf 2.912 Mrd. $, was einem Anstieg von 6,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Der Gesamtwert der Ausfuhren belief sich auf 1.698,2 Mrd.$, ein Anstieg um 6,9 Prozent.
Der Gesamtwert der Einfuhren belief sich auf 1.265,46 Mrd. $, ein Anstieg um 5,2 Prozent.

Anmerkung 3:

Im ersten Halbjahr erreichten die Anlageinvestitionen (ohne ländliche Haushalte) 3,44 Billionen $, was einem Anstieg von 3,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Unter Abzug der Investitionen in die Immobilienentwicklung stiegen die Anlageinvestitionen um 8,5 Prozent.
Im Einzelnen wuchsen die Investitionen in die Infrastruktur um 5,4 Prozent,
die in das verarbeitende Gewerbe um 9,5 Prozent und in die Immobilienentwicklung um
10,1 Prozent.

Anmerkung 4:
In der ersten Jahreshälfte stieg der Verbraucherpreisindex (VPI) um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr, während der Index im ersten Quartal auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr blieb. Aufgegliedert nach Warenkategorien sanken die Preise für Nahrungsmittel, Tabak und Alkohol um 1,4 Prozent, für Bekleidung um 1,6 Prozent, für Wohnungen um 0,2 Prozent, für Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs um 0,9 Prozent, für Verkehr und Nachrichtenübermittlung um 0,7 Prozent, für Bildung, Kultur und Freizeit um 2,0 Prozent, für medizinische Dienstleistungen und Gesundheitsversorgung um 1,4 Prozent und für sonstige Waren und Dienstleistungen um 3,3 Prozent.
Bei den Preisen für Nahrungsmittel, Tabak und Alkohol sank der Preis für frisches Obst um 7,8 Prozent, für frisches Gemüse ging die Preisgestaltung um 2,7 Prozent zurück, Schweinefleisch blieb unverändert und Getreide stieg um 0,5 Prozent.
Der Kernverbraucherpreisindex ohne die Preise für Nahrungsmittel und Energie stieg im Jahresvergleich um 0,7 Prozent. (12)

Generell blieb die Wirtschaftsleistung des Landes im ersten Halbjahr stabil, und es wurden stetige Fortschritte bei der Transformation und Modernisierung erzielt.
Die Bewertungen ernstzunehmender Analysten der wirtschaftlichen Situation stimmen mit den kritischen Einschätzungen der Führungskreise und Arbeitsgremien auf der 3. Plenartagung weitgehend überein, dass ein nicht zu übersehendes Potential zur Wirtschaftsbelebung besteht. Die nach wie vor auffälligen Lücken, oder anders ausgedrückt, Krisenerscheinungen, wie z. B. die Immobilienkrise mit einem riesigen Bestand an unfertigen Wohnungen, oder des offensichtlich zu langsam anwachsenden Arbeitsmarktes für junge Menschen, die ihre Berufsqualifikation in modernen IT- und Dienstleistungsbereichen sehen, stellen die staatlichen Gremien und Unternehmen vor ernstzunehmende, aber lösbare Herausforderungen.
So bewegt sich etwa die Arbeitslosigkeit im Kern auf einem konstanten überschaubaren Niveau, aber entsprechend den Anforderungen der Entwicklung der zukunftsorientierten Industriebereiche stehen offenbar zu wenige Arbeitsplätze zur Verfügung. (13)

Der Anteil von Chinas gesamter Wirtschaftsleistung an der Weltwirtschaft ist von etwa 12,3 Prozent vor über einem Jahrzehnt auf jetzt etwa 18 Prozent gestiegen.  Chinas Beitrag zum globalen Wirtschaftswachstum lag in den letzten Jahren bei etwa 30 Prozent.
Neuere Zahlen einer Langfristprognose vermuten jedoch einen Rückgang des chinesischen Beitrags zur globalen Wirtschaftsleistung. Hier sieht sich die politische Führung auch deshalb in der Verantwortung, mit entsprechenden Maßnahmen den bestehenden wirtschaftlichen und politischen Einfluss im Weltgeschehen aufrechtzuerhalten.

Die bemerkenswerte Entwicklung Chinas von einem der ärmsten Länder der Welt im Jahr 1949 zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt in nur etwas mehr als 70 Jahren ist nach Experten-Meinung vor allem auf die beständige Rolle und richtungsweisende Führung der KPCh zurückzuführen. Nach Auffassung von John Ross, Senior Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies an der Renmin University of China könne nachweislich keine andere politische Partei in der Welt eine vergleichbare Leistung vorweisen. (14)

 

IWF hebt BIP-Wachstumsprognose für China an

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat in seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick (WEO) die Prognose für das chinesische BIP-Wachstum in 2024 auf 5 Prozent bestätigt.
Die Stellungnahme des IWF zu den China-Daten erfolgte unmittelbar nach offizieller Bekanntgabe durch das NBS. Als ausschlaggebende Faktoren werden dabei eine stetige Erholung des Binnenkonsums und ein Anstieg der Exporte angegeben. In seiner WEO-Aktualisierung vom Juli geht der IWF davon aus, dass die prognostizierten 5% Wachstums für das Jahr 2024 eine Aufwärtskorrektur um 0,4 Prozentpunkte gegenüber dem WEO-Bericht des IWF vom April bedeuten.  (15)

"In China sorgte der wiedererstarkte Binnenkonsum im ersten Quartal für eine positive Entwicklung, die durch einen scheinbar vorübergehenden Anstieg der Exporte unterstützt wurde, die erst spät wieder an den Anstieg der weltweiten Nachfrage im letzten Jahr anknüpfen konnten."
WEO, World Economic Outlook

Entgegen den zumeist abwertenden Nachrichten (16) westlicher Medien zur chinesischen Halbjahres-Bilanz 2024 deutet auch die Aufwärtskorrektur der IWF-Prognose darauf hin, wonach sich die Erwartungen für eine stabile und solide Erholung der chinesischen Wirtschaft trotz des sich eintrübenden außenwirtschaftlichen Umfeldes und eines zunehmenden Handels-protektionismus erfüllen werden. Dies ist als ein Beleg für Chinas wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit einzuschätzen.

Eine vom IWF veröffentlichte Tabelle zeigt, welche Entwicklung der chinesischen Wirtschaft im Weltmaßstab gegenüber anderen Ländern in den nächsten Jahren zu erwarten ist.
Man beachte dabei zum Vergleich besonders die Prognose zur Wirtschaftsentwicklung Deutschlands. (17)

  1. Communique der 3. Plenartagung
    Die Rahmenvorgaben für Modernisierung, Reformen und weitere Öffnung

Zum Abschluss der im Juli d. J. erfolgten 3. Plenartagung verabschiedete das oberste politische Führungsgremium ein Communique, eine amtliche Verlautbarung, die das Ergebnis der Tagung zusammenfasst und als Rahmenvorgabe für die Entwicklung der nächsten 5 Jahre bezeichnet wird. Per Pressemitteilung war die chinesische Öffentlichkeit unmittelbar nach Veröffentlichung dazu aufgefordert, das Plenums-Communique zu studieren und sich an den vorgesehenen Maßnahmen in den jeweiligen Tätigkeitsbereichen zu beteiligen.
Das Communique ist so gesehen eine Resolution zur weiteren Vertiefung des beschlossenen Reformkurses für eine Modernisierung der chinesischen Gesellschaft. Die Förderung einer qualitativ hochwertigen Entwicklung, entlang des eingeschlagenen Weges, China zu einem modernen sozialistischen Land aufzubauen, wird als die Generallinie der sozio-ökonomischen Entwicklung bestimmt.
Wie der Name schon sagt, handelt es sich um ein Communique und nicht um einen dezidierten Plan der Umsetzung mit fest vereinbarten Lösungsansätzen.
Auszugsweise sind im Folgetext Passagen des Communiques zusammenfassend dargestellt.  Den Schwerpunkt der Darstellung bilden jene vereinbarten Maßnahmen und Programmpunkte, die schon im Vorfeld der Plenartagung eine hohe internationale Aufmerksamkeit erweckten, wie der künftige wirtschaftspolitische Weg Chinas in Zukunft aussehen mag. (18)

Das zitierte Dokument ist in seiner vollen Länge unter dem angegebenen link zu finden (19)


Zum Communique

Betonung der Bedeutung und Vertiefung von Reformen, um die chinesische Modernisierung voranzutreiben.
Die Schwerpunkte: Aufbau einer sozialistischen Marktwirtschaft, Förderung einer qualitativ hochwertigen wirtschaftlichen Entwicklung,  Unterstützung umfassender Innovationen,  Verbesserung der makroökonomischen Steuerung,  Förderung einer integrierten Stadt-Land- Entwicklung,  Verfolgung einer Öffnung auf hohem Niveau und der Förderung einer umfassenden Volksdemokratie , Förderung der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit mit chinesischen Merkmalen,  Vertiefung der Reformen im Kulturbereich, Gewährleistung und Verbesserung des Wohlergehens des Volkes, Vertiefung der Reformen im Bereich des Umweltschutzes,  Modernisierung des nationalen Sicherheitssystems und der Kapazitäten Chinas, Vertiefung der nationalen Verteidigung und der Militärreform sowie die Verbesserung der Führungsrolle der Partei bei der weiteren Vertiefung der Reformen.

Ausweitung der Binnennachfrage, im Einklang mit einer wirksamen Umsetzung der makroökonomischen Politik.
Zur Vorbeugung und Entschärfung von Risiken in den Bereichen Immobilien, kommunale Schulden, kleine und mittlere Finanzinstitute und anderen Schlüsselbereichen werden verschiedene Maßnahmen umgesetzt zur Gewährleistung der weiteren Entwicklung und Sicherheit des erreichten Wohlstandsniveaus.
Förderung neuer Arbeitskräfte.

Solide Schritte in Richtung einer umweltfreundlichen und kohlenstoffarmen Entwicklung.
Die Erfolge bei der Armutsbekämpfung konsolidieren und ausbauen.
Das Wohlergehen der Menschen sicherstellen und verbessern.

Integrierte städtische und ländliche Entwicklung
für die chinesische Modernisierung.
Bei der neuen Industrialisierung sind die neue Urbanisierung und die umfassende Wiederbelebung des ländlichen Raums zu koordinieren, eine stärkere Integration von Stadt und Land bei Planung, Entwicklung und Regierungsführung anstreben.
Förderung eines gleichberechtigten Austausches und wechselseitige Ströme von Produktionsfaktoren zwischen Stadt und Land, um die Ungleichheiten zwischen beiden zu verringern und ihren gemeinsamen Wohlstand und ihre Entwicklung zu fördern. Verbesserung des grundlegenden ländlichen Betriebssystems, die Unterstützungssysteme zur Stärkung der Landwirtschaft, zum Nutzen der Landwirte und zur Bereicherung der ländlichen Gebiete verbessern und die Reform des Bodensystems vertiefen.

Weitere Reformen der Öffnung
durch die Fortsetzung der staatlichen Politik der Öffnung nach außen, das Schaffen neuer Institutionen für die Entwicklung einer offenen Wirtschaft mit höheren Standards.
Ausbau der Zusammenarbeit mit anderen Ländern.
Vertiefung der Strukturreform des Außenhandels, die Verwaltungssysteme für Investitionen im In- und Ausland weiter reformieren. Die Planung für die regionale Öffnung verbessern und die Mechanismen für eine qualitativ hochwertige Zusammenarbeit im Rahmen der Belt and Road Initiative verfeinern.

Verbesserung der Systeme zur Erhaltung der Umwelt
, konzertierte Anstrengungen einleiten, um die Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, die Umweltverschmutzung zu verringern, eine grüne Entwicklung zu verfolgen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, aktiv auf den Klimawandel zu reagieren.

Stärkung des kulturellen Selbstvertrauens.
Die chinesische Modernisierung ist die Modernisierung des materiellen und kulturell-ethischen Fortschritts., Entwicklung einer fortschrittlichen sozialistische Kultur zu entwickeln, eine revolutionäre Kultur fördern und die traditionelle chinesische Kultur weiterführen.

Modernisierung der friedlichen Entwicklung
. Die chinesische Modernisierung unterstreicht Chinas Politik der friedlichen Außenbeziehungen ist als eine unabhängige Außenpolitik des Friedens fortzusetzen. Die Außenpolitik ist weiterhin darauf ausgelegt, sich für eine menschliche Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft einzusetzen.

Die Modernisierung der nationalen Verteidigung
und der Streitkräfte ein integraler Bestandteil der chinesischen Modernisierung ist. Die absolute Führung der Partei über die Volksstreitkräfte ist aufrechtzuerhalten und die Strategie der Stärkung des Militärs durch Reformen vollständig umzusetzen.
Die führende Rolle der Partei gilt als die grundlegende Garantie für die weitere Vertiefung der Reformen und um die Modernisierung Chinas umfassend voranzutreiben.

 

Ein Zwischenfazit

Ein abschließendes Fazit bietet sich redlicherweise nicht an, weil die detaillierten Beschlüsse und Maßnahmen über die etablierten staatlichen Kanäle und den chinesischen Wirtschaftspartnern erst im Anschluß zur Kenntnis genommen werden.

Manche ausländische Unternehmerverbände und aus dem off agierende Analysten bilden bei der Kenntnisnahme des Communiques eine unrühmliche Ausnahme, die weitreichende, liberale Öffnungen bis hin zu Systemveränderungen des politischen Systems in China erwartet hatten.  Öffnung und Reformen sind für diese Kreise nur zu verstehen als Freifahrtschein für ausländische Unternehmen, um ohne Einschränkung eigenständig und ohne Kontrolle in China agieren zu können.

Das erörterte Programm der 3. Plenartagung mit seinen weitreichenden Reformvorgaben und der weiteren Öffnung des heutige Chinas widerspiegelt die anstrengenden Aufgaben für die Zukunftsgestaltung des Landes. Das vorliegende Communique enthält keine überraschenden Elemente, die nicht schon zuvor kontinuierlich Gegenstand der Ausschüsse der Gremien der kommunistischen Partei Chinas gewesen wären.  Unterschiedlich nuanciert haben Analysten und auch die internationale Presse immer wieder darüber berichtet.  

Die 3. Plenartagung hat als politisches Ergebnis ein weitreichendes Statement mit globaler Wirkung hervorgebracht. Die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Ausrichtung chinesischer Politik soll nach den Ergebnissen der Beratungen ein Gleichgewicht zwischen Stabilität und Wachstum herstellen. Das Kommuniqué drückt die Notwendigkeit einer modernen Gestaltung von Wirtschaft und Staat und das Initiieren von fairen Bedingungen für Zukunftsinvestitionen im chinesischen Marktumfeld aus. Die beschlossene weitreichende Öffnung für ausländische Investoren soll auf einem hohen Niveau erfolgen und die benötigten Qualitätsproduktionskräfte dafür bereitstellen. Man kann davon ausgehen, dass detaillierte Vereinbarungen und Vorgaben für die beteiligten Wirtschaftspartner als nächste Schritte erfolgen werden. Auch wir werden das mit großer Aufmerksamkeit weiterhin begleitend kommentieren.

 

Quellenangaben

(1) http://de.china-embassy.gov.cn/det/zt/zg16d/200812/t20081219_3131095.htm

(2) https://www.chinadailyhk.com/hk/article/588057#Third-plenum-of-20th-CPC-Central-Committee-to-outline-reform-steps-2024-07-15

(3) Wolfgang Müller: Justiert China die Wirtschaftspolitik neu? Debatten vor dem Dritten Plenum des ZK der KP, Sozialismus.de, Heft 7/8-2024

(5) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316028.shtml

(6) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316028.shtml

(7) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316173.shtml

(8) https://www.news.cgtn.com

(9) http://www.chinatoday.com.cn/ctenglish/2018/zdtj/202407

(10) https://www.news.cgtn.com;

http://german.china.org.cn/txt/2024-07/16/content_117313989.htm

(11) https://www.stats.gov.cn/english/PressRelease/;

http://de.china-embassy.gov.cn/det/zgtphsz_/202407/t20240715_11454021;

htm
https://www.finanzen100.de/devisen/waehrungsrechner/?kurs=chinesischer-renminbi-yuan-us-dollar-cny-usd-9368554

(12) NBS, National Bureau of Statistics, China;

https://www.china-briefing.com/news/chinas-gdp-expands-5-in-h1-2024; https://www.stats.gov.cn/english/PressRelease/

(13) Wolfgang Müller, a.a.O.

(14) https://english.news.cn/20240717/62621c8d72cc4e3c94f45971db1cc2df/c.html

(15) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316177.shtml

(16) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/china-xi-jinping-wirtschaft-parteitreffen-drittes-plenum-100.html;

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/china-bip-wachstum-100.html;
https://edition.cnn.com/2024/07/14/economy/china-communist-party-third-plenum-economy-intl-hnk/index.html

(17) https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2024/07/16/world-economic-outlook-update-july-2024

(18) https://apnews.com/article/china-plenum-economy-trump-b02543fda4ff61aeaa30b96419e0a06b;
https://foreignpolicy.com/2024/07/16/china-third-plenum-ccp-economic-policy-xi-deng-reform/

(19)  https://www.chinadailyhk.com/hk

 

 

 

Die Brandmauer rutscht

Fr, 19/07/2024 - 07:50

Die von einem CSU-Politiker geführte Europäische Volkspartei (EVP) hat bei den jüngsten Wahlen im Europaparlament den cordon sanitaire („Brandmauer“) weit nach rechts verschoben und erste Parteien der extremen Rechten zu Kooperationspartnern gemacht.
Die ultrarechte Fraktion EKR stellt im Europaparlament drei Mitglieder des Präsidiums – dank Zustimmung der EVP. Sie gilt unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nun als „Partner für die Gesetzgebung“.

 

Am 17. Juli d. J.  wurden mit Stimmen der EVP drei Parlamentarier der ultrarechten EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer) ins Präsidium des Europaparlaments gewählt.
Der EKR-Fraktion gehören Parteien der äußersten Rechten mit Ursprüngen im Neofaschismus wie die Fratelli d’Italia (FdI) und die Schwedendemokraten an. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), die vor ihrer gestrigen Wiederwahl eine herbe gerichtliche Niederlage wegen ihrer Impfstoffverträge erlitt, hatte vor dem Wahlgang Absprachen mit den FdI getroffen. Im neuen Europaparlament stellen Parteien der äußersten Rechten neben der viertgrößten (EKR) auch die drittgrößte Fraktion, die Patrioten für Europa (PfE). Die PfE-Parteien haben einen Ministerpräsidenten (Ungarn) in ihren Reihen; zu ihnen gehören zudem zwei aktuelle wie auch zwei einstige Regierungsparteien. Damit ist die extreme Rechte im Europaparlament so stark wie noch nie zuvor.

EU-Recht gebrochen

Am Mittwoch, dem Tag vor ihrer Wahl, hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine empfindliche Niederlage vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) erlitten. In dem Verfahren ging es um die Verträge zum Kauf von Covid-19-Impfstoffen, die die EU-Kommission mit den Impfstoffherstellern geschlossen hatte. Scharf kritisiert wird vor allem ein Vertrag mit dem US-Konzern Pfizer über die Lieferung von bis zu 1,8 Milliarden Impfstoffdosen für einen Preis von 35 Milliarden Euro. Der Stückpreis lag damit stolze 25 Prozent über dem Stückpreis früherer Lieferungen; die Menge überstieg den Bedarf bei weitem, weshalb alleine im Jahr 2023 Impfstoff im Wert von vier Milliarden Euro vernichtet werden musste.[1] Aufklärung darüber, wie der für Pfizer exzellente, für die EU beispiellos teure Vertrag zustande gekommen war, ist nicht wirklich möglich: Von der Leyen hat den Vertrag mit Pfizer-Chef Albert Bourla persönlich in Textnachrichten ausgehandelt, sieht sich nun aber außerstande, die Nachrichten aufzufinden. Die Kommission war darüber hinaus nicht bereit, die Verträge einsehbar zu machen.
Mit ihrer exzessiven Geheimhaltungspraxis brechen die EU-Kommission und ihre Präsidentin laut dem Urteil des EuG EU-Recht; sie müssen nun Transparenz herstellen.[2]

Mit Stimmen der EKR

Das EuG-Urteil hat sich offenkundig nicht auf von der Leyens Wiederwahl ausgewirkt; für die CDU-Politikerin stimmten am gestrigen Donnerstag 401 der 720 Abgeordneten im EU-Parlament – eine solide Mehrheit. Grundsätzlich stützt sich von der Leyen schon seit Jahren auf die Fraktionen der Europäischen Volkspartei (EVP), der Liberalen (Renew) und der Sozialdemokraten, die zusammen genau 401 Abgeordnete zählen. Allerdings votierten laut Berichten rund 15 Sozialdemokraten und rund 15 Liberale, darunter die Parlamentarier der FDP, nicht für sie.[3] Bereits vorab waren Beobachter zudem davon ausgegangen, dass Frankreichs Konservative (Les Républicains) nicht für sie stimmen würden.[4] Von der Leyen hatte sich deshalb um Stimmen aus der Grünen-Fraktion bemüht – offensichtlich mit Erfolg. Unklar ist, wie viele Abgeordnete der Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) für sie stimmten. Dies tun zu wollen, hatten vorab alle jeweils drei Abgeordneten der Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) aus Belgien sowie der Občanská demokratická strana (ODS, Demokratische Bürgerpartei) aus Tschechien angekündigt. Sie gehören der EKR-Fraktion an, die von den extrem rechten Fratelli d’Italia (FdI, Brüder Italiens) der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geführt wird.

Mit Stimmen der EVP

Eine Kooperation mit der EKR-Fraktion galt noch vor wenigen Jahren als ausgeschlossen; ihre Parteien sind Teil der äußersten Rechten, kommen in vielen Fällen – so die FdI – direkt aus dem Milieu des Neofaschismus oder sind für offen rassistische Ausfälle führender Mitglieder bekannt wie etwa die Partei Die Finnen. Heute gilt die EKR im Europaparlament als legitimer Kooperationspartner.
Das hat am Mittwoch die Wahl des Parlamentspräsidiums bestätigt. Erhielt unmittelbar nach der vorigen Europawahl im Jahr 2019 noch kein EKR-Abgeordneter einen Posten an der Parlamentsspitze, so war dies vor zweieinhalb Jahren mit Roberts Zīle von der lettischen EKR-Partei Nationale Allianz erstmals der Fall: Zīle wurde Anfang 2022 zu einem der 14 Europaparlaments-Vizepräsidenten gewählt. Am Mittwoch wurde er wiedergewählt; zudem erhielt die EKR mit Antonella Sberna (FdI) einen zweiten Vizepräsidentenposten. Beide bekamen laut Insiderberichten auch Stimmen aus der EVP.[5]
EVP-Abgeordnete votierten zudem dafür, dass Kosma Złotowski von der EKR-Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) einen der fünf Quästorenposten erhielt, die dem Präsidium angehören und dort für Verwaltungsfragen zuständig sind.
Damit sind der cordon sanitaire bzw. die einstige „Brandmauer“ gegenüber der EKR niedergerissen.

„Partner für die Gesetzgebung“

Als Architekt dieser Entwicklung gilt der EVP-Partei- und Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU). Weber hatte sich bereits im Sommer 2022, dies damals noch gegen erhebliche innere und äußere Widerstände, für Italiens Rechtsaußenkoalition aus Forza Italia (EVP), Fratelli d’Italia (EKR) und Lega (heute: Patrioten für Europa) stark gemacht (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Er hat sich jetzt dafür eingesetzt, dass die EKR sowie ihre Mitgliedsparteien im Europaparlament von der EVP als kooperationsfähig erachtet werden. Die Wahl dreier EKR-Abgeordneter ins Präsidium des Europaparlaments mit EVP-Stimmen war die Probe aufs Exempel dafür; sie ist – aus Webers Sicht – gelungen. Die EKR-Fraktion könne nun „als potentielle[r] Partner für die künftige Gesetzgebung“ gelten, konstatiert ein Insider; der cordon sanitaire sei damit neu definiert.[7] Zwar gab der EKR-Kovorsitzende Nicola Procaccini (FdI) an, die FdI hätten am Donnerstag nicht für von der Leyen gestimmt. Doch ist unklar, woran das liegt. Meloni hatte Berichten zufolge verlangt, ein FdI-Politiker müsse einen bedeutenden Posten in der EU-Kommission erhalten; sie und von der Leyen hatten sich am Montag darüber ausgetauscht. Sollte ein FdI-EU-Kommissar noch nicht durchsetzbar sein, wäre nicht mit Stimmen der FdI für von der Leyen zu rechnen. Prinzipiell aber sind alle Voraussetzungen für eine FdI-EVP-Kooperation erfüllt.

Stärker denn je

Noch aufrechterhalten wird der cordon sanitaire gegen die Fraktion der Patrioten für Europa (PfE), die vom französischen Rassemblement national (RN) unter Jordan Bardella geführt wird und der unter anderem der ungarische Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán, der belgische Vlaams Belang (VB), die italienische Lega, die niederländische Partij voor de Vrijheid (PVV), die spanische Vox, die portugiesische Chega, die tschechische ANO 2011 und die FPÖ angehören. Die PfE-Parteien stellen einen Ministerpräsidenten (Orbán), sind in zwei Staaten an der Regierung (Italien, Niederlande), waren Teil einer Regierung (ANO 2011, FPÖ) oder sind stärkste Kraft der Opposition (RN). Mit 84 Abgeordneten bilden sie aktuell die drittgrößte Fraktion im Europaparlament vor der Rechtsaußenfraktion EKR, die über 78 Abgeordnete verfügt. Hinzu kommt die von der AfD geführte Fraktion Europa Souveräner Nationen (ESN), die allerdings nur 25 Abgeordnete hat und durchweg randständigen Parteien entstammt.

Mit der dritt- sowie der viertgrößten Parlamentsfraktion, von denen eine – die EKR – mittlerweile als möglicher Kooperationspartner gilt, stellen die Parteien der extremen Rechten nun eine Kraft im Europaparlament dar, die erhebliches politisches Potenzial besitzt.

 

 

 

[1] Daniel Steinvorth: Umstrittener Impfstoff-Deal: Nun ermitteln Europas Korruptionsjäger gegen Ursula von der Leyen. nzz.ch 03.04.2024.

[2] Gericht: EU-Kommission mauerte. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

[3] Thomas Gutschker: Mit den Grünen zum Sieg. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.07.2024.

[4] Reconduite à la tête de la Commission, von der Leyen promet “une Europe forte”. msn.com 18.07.2024.

[5] Thomas Gutschker: Die EVP definiert den Cordon Sanitaire. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

[6] S. dazu „Wächter der pro-europäischen Politik“.

[7] Thomas Gutschker: Die EVP definiert den Cordon Sanitaire. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

Moskau in Schussweite

Fr, 12/07/2024 - 10:42

Deutschland beteiligt sich an der Entwicklung einer europäischen Mittelstreckenwaffe mit Reichweite bis Russland. Übergangsweise werden  US-Marschflugkörper in Deutschland stationiert.
NATO koordiniert die Aufrüstung der Mitgliedstaaten.



Aus Berichten des zu Ende gegangenen NATO-Gipfels in Washington geht hervor, dass. Deutschland  sich an der Entwicklung neuer Mittelstreckenwaffen beteiligt,  die Ziele in Russland erreichen können, darunter vermutlich Moskau.
Demnach haben Deutschland, Frankreich, Italien und Polen beschlossen, gemeinsam einen Marschflugkörper oder eine Hyperschallrakete zu entwickeln, die eine Reichweite von rund 2.000 Kilometern haben könne.
 Damit gerät bei einer Stationierung der Waffe in der Bundesrepublik die russische Hauptstadt ins Visier. Übergangsweise sollen US-Marschflugkörper vom Typ Tomahawk sowie Lenkraketen SM-6 in Europa stationiert werden, vermutlich in Wiesbaden. Washington will dort zudem Hyperschallwaffen vom Typ Dark Eagle aufstellen, sobald deren Entwicklung abgeschlossen ist. Der NATO-Gipfel in Washington knüpfte an die Gipfel in Madrid (2022) und in Vilnius (2023) an: Hatte das Militärbündnis in Madrid ein neues Streitkräftemodell, in Vilnius neue Verteidigungspläne beschlossen, so diente der Gipfel in Washington dazu, die Pläne nun zu konkretisieren – den Aufbau rüstungsindustrieller Kapazitäten und die Entwicklung neuer Waffen inklusive.

Die Rüstungsprioritäten der NATO

Bei der Konkretisierung der Planungen geht es nicht nur darum, militärische Strukturen auszubauen und in Manövern Kriegsszenarien zu üben, sondern auch darum, in der Rüstung neue Kapazitäten zu schaffen und neue militärische Fähigkeiten zu erschließen. Dazu wurde in Washington eine Vereinbarung mit dem Titel NATO Industrial Capacity Expansion Pledge geschlossen, die im Wesentlichen vorsieht, die Rüstungsindustrie zu stärken sowie neue Fabriken zu errichten – dies nach Möglichkeit in multinationaler Kooperation.[1] Die NATO will dies künftig koordinieren, womit sie freilich in direkte Rivalität mit der EU gerät, die ihrerseits danach strebt, sich eine eigenständige rüstungsindustrielle Basis zu verschaffen.[2] Die Rüstungsproduktion sei ein „Teil der Verteidigungsplanung“, wird ein hochrangiger NATO-Beamter zitiert.[3] Um eine möglichst straffe Koordination sicherzustellen, sollen die Mitgliedstaaten ihre Rüstungsmaßnahmen einmal im Jahr nach Brüssel melden. Zu den Prioritäten gehöre es, heißt es unter Berufung auf den NATO-Beamten, die Logistik „für die schnelle Verlegung von Einheiten“ zu optimieren, zudem „moderne IT für Kommunikation und Aufklärung“ zu beschaffen, „erheblich größere Munitionsbestände“ aufzubauen und „Schläge in der Tiefe mit Abstandswaffen“ zu ermöglichen.

Mittelstreckenwaffe aus der EU

Mit Letzterem werden sich Deutschland, Frankreich, Italien und Polen gemeinsam befassen. Eine entsprechende, noch recht allgemein gehaltene Absichtserklärung zur Entwicklung von Waffen, mit denen man Ziele auf feindlichem Territorium weit hinter der Front treffen kann, unterzeichneten die Verteidigungsminister der vier Staaten am Rande des NATO-Gipfels. Konkret gehe es darum, dies berichtet ein gewöhnlich gut informierter Korrespondent, „eine landgestützte Waffe mit einer Reichweite von deutlich mehr als tausend Kilometern zu entwickeln“. Dabei könne es sich um „einen Marschflugkörper“ oder auch „eine ballistische Rakete“ handeln, wobei letztere, sollte man sich auf sie einigen, auch als Hyperschallrakete konstruiert werden könne.[4] „Derlei Waffen könnten von Deutschland aus auf russische Ziele gerichtet werden“, heißt es weiter – „bei einer Reichweite von 2.000 Kilometern auch auf Moskau“. In Berlin gehe man davon aus, dass sich nach dem Regierungswechsel in London auch Großbritannien an dem Vorhaben beteiligen werde. Als Modelle, die dabei als Anknüpfungspunkte genutzt werden könnten, werden der deutsche Taurus, der britische Storm Shadow und der französische Scalp genannt. Deren Reichweite liegt freilich bloß bei wenig mehr als 500 Kilometern.

Tomahawk als Übergangslösung

Weil die Entwicklung der neuen Waffe – unabhängig davon, ob es sich bei ihr um einen Marschflugkörper oder um eine Hyperschallrakete handelt – voraussichtlich eine Menge Zeit benötigen wird, ist zunächst eine Übergangslösung vorgesehen. Dazu werden die Vereinigten Staaten ab 2026 Raketen und Marschflugkörper in Deutschland stationieren. Zum einen handelt es sich um Lenkraketen des Typs SM-6, deren Reichweite mit über 350 Kilometern angegeben wird. Zum anderen ist auch die Stationierung von Tomahawk-Marschflugkörpern vorgesehen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 2.500 Kilometern erreichen können; damit gerät bei einem Standort in Deutschland auch Moskau ins Visier. Anders als die neu zu entwickelnde europäische Waffe werden die übergangsweise stationierten US-Waffen unter US-Kontrolle bleiben und im Kriegsfall von US-Einheiten abgeschossen werden. Als der wahrscheinlichste Standort gilt Wiesbaden, wo die Vereinigten Staaten schon im Jahr 2021 – also vor Beginn des Ukraine-Kriegs – ihre Second Multi-Domain Task Force aktiviert haben. Ein Dozent der Münchner Bundeswehr-Universität wird mit der Einschätzung zitiert, eine Stationierung von Waffen wie SM-6 und Tomahawk sei angesichts der Fähigkeiten der Second Multi-Domain Task Force „zu erwarten“ gewesen.[5]

Ausstieg aus dem INF-Vertrag

Dass die Stationierung der Tomahawk-Marschflugkörper zulässig ist, ist dem Auslaufen des INF-Vertrags geschuldet, den Washington und Moskau am 8. Dezember 1987 geschlossen hatten. Er sah die vollständige Abrüstung aller landgestützten Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern vor. Das Ende des Vertrags wird heute allgemein Russland in die Schuhe geschoben. Tatsächlich hat Washington bereits Anfang 2019 offen eingeräumt, schon Ende 2017 mit der Entwicklung neuer Mittelstreckenraketen begonnen zu haben. Recherchen der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) haben belegt, dass das Pentagon bereits im Oktober 2018 begann, Aufträge im Wert von mehr als 1,1 Milliarden US-Dollar für Entwicklung und Bau neuer Raketen zu vergeben. Am 1. Februar 2019 kündigte die Trump-Administration den INF-Vertrag; im März 2019 bestätigte das Pentagon, man beginne nun mit dem Bau neuer Mittelstreckenraketen.[6] Demnach lag der Ausstieg aus dem Vertrag eindeutig im US-Interesse.

Gegen China

Ursache für den US-Ausstieg aus dem INF-Vertrag war damals Berichten zufolge der Plan, US-Mittelstreckenraketen in größtmöglicher Nähe zu China zu stationieren (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Im November 2023 kündigte der Kommandeur der U.S. Army Pacific, General Charles Flynn, an, die Vereinigten Staaten würden im Jahr 2024 sogenannte Typhon-Batterien in die Asien-Pazifik-Region verlegen; dabei handelt es sich um Batterien, von denen etwa Tomahawk-Marschflugkörper abgeschossen werden können.[8] Im April verlegten die Vereinigten Staaten erstmals eine Typhon-Batterie im Rahmen eines Manövers in den Norden der Philippinen, von wo aus mit Tomahawks große Teile Südchinas attackiert werden können.[9] Hieß es zunächst aus den philippinischen Streitkräften, die Typhon-Batterien würden in den Philippinen bleiben, so wird nun berichtet, sie sollten im September wieder abgezogen werden. Doch könnten sie jederzeit erneut in den Norden der Philippinen verlegt werden.[10] Möglich ist dies dank der Aufkündigung des INF-Vertrags.

 

[1] NATO Industrial Capacity Expansion Pledge. nato.int 10.07.2024.

[2] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.

[3], [4] Thomas Gutschker: Eine neue Waffe, die Moskau treffen könnte. faz.net 11.07.2024.

[5] Nils Metzger: Warum die USA Raketen bei uns stationieren. zdf.de 11.07.2024.

[6] S. dazu Abschied vom INF-Vertrag (III).

[7] S. dazu „Ein Alptraumszenario für China“.

[8] Ashley Roque: Army’s new Typhon strike weapon headed to Indo-Pacific in 2024. breakingdefense.com 18.11.2023.

[9] Laurie Chen, Mikhail Flores: China’s defence ministry condemns US missile deployment in Philippines. reuters.com 31.05.2024.

[10] Seong Hyeon Choi, Sylvie Zhuang: Why is the US typhon missile system being withdrawn from the Philippines? scmp.com 05.07.2024.

Chinesische E-Automobile - ihre Marktentwicklung, Schutzzölle und die Gegenmaßnahmen

Fr, 12/07/2024 - 06:08

China hat seine weltweiten Automobil-Verkäufe signifikant steigern können.
Chinesische Hersteller von Elektrofahrzeugen dringen verstärkt in große Schwellenländer wie Brasilien und Russland und in den Nahen Osten vor.



Nach den Rückschlägen durch die höheren Zölle in den USA und jüngst der Europäischen Union lenken die Automobilhersteller Chinas ihre Exporte auf andere Ziele um.

Die Automobil-Lieferungen  von batterieangetriebenen Fahrzeugen aus chinesischer Produktion an Käufer in den Ländern von Brasilien bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) nehmen in besonderem Maße zu.

Dabei sind es vor allem die elektrisch angetriebenen chinesischen Automobile, insbesondere der boomartige Anstieg der Exportanteile der Marke BYD, die auf den internationalen Märkten aufgrund ihres vergleichbar günstigen Preis-Leistungs-Verhältnisses eine hohe Akzeptanz erreichen.(1)

Erwähnt sei nur am Rande die nicht zu übersehene Markenwerbung des Turniersponsors BYD bei den Spielen der Fussball-Europameisterschaft. Wer hätte gedacht, dass neben den Fussball-Interessierten selbst die vielen europäischen Politik-Repräsentanten und möglicherweise Anhänger protektionistischer Politik bei nahezu jedem Spiel chinesische Markenwerbung ertragen oder genießen konnten.

E-Autos chinesischer Bauart

Chinesische Elektroautos gewinnen zunehmend an Bedeutung auf dem deutschen Markt. Mehrere Hersteller wie BYD, MG, Nio, Xpeng und Aiways bieten bereits Modelle in Deutschland an. Diese Fahrzeuge zeichnen sich zumeist durch moderne Technologie, attraktive Preise und hohe Reichweiten aus. Trotz anfänglicher Skepsis bezüglich Qualität und Sicherheit schneiden viele chinesische E-Autos in Crashtests gut ab. Der Marktanteil ist noch gering, wächst aber stetig.
2023 machten chinesische Marken 5,5% der zugelassenen Elektrofahrzeuge in Deutschland aus.
Allerdings werden sich die von der EU verhängten   Strafzölle von bis zu 38,1% auf chinesische E-Autos auf die Zulassungen negativ auswirken. Dies wird die Wettbewerbsfähigkeit dieser Fahrzeuge auf dem deutschen Markt, im wahrsten Sinn des Wortes nachhaltig beeinflussen. Die EU schlägt neben den USA dabei aber eine unvorteilhafte Entwicklung der eigenen Automobilbranche ein, was im Folgenden näher betrachtet wird.

Der weltweit zunehmende Absatz chinesischer E-Automobile

China hat Japan im vergangenen Jahr als weltgrößter Automobilexporteur abgelöst. Die chinesischen Automobilhersteller lieferten 4,91 Millionen Fahrzeuge aus, 58 Prozent mehr als 2022. Davon waren 1,2 Millionen batteriebetriebene Fahrzeuge, ein Allzeithoch und ein Anstieg um 77 Prozent gegenüber 2022.

"Die lebhaften Exporte spiegeln die Widerstandsfähigkeit der chinesischen Automobilindustrie wider. "Die in China hergestellten New-Energy-Vehicles haben dank ihrer hohen Qualität eine wichtige Rolle dabei gespielt, den wachsenden Einfluss des Landes weltweit zu demonstrieren."
Cui Dongshu, Generalsekretär der China Passenger Car Association (CPAC).

So stiegen die Exporte chinesischer Autos nach Brasilien von Januar bis Mai d. J. um mehr als das Sechsfache auf 159.612 Einheiten, während sich die Auslieferungen in den Vereinigten Arabischen Emiraten um 92 Prozent auf 114.530 Fahrzeuge erhöhten.

Nach Angaben des chinesischen Verbands der Automobilhersteller ist China  der größte Autolieferant Rußlands.  So stieg der Absatz von Januar bis Mai d.J. im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 92,8 Prozent auf 438.000 Fahrzeuge an. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2024 wurden mehr als 154.000 Elektroautos ausgeliefert, doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Chinesische Elektroautohersteller haben inzwischen den größten Marktanteil in Südostasien. Ihr Anteil wuchs von 47 Prozent im Jahr 2021 auf 74 Prozent im vergangenen Jahr, wie aus einem im Mai veröffentlichten Bericht von Deloitte China hervorgeht.

Die Produktion chinesischer Autos mit E-Antrieb

Bei der Herstellung von Elektroautos haben chinesische Autohersteller nach veröffentlichten Untersuchungen einen enormen Kostenvorteil gegenüber ihren globalen Konkurrenten, Danach ist eine voll entwickelte Lieferkette für die starke Produktionskraft verantwortlich, so Stephen Dyer, Co-Leader im Bereich Automobil und Leiter der Asien-Praxis von AlixPartners. (2)

Ein in China hergestelltes Elektroauto kostet nach Angaben von AlixPartners in der Produktion 35 Prozent weniger als die Fahrzeuge anderer Hersteller.

Umweltfreundlichkeit chinesischer Elektroautos

 Generell tragen chinesische Elektroautos durch ihre Förderung der E-Mobilität zu einer umweltfreundlicheren Zukunft bei. Auf den verfügbaren Informationen basierend stechen einige chinesische Elektroautohersteller durch ihr Engagement für Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit hervor:

BYD (Build Your Dreams) gilt als Pionier für umweltfreundliche Technologien.

Das Unternehmen setzt auf innovative Batterietechnologien wie die Blade-Batterie, die eine höhere Energiedichte und längere Lebensdauer bietet. BYD legt besonderen Wert auf nachhaltige, umweltfreundliche und zugleich praktische Mobilitätslösungen. (3)

Die Marke Nio zeichnet sich durch die Verwendung von recycelten und nachhaltigen Materialien in ihren Fahrzeugen aus. Zudem bietet Nio ein innovatives Batteriewechselsystem, das die Nutzungsdauer der Batterien verlängern und somit Ressourcen schonen kann. (4)

Die Marke Aiways setzt bei seinen Modellen U5 und U6 auf effiziente Antriebstechnologien und nachhaltige Materialien im Innenraum. (5)

Es ist wichtig zu beachten, dass die Umweltfreundlichkeit von Elektroautos nicht nur vom Fahrzeug selbst, sondern auch vom Strommix des jeweiligen Landes abhängt, in dem es geladen und gefahren wird.
Generell tragen aber chinesische Elektroautos zu einer umweltfreundlicheren Zukunft bei.

 
Handelsschranken

Bereits im Mai d.J.  kündigte das Weiße Haus in den USA eine Vervierfachung der Zölle auf in China hergestellte Elektrofahrzeuge an, die nun 100 Prozent betragen. (6)

Zu Beginn des Monats Juli traten in der EU, ergänzend zu den 10 % Standardzöllen auf chinesische Importfahrzeuge zusätzliche Schutzzölle von 17,4 bis 37,6 Prozent auf Elektrofahrzeuge chinesischer Hersteller, zumindest  vorläufig, in Kraft.
Die Angelegenheit soll noch mit den zuständigen Zoll – und Handelsbehörden beider Seiten weiterverhandelt werden, dessen endgültiges Ergebnis in vier Monaten erwartet wird.

 Eine Bewertung der angewandten Handelspraktiken

Die chinesischen Behörden haben als Reaktion eine Untersuchung initiiert mit dem Ziel, die Auswirkungen der EU-Handelsschranken gegenüber chinesischen Unternehmen zu bewerten. Der ohnehin brodelnde Handelsstreit dürfte dadurch weiter angeheizt werden. Die Behörden wollen Fragebögen, öffentliche Anhörungen und Vor-Ort-Inspektionen durchführen und die Untersuchung bis zum 10. Januar abschließen.  (7)

Das Handelsministerium der Volksrepublik China (Ministry of Commerce, MOFCOM) ist zuständig für die Regulierung des Binnen- und Außenhandels. In seine Zuständigkeit fallen ebenso Angelegenheiten für die internationale Wirtschaftszusammenarbeit und der Regelung von Import- und Exportangelegenheiten, Handelsverhandlungen, Investitionen und den Schutz geistigen Eigentums im Handelskontext.
Das Mofcom erklärte, dass die initiierten chinesischen Untersuchung auch die Bereiche der EU in Bezug auf chinesische Lokomotiven, Solarpaneele, Windkraftprodukte und Sicherheitskontrollgeräte einschließt.

Wirtschafts-Analysten sind sich darüber einig,  dass eine solche Untersuchung in der Regel den Beginn von Vergeltungsmaßnahmen markiert.

"Es ist nicht das erste Mal, dass China ein solches politisches Instrument einsetzt, und es ist möglich, dass es weitere Zölle auf ausgewählte europäische Waren geben wird".

"Die zersplitterte politische Landschaft bedeutet, dass sich die Beziehungen zwischen der EU und China wahrscheinlich in einer Sackgasse befinden, sich aber nicht wesentlich weiter verschlechtern werden."
Gary Ng, leitender Ökonom bei der Natixis Corporate and Investment Bank.

Lea Zuber, die EU-Wettbewerbssprecherin, betont dazu, dass die Kommission die Einzelheiten der chinesischen Untersuchung prüfe, fügte aber hinzu, dass die EU alle zur Verfügung stehenden Instrumente, einschließlich der Verordnung über ausländische Subventionen, voll ausschöpfen werde.

Generell bleibt festzuhalten, dass handelspolitische Maßnahmen, so wie sie von der EU gegenüber einem der wichtigsten außereuropäischen Handelspartner angewandt werden, seinem Charakter nach einem konservativen Protektionismus entsprechen. Vor allem steht s dieser EU-Protektionismus diametral zur verkündeten europäischen Entwicklung der grünen Industrie, die auch die Förderung des Ausstiegs aus der automobilen Verbrenner-Antriebs-Industrie einbezieht.

Es ist also davon auszugehen, dass China seinerseits alle notwendigen Maßnahmen ergreifen wird, um seine eigenen Rechte und Interessen angesichts der Anwendung missbräuchlicher Regeln zu schützen.

"Dies ist ein normaler Schritt in Handelsverhandlungen und wahrscheinlich eine Reaktion Pekings auf die jüngsten Gespräche mit Brüssel über Zölle auf Elektrofahrzeuge",
sagte Ding Shuang, Chefökonom für Greater China, Standard Chartered.

Mei Yuan, Assistenzprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der Singapore Management University, merkt dazu an, dass die chinesische Untersuchung der EU im Einklang mit den Ausgleichsregeln der Welthandelsorganisation stehe:
"Wir wissen nicht, ob die EU strenger vorgegangen ist oder sogar zwischen den chinesischen Unternehmen differenziert hat, deshalb muss (Mofcom) die Situation untersuchen".

Unabhängig vom Ausgang der chinesischen Untersuchungen bleibt festzuhalten, dass höhere Zölle, die die USA und die EU auf chinesische Elektroautos erheben, chinesische Unternehmen dazu veranlassen werden,  ihren Absatz-Fokus auf die Schwellenländer zu verlagern, wo chinesische Autos der globalen Konkurrenz derzeit überlegen sind und vor allem einen konsumorientierten Preisvorteil bieten.
Damit soll aber nicht der individuellen Automobilität im globalen Süden per se das Wort geredet werden; aber auch dort ist die individuelle Mobilität ein Gradmesser für aufkommenden und nachgefragten Wohlstand. Einschränkend ist dabei allerdings auf die damit einhergehende Entwicklung eines  sozialen Einkommens-Ungleichgewichts hinzuweisen, was keinesfalls Zustimmung finden kann.  Aber das ist ein umfassendes sozial-ökonomisches Thema, das hier nicht beantwortet werden kann.


Chinesische E-Automobile auf dem deutschen Automobilmarkt

Derzeit sind mehrere chinesische Elektroautomarken und -modelle auch in Deutschland erhältlich. Hierzu ein paar Informationen zu den weiter oben bereits erwähnten chinesischen E-Automobilen:

BYD (Build Your Dreams) gilt als Vorreiter für umweltfreundliche Technologien.

BYD gilt als der weltgrößte Hersteller von Elektroautos und hat in 2023 sogar Tesla übertroffen.

In Europa setzte BYD in 2023 15.700 Automobile mit Elektro-Antrieb ab. In zwei Jahren ist der Absatz von knapp 100.000 Einheiten geplant.

Das Unternehmen setzt auf innovative Batterietechnologien wie die Blade-Batterie, die eine höhere Energiedichte und längere Lebensdauer bietet. Modelle wie der BYD Dolphin und der BYD Atto 3 zeichnen sich durch gute Energieeffizienz aus.
BYD bietet den Atto 3, den Dolphin, den Seal und die Modelle Han und Tang an.
Der BYD Dolphin gehört auch zu den preiswerteren Modellen auf dem deutschen Markt.
Die Preise sind vergleichsweise wettbewerbsfähig, wobei nach Verkäufer-Aussagen beim Kauf auch andere Faktoren wie Verbrauchskosten, Wiederverkaufswert und Langlebigkeit berücksichtigen sollte. Zugegeben, diese letzten Angaben sind Allgemeinweisheiten zum Automobilmarkt; keinesfalls sollte damit aber der Eindruck einer Reklame für chinesische
E--Automobile entstehen.

Für das Jahr 2026 plant BYD sogar ein eigenes Werk in Ungarn mit einer Kapazität von zunächst 150.000 Einheiten.
BYD wäre dann der erste chinesische Anbieter mit einer eigenen Pkw-Fabrik auf dem europäischen Kontinent. Schutzzölle der EU gegenüber dem Mitgliedsland Ungarn, der chinesische e-Autos im europäischen Automobilmarkt anbietet, wäre vermutlich selbst nach der Regie von EU-Protektionisten mehr als eine komödiantische Einlage.

MG, eine Marke des chinesischen Konzerns SAIC, hat den MG4 Electric, MG5 Electric, MG ZS EV und MG Marvel R Electric im Angebot in Deutschland.

Die Marke Nio verkauft die Modelle ET5, ET7 und EL7. Aiways ist mit den SUV-Modellen U5 und U6 vertreten.

GWM Ora bietet den Ora 03 (früher Funky Cat) an. Weitere verfügbare Modelle sind Seres 3 und Seres 5, Xpeng G9, Zeekr 001, Maxus Euniq 6. (8); (9)

Für 2024 sind trotz der verhängten Schutzzölle weitere Markteintritte chinesischer
E-Automobile in Europa bisher geplant.


Verbrenner-Aus und Strafzölle – wohin zeigt die Industriepolitik der EU?

Wie bereits in einem Artikel Mitte Mai erwähnt, waren EU-Stellen seit langem damit beschäftigt, einem Nachweis der Wettbewerbsverzerrung durch unzulässige Subventionierung chinesischer Elektro-Fahrzeuge zu belegen. In den zurückliegenden acht Monaten, seit diese Untersuchung eingeleitet wurde, haben die verantwortlichen Stellen Chinas mehrere "politische" Angebote an Brüssel gemacht, um den Streit zu beenden. Die Kommission hat stets geantwortet, dass die Untersuchung technischer Natur sei, ausgelöst durch Chinas eigene Subventionen. Die Entscheidung ist nun gefallen und es werden Import- Zölle auf in China hergestellte Elektrofahrzeuge erhoben. (10)

Kritische Ökonomen und auch Branchen-Vertreter der deutschen Automobil-Hersteller haben sich öffentlich und selbstredend ihren eigenen Profitinteressen verpflichtet gegen die Erhebung von Importzöllen und deren Konsequenzen für die eigenen Exportziele in China ausgesprochen. Sie warnen davor, dass eine Verteuerung von E-Fahrzeugen die Klimaziele der EU zurückwerfen und die europäischen Autoprodukte wirtschaftlich nicht mehr wettbewerbsfähig machen könnten.(11, 12)

In einem Interview des iwd, dem Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft, erläutert der Aufsichtsratsvorsitzende Arndt G. Kirchhoff der Kirchhoff-Gruppe, einem weltweit agierenden Automobilzulieferer,  die anzunehmenden Auswirkungen der  Strafzölle auf  die hiesige Automobilindustrie und ihrer  Zulieferer.

Seine Antworten  auf die Fragen nach einer möglichen Rücknahme des Verbrenner-Aus durch die EU-Kommission  und der Erhebung von Schutzzöllen gegenüber preisgünstigen chinesischen E-Autos seien  hier auszugsweise dargestellt:

Frage: Rücknahme des Verbrenner-Aus in der EU ?

Antwort: „Ich halte das für unklug, weil so ein Hin und Her die Verbraucher total verwirrt. Die Frage ist eigentlich eine ganz andere, nämlich die, wie wir klimaneutral Auto fahren. Das geht auch mit einem Verbrenner, indem man ihm CO2-freien Kraftstoff gibt, der regenerativ erzeugt wurde. Dann fährt auch ein Otto- oder Dieselmotor klimaneutral. Das elektrische Fahren, das zurzeit in Europa praktiziert wird, ist nicht CO2-frei, denn der dafür verwendete Strom ist zumeist nicht grün. Der Strom ist in Deutschland in guten Jahren zur Hälfte grün, in Europa insgesamt ist er nicht mal zur Hälfte grün. Wir haben weltweit 1,4 Milliarden Autos mit Verbrenner-Motoren, die werden nicht morgen weg sein. Wenn wir diese Autos mit regenerativen Kraftstoffen nutzen würden, hätte das den schnellsten und größten Umweltnutzen.“

Frage: Schutzzölle auf chinesische E-Autos?
Antwort: „Das ist insbesondere aus deutscher Sicht sehr schlecht, weil wir ein kleines Land sind und unser Wohlstand im Wesentlichen darauf beruht, dass wir mit anderen Ländern handeln. Wenn wir jetzt Handelsbarrieren unterstützen, verbauen wir im Grunde genommen den deutschen Weg des Wirtschaftens. Denn wenn wir in Europa Barrieren aufbauen, dann werden die Handelspartner das auch tun. Und am Ende wird das Produkt für die Verbraucher teurer.“ (13)

Quellen

(1) https://www.scmp.com/business/china-business/article/3270034/chinese-ev-makers-train-sights-middle-east-brazil-russia-after-us-eu-raise-tariffs.

(2) https://www.alixpartners.com/insights/102id44/disruption-in-consumer-products-why-building-a-change-proof-organization-is-es/

(3) https://www.auto-naim.de/blog/die-4-groessten-elektroauto-hersteller-aus-china-zukunftstrends

(4) https://www.cardino.de/blog-posts/chinesische-elektroautos

(5) https://www.cardino.de/blog-posts/chinesische-elektroautos

(6) https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5244-100-schutzzoelle-ein-rueckfall

(7) https://www.scmp.com/economy/global-economy/article/3269892/china-probe-eus-trade-barriers

(8) https://www.autoscout24.de/informieren/ratgeber/beste-autos/chinesische-elektroautos/

(9) https://www.carwow.de/automagazin/elektroauto/e-auto-tipps-und-begriffserklaerung/aktuelle-chinesische-elektroautos

(10) https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5244-100-schutzzoelle-ein-rueckfall

(11) ) https://www.kleinezeitung.at/wirtschaft/18447769/bmw-chef-zipse-warnt-die-politik-man-schiesst-sich-ins-knie-damit;

(12 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/strafzoelle-autoindustrie-handelskrieg-usa-china-1.7251371

(13) https://www.iwd.de/artikel/interview-durch-strafzoelle-wird-alles-teurer-625719/?utm_source=nl&utm_medium=email&utm_campaign=kw28-2024&utm_content=interview-kirchhoff-automobilindustrie

 

Einigung in der Bundesregierung: Grüße aus der Mottenkiste statt Fortschrittskoalition

Di, 09/07/2024 - 16:20

Worklife-Balance ist ein wichtiges Thema in den Betrieben, wie Berichte von Betriebsräten zeigen.
Auszubildende wollen nach Übernahme Nachtschichten vermeiden, Bewerber fordern eine 4-Tage-Woche.
Die Bundesregierung jedoch ignoriert diese Stimmung in den Betrieben.

Die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung scheinen eher aus der Mottenkiste zu stammen, statt von einer selbsternannten „Fortschrittskoalition“:
Steuerfreie Überstundenbezahlung und Arbeiten trotz Renteneintritt scheinen Ideen gegen den Fachkräftemangel zu sein.

Nach wochenlangen Verhandlungen haben sich Bundeskanzler Scholz (SPD), Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) und Bundesfinanzminister Lindner (FDP) auf einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr sowie den Etatentwurf für 2025 geeinigt, meldet zeit.de
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-07/bundeshaushalt-einigung-ampel-koalition-spd-saskia-esken-lars-klingbeil

Das Bundeskabinett soll den Entwurf am 17. Juli beschließen, anschließend geht er an den Bundestag.

Medienberichten zufolge will die Regierung Überstunden und Arbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus attraktiver machen.
Dafür sollen offensichtlich auf bezahlte Überstunden keine Steuern und Abgaben mehr bezahlt werden. In Betrieben mit Tarifbindung gelte das für Mehrarbeit oberhalb von 34 Wochenarbeitsstunden, in Firmen ohne Tarifvertrag ab der 41. Arbeitsstunde, meldet tagesspiegel.de https://www.tagesspiegel.de/politik/bericht-uber-plane-der-ampelkoalition-empfanger-von-burgergeld-mussen-offenbar-arbeitsweg-von-bis-zu-drei-stunden-akzeptieren-11976677.html

Die Beschäftigten haben hierzulande im vergangenen Jahr laut Tagesschau 1,3 Milliarden Überstunden geleistet (www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/arbeit-deutschland-ueberstunden-100.html).
Demnach fielen pro Arbeitnehmer 2023 durchschnittlich 31,6 Überstunden an, allerdings war laut Bericht mehr als die Hälfte der geleisteten Überstunden 2023 unbezahlt.
Dies vor allem auch deshalb, weil die Bundesregierung bis heute eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes nicht umsetzt, nach der Arbeitszeiten zu erfassen sind.
Gesetz dazu fehlt bis heute.

Rentner, die weiter arbeiten, soll demnach nicht nur die Auszahlung des Arbeitgeberanteils zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung erhalten können, sondern zusätzlich eine Renten-Aufschub-Prämie wählen können. Dabei erhalte der über die Altersgrenze hinaus arbeitende Mitarbeiter eine Einmalzahlung in Höhe der Rente, die ihm sonst ausgezahlt worden wäre.

Fachkräftemangel setzt Unternehmen unter Druck, Ideen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu entwickeln: 45 Unternehmen und Organisationen testen die Vier-Tage-Woche. Ein halbes Jahr lang wird die 100-80-100-Variante getestet: 100 Prozent Leistung in 80 Prozent der Zeit für 100 Prozent Lohn.
Initiiert wurde das Projekt von der Unternehmensberatung Intraprenör, die wiederum mit der Organisation „4 Day Week Global“ zusammenarbeitet. Mehr als die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen hat zwischen zehn und 49 Beschäftigte. Am stärksten vertreten ist die IT-Branche (14 Prozent), aber auch Handwerk und Industrie (je sechs Prozent). https://www.telepolis.de/features/Die-Vier-Tage-Woche-Ein-neues-Modell-fuer-die-Zukunft-der-Arbeit-im-Test-9630436.html

Manche Unternehmen schaffen Fakten. Auf einen freien Freitag setzt unter anderem die Volksbank Kaiserslautern: Bereits im Sommer 2022 führte die Bank eine 34,5-Stunden-Woche ein und senkte die Arbeitszeit somit um 4,5 Stunden wöchentlich.
Der Lohn blieb gleich. Die Zahl der Bewerber auf freie Stellen stieg seitdem.

Die Entwicklung bietet Gewerkschaften Anknüpfungspunkte für Forderungen nach kollektiver Arbeitszeitverkürzung.

Von der Bundesregierung wird es dazu wohl keine Unterstützung geben.

Junge Welt: Warum steht diese Zeitung überhaupt im Verfassungsschutzbericht?

Di, 09/07/2024 - 10:05

Wenn legitime Kritik zum vermeintlichen Verfassungsfeind wird, stirbt ein Stück Pressefreiheit einen stillen Tod.
Die Presse- und Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut – das betonte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2005.




Damals war die Frage: Darf die rechte Zeitung Junge Freiheit im Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen auftauchen? Das Gericht urteilte: Nein, potenzielle Leser:innen könnten vom Kauf abgehalten und Inserent:innen zum Boykott verleitet werden. Deshalb schränke die Erwähnung der Zeitung im NRW-Bericht die Pressefreiheit unzulässig ein.

Dieses Grundsatzurteil gilt für alle Zeitungen, sollte man meinen. Scheinbar gilt es nicht für die linke Zeitung Junge Welt. Denn seit 2021 erscheint sie im Jahresbericht des deutschen Verfassungsschutzes.
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2024/06/vsb2023.html


Der meint, Zeitung, Verlag und deren Genossenschaft seien „extremistische Personenzusammenschlüsse“, die „verfassungsfeindliche“ und umstürzlerische Absichten verfolgten. Deshalb sei das Ziel, der Zeitung den „weiteren Nährboden zu entziehen“, wie die Bundesregierung im Mai 2021 auf eine parlamentarische Anfrage schrieb.

Der Grund für diese Staatsgewalt: Die Junge Welt bekennt sich zum Marxismus. Das heißt, sie „stellt die Ökonomie ins Zentrum, fragt nach Interessen, Klassenwidersprüchen und der Veränderbarkeit sozialer Verhältnisse“. Kurz, die Zeitung betreibt Kapitalismuskritik und vertritt so oft andere Positionen als Mainstream-Medien. Sie ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für diplomatische Lösungen in Nahost. Diese Blattlinie vertritt sie erfolgreich. Ihre Abo-Zahlen steigen.

Der Verfassungsschutz beäugt diesen Erfolg kritisch. Die Zeitung baue „Gegenöffentlichkeit“ auf, meint er, mit dem Ziel, „die freiheitliche Demokratie durch eine sozialistische/kommunistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen“. Ein scheinbarer Beweis für diese Umsturz-Absichten: die jährliche Durchführung der Rosa-Luxemburg-Konferenz. https://www.berliner-zeitung.de/topics/rosa-luxemburg
Tausende Menschen diskutieren über Themen wie soziale Ungleichheit. Nun ist die Frage: Ist das Gesellschaftsanalyse oder Anstiftung zur Revolution?

Immerhin gelten 16,8 Prozent der Deutschen (14,2 Millionen Menschen) als armutsgefährdet – sie verdienen weniger als 1168 Euro im Monat. Dagegen besitzen die fünf reichsten deutschen Unternehmensfamilien etwa 250 Milliarden Euro – also mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Marxismus hin oder her, das klingt nach Zweiklassengesellschaft. Laut Bundesregierung verstößt aber schon die Klassen-Idee gegen die Menschenwürde, denn Menschen würden „zum ‚bloßen Objekt‘ degradiert“, schrieb sie im Mai 2021.

„Das ist alles komplett absurd“, sagt Verlagsgeschäftsführer Dietmar Koschmieder im Gespräch. „Wir wollen eine gute Zeitung machen, nicht mehr und nicht weniger.“ Die Nennung der Jungen Welt im Verfassungsschutzbericht mache das schwer, denn sie bringe „erhebliche Nachteile im Wettbewerb“. Werbetafeln könnten nicht angemietet und Werbespots nicht ausgestrahlt werden. Institutionen verweigerten Presseauskünfte.

Deshalb klagt die Junge Welt seit 2021. Die Zeitung wolle „eine faire Chance auf dem Pressemarkt“, sagt Koschmieder. Nach Revolution klingt das kaum. Die 100.000 Euro Prozesskosten beglichen bisher Spendengelder. Der nächste Gerichtstermin ist am 18. Juli. Man wünscht der Zeitung Erfolg. Denn wenn legitime Kritik zum vermeintlichen Verfassungsfeind wird, stirbt ein Stück Pressefreiheit einen stillen Tod.

 

Erstveröffentlichung berliner-zeitung

 

 

 

 

Grundzüge der Wirtschaftspolitik der neuen Labour-Regierung: Großbritanniens Securonomics

Di, 09/07/2024 - 08:28

Es gab Abenomics in Japan, Modinomics in Indien und Bidenomics in den USA.  Jetzt haben wir Securonomics in Großbritannien.  Dies ist eine elegante Bezeichnung für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der neuen Labour-Regierung des Vereinigten Königreichs, die von der neuen Finanzministerin, Rachel Reeves, einer ehemaligen Ökonomin der Bank of England, erläutert wurde.  

Als Rachel Reeves vor den jüngsten Wahlen im Vereinigten Königreich in Washington war, erklärte sie ihren Zuhörern, dass "die Globalisierung, wie wir sie einst kannten, tot ist".  Und sie hatte Recht.  Der große Boom des Welthandels seit den 1990er Jahren kam nach der Großen Rezession von 2008-9 zum Stillstand, und seitdem stagniert der Welthandel im Wesentlichen.  Und das hat sich auch im Vereinigten Königreich gezeigt, das nun das größte Handelsdefizit seiner Geschichte aufweist.  Und es geht nicht nur um den Handel.

Die Auslandsinvestitionen, auf die sich das britische Kapital seit den 1980er Jahren zunehmend verlassen hat, sind zurückgegangen.  Das Vereinigte Königreich erhält weniger produktive Investitionen ausländischer Unternehmen in seine Wirtschaft. Die Zahl der ausländischen Direktinvestitionsprojekte, die im Vereinigten Königreich ankommen, ist in den letzten zwei Jahren um 6 % gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen und hat 2023 einen Tiefstand von 1.555 erreicht.  Dies entspricht einem deutlichen Rückgang von 16 % seit der Pandemie.

Die COVID-Pandemie war der letzte Strohhalm.  Die globalen Lieferketten brachen zusammen, Handel und Investitionen gingen zurück.  Das Weltwirtschaftswachstum verlangsamt sich - der IWF spricht von den "lauen Zwanzigern" und die Weltbank prognostiziert die schlechtesten Wachstumsraten seit 30 Jahren.  Reeves ist klar geworden, dass sich Großbritannien nicht länger auf die globale Expansion verlassen kann.  Das Land muss für sich selbst sorgen.

Daher haben wir die "Securonomics", d.h. einen nationalistischen Ansatz für die Wirtschaft.  Das Schlagwort vieler G7-Länder lautet "Industriestrategie".  Freie Märkte" sind out; jetzt müssen die Regierungen politische Maßnahmen ergreifen, die ihre eigenen kapitalistischen Sektoren anleiten und ermutigen, in den "richtigen Bereichen" zu investieren und zu produzieren, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.  Während Abenomics, Modinomics und Bidenomics zumeist eine Mischung aus altmodischen keynesianischen Steuer- und Kreditanreizen zur Ankurbelung der "Gesamtnachfrage" und der Beschäftigung sowie neoliberalen Strukturmaßnahmen zur Schwächung der Arbeiterbewegung und zur Privatisierung von Staatsvermögen waren, behauptet Reeves, dass Securonomics anders ist.

In ihrer jüngsten Mais-Vorlesung (Mais ist eine Wirtschaftshochschule im Herzen der Londoner City), in der sie vor Vertretern des Großkapitals und der Finanzwelt sprach, vertrat Rachel Reeves eine andere Auffassung: dass ein "aktiver" Staat die Sicherheit von Unternehmen garantieren kann, um eine "Plattform" der Sicherheit zu schaffen, von der aus wir "nachhaltiges Wirtschaftswachstum vorantreiben können".  https://labour.org.uk/updates/press-releases/rachel-reeves-mais-lecture/


Wie sie es ausdrückte: "Nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist der einzige Weg, um den Wohlstand unseres Landes und den Lebensstandard der arbeitenden Menschen zu verbessern. Deshalb ist dies die erste Aufgabe von Labour in der Regierung. Das bedeutet, dass wir wirtschafts- und arbeitnehmerfreundlich sind. Wir sind die Partei der Wohlstandsschaffung." Securonomics bedeutet, sich auf einen dynamischen und strategischen Staat zu verlassen.  Aber das "bedeutet nicht eine ständig wachsende Regierung, sondern eine aktivere, intelligentere Regierung, die in Partnerschaft mit der Wirtschaft, den Gewerkschaften, den lokalen Verantwortlichen und den dezentralen Regierungen arbeitet."

Die neue Labour-Regierung wird also nicht darauf warten, dass der kapitalistische Sektor investiert, Arbeitsplätze schafft und wächst, sondern sie wird eingreifen, um ihn in die richtige Richtung für die Wiederbelebung der britischen Industrie zu "ermutigen". 
Dies ist keine Übernahme von kapitalistischen Sektoren durch den Staat.  Es wird mehr öffentliche Investitionen geben, aber nur dort, "wo sie zusätzliche Investitionen des privaten Sektors freisetzen, Arbeitsplätze schaffen und eine Rendite für die Steuerzahler erbringen können." 
Die Industriestrategie der Labour-Partei wird "aufgabenorientiert und auf die Zukunft ausgerichtet sein. Wir werden partnerschaftlich mit der Industrie zusammenarbeiten, um Chancen zu ergreifen und Wachstumshemmnisse zu beseitigen."

Dies erinnert stark an die Wirtschaftsstrategie von Mariana Mazzucato, der italienisch-amerikanischen linken Wirtschaftswissenschaftlerin, die der Meinung ist, dass der moderne Kapitalismus eine "zweckorientierte" Partnerschaft zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor braucht. 
https://thenextrecession.wordpress.com/2021/02/20/mission-impossible/

Mazzucato plädiert für eine öffentlich-private Partnerschaft, die "eine gemeinsame Vision für die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft und die öffentlichen Institutionen einfangen kann". Regierungen und kapitalistische Unternehmen sollten sich die Risiken teilen und dann die Gewinne ausschütten: "Es geht nicht darum, Märkte zu reparieren, sondern Märkte zu schaffen".  Mazzucato bringt es auf den Punkt: "Die Missionsökonomie bietet einen Weg, den Staat zu verjüngen und damit den Kapitalismus zu reparieren, anstatt ihn zu beenden." Das ist auch das Ziel der Securonomics.

Aber kann die Securonomics das Humpty Dumpty eines zerbrochenen Großbritanniens wieder zusammensetzen? 
Der Schlüssel muss ein starker Anstieg der produktiven Investitionen sein, um das Wirtschaftswachstum wiederherzustellen, das mehr Einkommen für alle und mehr Einnahmen für die Regierung bringt, damit sie in die Erfüllung der sozialen Bedürfnisse in den Bereichen Gesundheit und Sozialfürsorge, Bildung, Verkehr, Kommunikation und Wohnungsbau investieren kann - alles Bereiche, die im kaputten Großbritannien straucheln und versagen.
https://thenextrecession.wordpress.com/2024/07/02/broken-britain/

Woher sollen die zusätzlichen Investitionen kommen?  Wie ich in meinem letzten Beitrag über Großbritannien gezeigt habe, ist das Verhältnis zwischen Investitionen und BIP im Vereinigten Königreich erbärmlich niedrig (etwa 17 % des BIP im Vergleich zum G7-Durchschnitt von 23 %), und die Investitionen der großen Unternehmen sind mit 10 % des BIP sogar noch niedriger.  Bei den öffentlichen Investitionen liegt die Quote sogar bei nur 2 % des britischen BIP.

In einer kürzlich erschienenen LSE-Studie wird eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen um 1 % des BIP gefordert, was einem Anstieg von 26 Mrd. £ pro Jahr zu aktuellen Preisen entspricht.  https://www.lse.ac.uk/granthaminstitute/wp-content/uploads/2024/01/Boosting-growth-and-productivity-in-the-UK-through-investments-in-the-sustainable-economy.pdf

Doch was schlagen Rachel Reeves und Labour vor?  Sie planen lediglich 7,3 Milliarden Pfund "im Laufe des nächsten Parlaments" durch einen Nationalen Wohlstandsfonds, der "transformative Investitionen in allen Teilen des Landes" tätigen soll.  Die von Corbyn geführte Labour-Partei schlug 25 Milliarden Pfund vor, aber die Reeves-Starmer-Führung schlägt nur ein Viertel davon vor und einen Bruchteil von dem, was selbst die LSE-Ökonomen für nötig halten.  Für eine echte Umgestaltung der Industrie und des öffentlichen Dienstes sind in den nächsten fünf Jahren eher 60 Mrd. Pfund pro Jahr erforderlich, was einem Anstieg von mindestens 2-3 % des BIP pro Jahr entspricht.  Stattdessen sieht der Plan der Labour-Partei für uns einen Rückgang der öffentlichen Investitionen im Verhältnis zum BIP in diesem Parlament vor!

Natürlich hofft man, dass dieser winzige Anstieg der öffentlichen Investitionen "drei Pfund an privaten Investitionen für jedes Pfund an öffentlichen Investitionen anziehen und so im ganzen Land Arbeitsplätze schaffen wird".  Aber selbst wenn dies der Fall wäre (was zu bezweifeln ist), wäre die Gesamterhöhung immer noch weit, weit von dem entfernt, was nötig ist, um die britische Wirtschaft zu sanieren.

Warum sind die Labour-Führer so zögerlich, was die Erhöhung der öffentlichen Investitionen angeht? 
Der erste Grund ist, dass die Steuereinnahmen des Staates aufgrund der schwachen Wirtschaft des Vereinigten Königreichs zu niedrig sind, um höhere Investitionen zu finanzieren.  Die einzige Möglichkeit, dies zu tun, bestünde darin, dass die Regierung mehr Kredite aufnimmt, d.h. Staatsanleihen bei den Banken ausgibt usw.  Dadurch würde sich jedoch das Defizit im Staatshaushalt erhöhen und die Staatsverschuldung, die bereits ein Rekordniveau erreicht hat, steigen.

Ja, die Regierung könnte den fehlenden "fiskalischen Spielraum", wie er genannt wird, ignorieren und einfach viel mehr Kredite aufnehmen, in der Erwartung, dass die zusätzlichen Investitionen das Wachstum und die Einnahmen ankurbeln und sich so selbst auszahlen und eine steigende Schuldenlast vermeiden.  Genau das hat Sheila Graham, die linke Vorsitzende der größten britischen Gewerkschaft UNITE, Reeves vorgeschlagen.  https://www.theguardian.com/politics/article/2024/jul/07/unite-sharon-graham-rachel-reeves-fiscal-rules-growth-borrow-invest

Wenn man Anhänger der modernen Geldtheorie (MMT) ist, würde man sich gar nicht erst die Mühe machen, Anleihen auszugeben, sondern einfach "Geld drucken", d. h. die Bank of England dazu bringen, den Banken weitere Milliarden zu leihen.

Aber was würden ausländische Investoren und Anleihenbesitzer davon halten?  Im Oktober 2022 schlug die kurzzeitig ernannte Tory-Premierministerin Liz Truss in ihrem Streben nach "Wachstum" genau das vor.  Und was geschah? Die Bank of England tat das Gegenteil und erhöhte die Zinssätze, während die Inhaber ausländischer Anleihen in die Kapitalflucht gingen und das Pfund im Wert einbrach.  Die Labour-Führer haben Angst vor einem ähnlichen Investitionsstreik der Finanzmärkte, wenn sie "zu viel" leihen.  Stattdessen planen sie, zu wenig zu leihen.

Starmer-Reeves haben auch die Londoner City beschwichtigt, indem sie ankündigten, dass sie weder die Einkommenssteuersätze noch die Sozialversicherungssätze erhöhen werden (da die Steuereinnahmen im Verhältnis zum schwachen BIP einen Nachkriegshöchststand erreicht haben).  Sie haben sogar versprochen, die Körperschaftssteuer für Großunternehmen - mit 25 % bereits die niedrigste in der G7 - nicht zu erhöhen, um Investitionen nicht "abzuschrecken".  Sie sagen sogar, dass sie, wenn andere Länder ihre Steuersätze senken, dem Wettlauf nach unten folgen werden, indem sie sie weiter senken.  Und sie werden weiterhin 100%ige Steuervergünstigungen für Kapitalinvestitionen gewähren. 
Die Ironie dabei ist, dass Senkungen der Unternehmenssteuern und Steuerbefreiungen in den letzten zwei Jahrzehnten nirgendwo zu einer Steigerung der privaten Investitionen geführt haben.

Wo wird die Sicherheitspolitik ihre zaghafte Investitionsstrategie konzentrieren?  Die Antwort lautet: auf Finanzdienstleistungen, die Automobilindustrie (die sich vollständig in ausländischem Besitz befindet), Biowissenschaften und "kreative Sektoren" (Film, Design, Theater, Mode usw.).  Dies sind angeblich die Sektoren, in denen das Vereinigte Königreich einen Vorsprung hat.

Aber was ist mit den kaputten öffentlichen Diensten in Großbritannien?  Dem Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) mangelt es an Geld und Personal. Während des Wahlkampfs versprach Reeves, die wichtigsten Steuersätze, die drei Viertel der gesamten Steuereinnahmen ausmachen, nicht zu erhöhen.  Stattdessen setzt sie ihre Hoffnungen auf ein höheres Wachstum in Verbindung mit einer engen Spanne von Einnahmeerhöhungen im Wert von rund 8 Mrd. £.  Nach den jüngsten optimistischen Schätzungen des britischen Wirtschaftswachstums bedeutet dies, dass Reeves nur etwa 10 Mrd. Pfund für die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen zur Verfügung stehen, es sei denn, Labour bricht sein Versprechen, keine Steuern zu erhöhen oder mehr Kredite aufzunehmen. Das bedeutet, dass der brutale Sparkurs, den der NHS, die Kommunalverwaltungen, Schulen und Universitäten in den letzten zehn Jahren erlebt haben, weitergehen wird - zumindest bis das Wunder eines schnelleren Wachstums eintritt.

Der Nuffield Trust geht sogar davon aus, dass die aktuellen Ausgabenpläne der neuen Labour-Regierung für den NHS eine weitere Periode der Sparmaßnahmen bedeuten werden.  https://www.nuffieldtrust.org.uk/resource/how-much-spending-on-the-nhs-have-the-major-parties-committed-to-in-their-election-manifestos

Ein jährliches Wachstum der Gesamtausgaben für das Gesundheitswesen von 0,8 % würde dazu führen, dass die nächsten vier Jahre unter den Labour-Zusagen die knappsten in der Geschichte des NHS wären - knapper sogar als die "Spar"-Periode der früheren Tory-Koalitionsregierung, in der die Mittel zwischen 2010/11 und 2014/15 um real nur 1,4 % pro Jahr stiegen.

Was ist mit dem Wohnungsbau?  Die neue Labour-Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, in den nächsten fünf Jahren jährlich 300.000 neue Wohnungen zu bauen.  Das klingt gut, auch wenn das weit weniger ist als nötig und weit weniger als die Labour-Regierungen in den 1950er und 1960er Jahren gebaut haben.  Aber wie soll das geschehen?

Es wird nicht durch eine Nationale Baugesellschaft geschehen, die Bauarbeiter, Architekten usw. direkt beschäftigt, um gute Häuser und Wohnungen zu bauen, die im Besitz des Gemeinderats sind, zu vernünftigen Mieten für die Mieter, um die riesigen Wartelisten abzubauen.  Nein, der gesamte Wohnungsbauplan wird davon abhängen, dass private Bauträger Wohnungen zum Verkauf bauen, wobei die "erschwinglichen Wohnungen" nur minimal überwacht werden.  Den Labour-Führern geht es vielmehr darum, die Planungsvorschriften in den Kommunen aufzuheben, damit private Bauträger bauen können, wo und wie sie wollen.  Und wer sind diese Bauträger?  Wie bereits erwähnt, handelt es sich um Unternehmen wie die amerikanische Investmentgesellschaft BlackRock, die bereits 260.000 britische Wohnungen besitzt, mit denen sie im letzten Jahr rund 1,4 Milliarden Pfund an Gebühren verdient hat.  BlackRock wird also die Nutznießer dieser Wohnungsexpansion sein.

Securonomics bedeutet, dass es keine öffentliche Übernahme der produktiven Sektoren der Wirtschaft, des Finanzsektors oder der großen Investmentfonds geben wird. 
Man denke nur an das Desaster und die Skandale bei der Royal Mail seit ihrer Privatisierung, die jetzt von ihren Private-Equity-Eigentümern an einen tschechischen Milliardär verkauft wird.  Was ist der Plan von Labour? "Royal Mail bleibt ein wichtiger Teil der britischen Infrastruktur. Die Labour-Partei wird sicherstellen, dass jede vorgeschlagene Übernahme gründlich geprüft wird und dass angemessene Garantien gegeben werden, die die Interessen der Beschäftigten, der Kunden und des Vereinigten Königreichs schützen, einschließlich der Notwendigkeit, eine umfassende Universaldienstverpflichtung aufrechtzuerhalten."  Es geht also um Regulierung, nicht um die Wiederherstellung des öffentlichen Eigentums an diesem "wichtigen Teil der britischen Infrastruktur".

Dann sind da noch die Energie- und Wasserversorgungsunternehmen.  Der Skandal dieser privatisierten Versorgungsunternehmen ist für alle sichtbar, wo die Aktionäre Milliarden an Dividenden erhalten haben, während die Schulden und Preise steigen. Der totale Zusammenbruch der Wasserinfrastruktur hat einen Punkt erreicht, an dem die Wasserversorgung, die Flüsse und die Strände des Vereinigten Königreichs nicht mehr sicher zum Trinken oder Anfassen sind.  Und dennoch hat Labour keinen Plan, diese Versorgungsunternehmen wieder in öffentliches Eigentum zu überführen.  Stattdessen will sie eine "bessere Regulierung".  Offensichtlich will sie weniger Regulierung im Wohnungswesen und mehr Regulierung bei Versorgungsunternehmen und der Post. 

Die Labour-Partei hat zugesagt, die Eisenbahn wieder in öffentliches Eigentum zu überführen, allerdings nur schrittweise, wenn die privaten Konzessionen (etwa zehn Jahre lang) auslaufen.  Die Labour-Partei unter Corbyn hat eine kostenlose Breitbandverbindung für alle als öffentliches Recht versprochen.  Dies wurde von der rechten Presse als "Kommunismus" bezeichnet.  Die Labour-Partei unter Starmer schlägt lediglich "einen erneuten Vorstoß vor, um das Ziel einer vollständigen Gigabit- und nationalen 5G-Abdeckung bis 2030 zu erreichen."

Securonomics bedeutet jedoch mehr Investitionen in einem Schlüsselsektor: Verteidigung.  Die neue Labour-Regierung hat sich verpflichtet, die Verteidigungsausgaben in dieser Legislaturperiode auf 2,5 % des BIP zu erhöhen, um das Land zu "sichern", angeblich vor einer drohenden Invasion durch Russland oder China - in Wirklichkeit aber, um die Forderungen der USA und der NATO zu erfüllen.  Die Verteidigungsausgaben des Vereinigten Königreichs belaufen sich bereits auf 2,3 % des BIP, aber es soll noch mehr ausgegeben werden, während der NHS im Sparmodus bleibt.

Securonomics ist in Wirklichkeit eine erneute Rückkehr zur Idee der "öffentlich-privaten Partnerschaft".  Das bedeutet, dass die Regierung etwas mehr Kredite aufnimmt oder Steuern erhebt, um etwas mehr zu investieren, hauptsächlich um den kapitalistischen Sektor zu ermutigen und zu subventionieren, mehr zu investieren, und ihm den Löwenanteil der zusätzlich erzielten Einnahmen zu überlassen. Die Investitionen des öffentlichen Sektors werden hauptsächlich dazu dienen, den kapitalistischen Sektor bei seinen Investitionen zu unterstützen, und nicht, ihn zu ersetzen.  Und das macht Sinn, wenn Ihre Grundüberzeugung darin besteht, den Kapitalismus besser funktionieren zu lassen.  Die kapitalistischen Investitionen im Vereinigten Königreich sind etwa fünfmal so hoch wie die öffentlichen Investitionen.  Es wäre eine andere Wirtschaft, wenn dieses Verhältnis andersherum wäre.  Aber das wird im Rahmen der Securonomics nicht passieren.

Das Problem ist, dass der kapitalistische Sektor in den letzten drei Jahrzehnten nicht genug investiert hat, und ein Großteil der Investitionen floss nicht in produktive Wirtschaftsbereiche, sondern in die Bereiche Finanzen, Immobilien, Verteidigung usw.  Der Grund dafür ist, dass es einfach nicht profitabel genug war, anderswo zu investieren.  Die Pläne von Labour deuten nicht auf eine Änderung dieses Trends hin.


Securonomics ist angeblich eine Strategie für das britische Kapital, mit Hilfe einer wirtschaftsfreundlichen Regierung die "Kontrolle" über seine Wirtschaft zu übernehmen und sich so in einer zunehmend stagnierenden und protektionistischen Weltwirtschaft zu behaupten. 
Aber die britische Wirtschaft ist schwach, und sie kann sich den Drehungen und Wendungen der globalen kapitalistischen Wirtschaft nicht entziehen und wird es auch nicht tun.  Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Weltwirtschaft noch vor Ende dieses Jahrzehnts einen neuen Einbruch erleben wird.  Einbrüche treten alle 8-10 Jahre auf, und die letzten beiden waren die schlimmsten in der Geschichte des Kapitalismus.  Auch ohne einen Einbruch verlangsamt sich das weltweite Wachstum, und der Handel stagniert, ohne dass es Anzeichen für eine Verbesserung gibt.

Die Pläne der Labour-Partei bieten keine "Sicherheit" gegen die Wechselfälle der kapitalistischen Akkumulation. 
Nach jedem vorangegangenen Einbruch wurde die amtierende Regierung abgesetzt (Labour 2010 nach dem Einbruch von 2008-9 und die Konservativen schließlich 2024 nach dem pandemischen Einbruch von 2020).  Dies könnte eine Labour-Regierung für eine Amtszeit sein.

Weltwirtschaftsforum - Das Jahresmeeting AMNC24 in China

Di, 02/07/2024 - 08:24

Das AMNC, Annual Meeting of the New Champions, ist das jährliche Treffen der New Champions, eine vom Weltwirtschaftsforum organisierte Veranstaltung. Das 15. Jahrestreffen fand im vom 25. – 27. Juni 2024 in Dalian, China statt. Der Hauptanlass des 15. Jahrestreffens der New Champions war darauf ausgerichtet, eine Wiederbelebung der Weltwirtschaft durch integratives, nachhaltiges Wachstum zu erörtern.
Das Forum wird  als das  Sommer-Davos bezeichnet.



Über  1.600 globale Führungskräfte aus über 80 Ländern kamen Ende Juni im nord-chinesischen  Dalian  zusammen, um Lösungsansätze und Herangehensweisen zur Bewältigung der die Weltwirtschaft derzeit prägenden Problemfelder  zu erörtern.  
Neben der dringlichen Vereinbarung zur Neugestaltung der globalen Wirtschaft waren weitere  Kernthemen die Wirtschaftstätigkeit im Zeitalter der künstlichen Intelligenz, neue absehbare Grenzen für Industrien, die Rolle Chinas in der Weltwirtschaft sowie Themen der Lebensgestaltung für die Menschen und die Verbindung von Klima, Natur und Energie.
https://www.weforum.org/agenda/2024/06/3-things-to-know-about-amnc/

Der gewählte Zeitpunkt für dieses Forum erfolgte in einer Zeit, in der globale Herausforderungen wie der Klimawandel und die Nahrungsmittel- und Energiesicherheit zunehmen, verbunden mit einer komplexen internationalen Situation und einer schwachen Erholung der Weltwirtschaft. Die weiteren Ausführungen  beziehen sich in erster Linie auf die Veranstaltung des AMNC24; eine umfassende Einschätzung der Weltwirtschaft und ihre „sanfte Landung“ ist dem Beitrag unter dem folgenden link zu entnehmen:
https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5260-eine-sanfte-landung-oder-ein-faules-ei-a-soft-landing-or-curates-egg

China als Ausrichter  und Veranstalter brachte zu Beginn des internationalen Meetings zum Ausdruck, dass es darum geht, sich auf die  Förderung neuer Wachstumsmotoren zu konzentrieren und dabei die regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verstärken. Und Es sei zudem auch wichtig, sich darüber auszutauschen, wie ein stabiles globales Entwicklungsumfeld sicherzustellen sei,   indem man die Auswirkungen der  aktuellen Kriege minimiere. China betonte einmal mehr seine Haltung zu offener Zusammenarbeit und gegenseitigem Nutzen insbesondere auch bei der Entwicklung neuer Bereiche wie neue Energien und künstliche Intelligenz.


Die Globalisierung ist "nicht länger eine westlich orientierte Geschichte"

Führende Politiker aus den Teilnehmerstaaten und Wirtschaftsexperten befassten sich in den eigens dafür konzipierten Foren mit der Situation der besonderen Beziehung der Wirtschaftsmächte USA und China. Dabei stand die Dringlichkeit einer Lösung der Handelsspannungen zwischen den beiden Ländern an oberster Stelle, um globales Wachstum zum Vorteil anderer beteiligter Staaten, vor allem des globalen Südens, zu erleichtern und zu verstärken. Experten legten dar, dass eine Verschiebung der bisherigen Machtkonstellationen durch eine Neuausrichtung der Handelsrouten, bei denen auch die Handelsblöcke wie der Afrikanischen Kontinentalen Freihandelszone (ACFTA) und der asiatischen ASEAN-Vereinigung (Association of South East Asian Nations) eine wichtige Rolle spielen.
Wirtschaftswissenschaftler wiesen darauf hin, dass die US-Präsidentschafts-Wahlen im November dieses Jahres  die Unsicherheit über die künftigen internationalen Beziehungen noch verstärken werden. Aber eine Entkopplung der beiden größten Volkswirtschaften sei rational nicht absehbar, nachdem der Austausch von Produktionsgütern zwischen den beiden Ländern zunehmend über den Aufbau von Produktionsstandorten in Drittländern und neuen Handelsrouten erhalten bliebe.

Der chinesische Premier Li Qiang wiese darauf hin,  dass der Rückgriff auf regressive Maßnahmen zur Entkopplung die Welt in eine zerstörerische Spirale ziehen könnte, in der der erbitterte Wettbewerb um ein größeres Stück des Kuchens letztlich in einer Verkleinerung ende.
„Die Realität ist, dass wir in einer viel stärker vernetzten Welt leben. Aber wegen dieser Spannungen wird diese Verbindung andere Formen annehmen."

Der Wirtschaftshistoriker und Analyst Adam Tooze brachte zum Ausdruck, dass die Globalisierung nicht länger eine westlich geprägte Geschichte sei, sondern etwas, das Regionen auf der ganzen Welt auf dramatische Weise beträfe.
Nach Auffassung des Wirtschaftsministers von Malaysia müssten die ASEAN-Länder enger zusammenarbeiten, um in wichtigen Bereichen wie Handel und Einsatz von Kapital und Technologie weiterhin erfolgreich zu sein:
"Wir sind klein, wir sind bündnisfrei, aber wir sind sehr offen. Es ist ein fester Bestandteil der aufstrebenden Volkswirtschaften, sich zusammenzutun, um sicherzustellen, dass wir nicht von allem, was passiert, gefangen werden."

Busi Mabuza, Vorsitzender der Industrial Development Corporation of South Africa, forderte die Länder auf, sich zum Wohle aller von kurzfristigem Denken zu lösen:

"Wir müssen die Autonomie der anderen respektieren und zusammenarbeiten... und [wir müssen] eine langfristige Perspektive einnehmen -  kurzfristiges Denken ist sehr kostspielig. Es ist sehr wichtig, dass wir uns alle dazu verpflichten, diese Welt viel besser zu verlassen, als wir sie vorgefunden haben."

Selbst der stellvertretende geschäftsführende Direktor des IWF, Bo Li, sah sich veranlaßt, darauf hinzuweisen, dass es wichtig sei,  die  Zusammenarbeit der Länder zur Lösung gemeinsamer Herausforderungen zu fördern.

China´s Momentum des Wachstums

Das Weltwirtschaftsforum des diesjährigen Sommers verdeutlichte die zentrale Bedeutung von China als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und größter Schwellenmarkt für das künftige globale Wachstum. Das Land spiele in mehrfacher Hinsicht eine entscheidende Rolle bei der Förderung der weltweiten wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Seine robuste Wirtschaftsleistung mit einem BIP-Wachstum von 5,3 % im ersten Quartal 2024 macht das Land zu einem wichtigen Faktor für das globale Wirtschaftswachstum.
Im Jahr 2023 entfielen rund 30 % des weltweiten Wachstums auf China.
Das IWF hatte seine Prognose für das Wirtschaftswachstum Chinas für das Jahr 2024 von 4,6 Prozent im April auf 5 Prozent angehoben, was auf ein starkes BIP-Wachstum im ersten Quartal 2024 zurückzuführen war.
 Dennoch blieben die Ökonomen im Hinblick auf das Wachstum der Weltwirtschaft für das Jahr 2024 weiterhin vorsichtig optimistisch. So sind auch die Aussagen von IWF-Chefin Kristalina Georgieva, China stehe an einer "Weggabelung" und müsse sich für eine bewährte Politik entscheiden oder sich für ein "hochwertiges Wachstum" neu erfinden, als eine Aufforderung an China zu deuten, chinesische Wachstumsimpulse für die Weltwirtschaft zu initiieren.
Der chinesische Ministerpräsident Li Qiang verwies seinerseits auf die staatliche Planungsvereinbarung für das Jahr 2024, die ein Wirtschaftswachstum analog der Prognose des IWF  von 5,0% vorsieht:
 
"Generell befindet sich Chinas Wirtschaft im Aufschwung, aber das heißt nicht, dass sie ohne Probleme ist. Der Erholungsprozess steht noch nicht auf einem sehr soliden Fundament.“

 

Befürworter der Offenheit

China unterstreicht auf dem Weltwirtschaftsforum die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit und spricht sich mit klaren Worten gegen  Protektionismus aus. So betonte  Li Qiang auf dem Forum  die Notwendigkeit einer integrativen Denkweise und einer kollektiven Ausweitung der wirtschaftlichen Möglichkeiten.  Ganz im Sinne einer multipolaren Ausrichtung der chinesischen  Außenpolitik sei sein Land bereit, sich mit allen Ländern zusammenzutun, um das riesige Schiff der Weltwirtschaft zu manövrieren und eine noch bessere Zukunft für die Menschheit zu schaffen. Er benannte dabei eine Vielzahl von Sektoren - von KI bis zur Biomedizin - von denen erwartet wird, dass sie sich "zu Säulenindustrien mit einem Volumen von mehreren Billionen Dollar entwickeln werden".


Anspruch einer führenden Rolle bei Innovationen

Mit über 400.000 Hightech-Unternehmen und 100.000 spezialisierten KMU spielt China  auch eine zentrale Rolle bei der grünen Transformation, einem weiteren Wachstumssektor, insbesondere in der Elektrofahrzeugindustrie. Infolge seiner technologischen Fortschritte positioniert sich  China als Innovationsführer und weckt weltweites Interesse an einer Zusammenarbeit im Hightech-Sektor.

"China investiert in großem Umfang in Europa, indem es direkt Anlagen und Fabriken für Batterien und EV-Plattformen errichtet", sagte Jin Keyu, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics. Sie wies darauf hin, dass bis 2040 45 Millionen EV-Fahrzeuge benötigt würden. "Billionen von Dollar an Investitionen sind nötig: China wird dabei eine sehr wichtige Rolle spielen."
China unterstreicht sein Engagement für eine grüne Entwicklung und seine Führungsrolle beim Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft, die sich an den globalen Nachhaltigkeitszielen orientiert.
Es bleibt aber anzumerken, dass Chinas internationale Verpflichtung der Kohlenstoffneutralität einer raschen und tiefgreifende Umgestaltung des Energiesektors konsequent fortgeschrieben und umgesetzt werden sollte.  
Um den Höhepunkt der CO2-Emissionen Chinas vor 2030 zu erreichen, sind Fortschritte in drei Schlüsselbereichen erforderlich: Energieeffizienz, erneuerbare Energien und Reduzierung des Kohleverbrauchs. In der APS wächst Chinas Primärenergiebedarf bis 2030 wesentlich langsamer als die Gesamtwirtschaft. Dies ist hauptsächlich das Ergebnis von Effizienzsteigerungen und einer Verlagerung weg von der Schwerindustrie. Ein sich wandelnder Energiesektor führt zu einer raschen Verbesserung der Luftqualität. Die Solarenergie wird bis etwa 2045 zur größten Primärenergiequelle. Die Nachfrage nach Kohle sinkt bis 2060 um mehr als 80 %, die nach Öl um etwa 60 % und die nach Erdgas um mehr als 45 %. Bis 2060 wird fast ein Fünftel des Stroms zur Erzeugung von Wasserstoff verwendet. https://www.iea.org/reports/an-energy-sector-roadmap-to-carbon-neutrality-in-china/executive-summary

 

Es gibt keinen plausiblen Weg zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 °C ohne China.Im September 2020 kündigte Präsident Xi Jinping an, dass China "anstrebt, den Höhepunkt der CO2-Emissionen vor 2030 zu erreichen und vor 2060 kohlenstoffneutral zu werden". Diese neue Vision für Chinas Zukunft wurde 40 Jahre nach dem Beginn der bemerkenswerten Reise des Landes in Richtung wirtschaftlicher Modernisierung verkündet, und dies in einer Zeit, in der sich die wichtigsten Volkswirtschaften der Welt zunehmend darin einig sind, dass bis Mitte des Jahrhunderts weltweit Netto-Null-Emissionen erreicht werden müssen. Doch kein Versprechen ist so bedeutsam wie das Chinas: Das Land ist der weltweit größte Energieverbraucher und Kohlenstoffemittent, der für ein Drittel der globalen CO2-Emissionen verantwortlich ist. Das Tempo, mit dem China seine Emissionen in den kommenden Jahrzehnten reduziert, wird entscheidend dafür sein, ob es der Welt gelingt, eine Erderwärmung von mehr als 1,5 °C zu verhindern.
https://www.iea.org/reports/an-energy-sector-roadmap-to-carbon-neutrality-in-china/executive-summary

 

Der globale Süden und das globale Wachstum

In den Sitzungen des sommerlichen Wirtschaftsforums  wurde auch die zunehmende Bedeutung Chinas für das Wachstum im Globalen Süden und im Nahen Osten behandelt.

In der Sitzung China und der Nahe Osten  beschrieb  Jordaniens Minister für digitale Wirtschaft und Unternehmertum, China als einen geschickten "älteren Bruder":
 "Wann immer etwas gebraucht wird, sind sie sofort zur Stelle. Sie machen es sehr kostengünstig, sehr schnell. Und sie liefern es einfach."

Es sei jedoch an der Zeit, dass China den "anderen Brüdern und Schwestern die Chance gebe, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln". China werde weiterhin "die Rolle eines strategischen, wichtigen Handels- und Wirtschaftspartners für die arabischen Länder und die Region des Nahen Ostens spielen", fügte er hinzu.
Literaturhinweis: https://www.isw-muenchen.de/broschueren/spezials/216-spezial-38

 

 Das Klima ist der "wichtigste Bereich der Zusammenarbeit“

In den Gremien, die sich mit der Frage des fortschreitenden Klimawandels befassten, herrsche Einigkeit darüber, dass es ein erklärtes Ziel der Beteiligten sein sollte, das ein  Bemühen des Schaffens von  Wohlstand für alle   durch ein nachhaltiges Wirtschaften gefördert werden muss.  Der Global Chief Economist von S&P Global wiese  in diesem Zusammenhang darauf hin, dass "das Klima ein globales öffentliches Gut ist“  und genug Geld auf der Welt da sei, um die Energiewende zu finanzieren. "Wir müssen es nur freisetzen und den Ländern zukommen lassen, die es brauchen". Mit gleicher Botschaft  der Wichtigkeit des Klimas für die internationale Zusammenarbeit wandte sich Jin Keyu, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics and Political Science, an die TeilnehmerInnen:
 
 "Seien wir ehrlich: In den Schwellen- und Entwicklungsländern klafft eine Lücke von 5 Billionen Dollar, die bis 2030 mit nachhaltigen und umweltfreundlichen Investitionen gefüllt werden muss, und bis dahin werden 45 Millionen Elektrofahrzeuge benötigt.
Lassen Sie uns also nicht über Überkapazitäten reden. In Afrika gibt es 600 Millionen Menschen ohne Strom... Hier spielt China eine Schlüsselrolle im Bereich der grünen Technologie, vor allem wenn es darum geht, Entwicklungsländern Zugang und Investitionen zu gewähren und den Übergang zu Elektroautos zu unterstützen.“

 Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze betont, dass es ein "Schnäppchen" beim Export chinesischer Elektroautos nach Europa zu machen gibt. "Die Europäer nehmen die Energiewende tatsächlich ernst. Und sie brauchen 10 Millionen [Elektro-]Fahrzeuge bis 2030. Und es ist unmöglich, dass sie diese zu erschwinglichen Preisen selbst herstellen können. Aber  China kann es."

 

KI und aufstrebende Technologien können das Spielfeld ausgleichen

Während des AMNC24 stellte das Forum seine jährlichen Top 10 der aufstrebenden Technologien 2024 vor, von denen sich viele auf die Bewältigung der Klimakrise konzentrieren. KI und neue Technologien könnten dazu beitragen, die Entwicklung und den Einsatz grüner Technologien zu beschleunigen und die Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen. Die Technologien müssten jedoch sorgfältig reguliert werden und der Mensch sei  in den Kreislauf mit einzubeziehen..

"Ich glaube, dass dies eine phänomenale Gelegenheit für die Entwicklungsländer ist, in die digitale Wirtschaft einzusteigen... Wo ihre physische Infrastruktur ebenfalls ein Defizit von Billionen von Dollar aufweist, könnten sie in der Lage sein, die traditionellen Industrien zu überspringen und in der Wertschöpfungskette nach oben zu klettern, denn eine der Bedrohungen für sie ist, dass sie ihren Weg aus der Armut immer noch selbst herstellen können."
Jin Keyu, Professor für Wirtschaftswissenschaften

KI-Assistenten haben das Potenzial, den Einfluss und die gerechte Entscheidungsfindung zu revolutionieren, so die Teilnehmer der Sitzung What can AI Assistants Do?

"Es besteht die enorme Möglichkeit, KI-Agenten und fortgeschrittenere Formen der KI, wie wir sie entwickeln, zu nutzen, um die Art und Weise, wie wir in unserer Gesellschaft Entscheidungen treffen, vollständig zu verändern, was zu gerechteren, effizienteren und besseren Gesellschaften führen wird", sagte Darko Matovski, Gründer und CEO von causaLens. https://iqcapital.vc/founder/darko-matovski/

 

Wirtschaftswachstum braucht "Investitionen in das Humankapital".


Innovationen im Bereich der grünen und aufstrebenden Technologien sind für das Wachstum notwendig, werden aber nur möglich sein, wenn  sichergestellt werden kann,  dass die Menschen Zugang zu den KI-gestützten Fähigkeiten erhielten,  so die Diskussionsteilnehmer. Erika Kraemer Mbula, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Johannesburg, wies darauf hin, dass der Zugang zur Technologie und die Lücken bei den digitalen Fähigkeiten eine Herausforderung für die Länder seien, die es zu überwinden gelte. Nach ihren Erkenntnissen habe die Verbreitung von Mobiltelefonen in den letzten zehn Jahren stark zugenommen, aber es bestünde immer noch eine digitale Kluft.
Der flächendeckende Zugang zum Internet und zur Elektrizität sei immer noch unzureichend. Diese digitale Kluft müsse unbedingt überwunden werden, sonst drohe, dass bei der KI-Bewegung viele zurückgelassen werden könnten.

Die teilnehmenden Länder des Sommer-Davos stimmten weitgehend darüber überein, dass die anhaltenden weltwirtschaftlichen Herausforderungen zu einer Zersplitterung der wirtschaftlichen Interdependenzen zwischen den Regionen und zur Verschärfung von Spannungen und Konflikten führen, wenn Eigeninteressen auf Kosten anderer verfolgt werden oder regressive Maßnahmen wie Abkopplung, Unterbrechung von Lieferketten und Errichtung isolationistischer Barrieren ergriffen werden. Das Sommer-Davos 2024 war ein wichtiger Indikator dafür, die Bedeutung der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas in einer Zeit der massiven Anti-China-Rhetorik der wortführenden USA die Bereitschaft des Landes zur internationalen Zusammenarbeit zu verstehen. Die Erwartungshaltungen der Beteiligten richteten sich darauf, die weitere Entwicklung insbesondere von China und seine internationale Ausrichtung  als ein wesentliches Element zu verstehen, die bestehenden praktischen Wege der Zusammenarbeit auszubauen und für ein gemeinsames Wachstum unter den sich veränderten Anforderungen zu kooperieren.

 

Literaturhinweise

http://english.scio.gov.cn/in-depth/2024-06/26/content_117274280.htm

https://www.chinadaily.com.cn/a/202406/27/WS667d2620a31095c51c50b309.html

https://english.news.cn/20240626/edf4ca9771b04852a86594afa2066a4d/c.html

https://www.chinadaily.com.cn/a/202406/27/WS667d2620a31095c51c50b309.html

http://www.china.org.cn/world/Off_the_Wire/2024-06/26/content_117275377.htm

https://www.chinadaily.com.cn/a/202406/27/WS667d2620a31095c51c50b309.html

https://english.www.gov.cn/news/202406/26/content_WS667c180ac6d0868f4e8e8981.htm

https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2022/10/12/china-s-transition-to-a-low-carbon-economy-and-climate-resilience-needs-shifts-in-resources-and-technologies

Ein Kurs der mangelnden Selbstachtung und Mutlosigkeit

Do, 27/06/2024 - 23:31

Marxistisch und sozialistisch denkende Menschen in der Linkspartei sollten erkennen, dass sie sich am 24.2.2022 von der bürgerlichen Klasse haben überrumpeln lassen.
Ein Plädoyer, in der neuen Blockkonfrontation als Widerstandskraft im Geist der historischen Arbeiterbewegung kraftvoll neu zu entstehen.

 

Ich habe nochmal etwas zur Krise der Linkspartei aufgeschrieben. Vielleicht ist es für irgendwen nützlich. Vieles davon habe ich schon kurz nach Beginn des Ukrainekrieges, ja schon zu Beginn der Coronakrise aufgeschrieben: in zwei Buchkapiteln, einer Themaseite der "jungen Welt", die damals viele provozierte, in Texten für "Jacobin" und in 2-3 Texten für den "Freitag". Vieles schrieb ich damals als Warnung oder Befürchtung.
Aus Befürchtungen sind, wenigstens nach meiner Einschätzung, heute Tatsachen geworden:

Die Haltung der Linkspartei zum Ukrainekrieg war von Anfang an sehr widersprüchlich. Die innerparteilichen Befürworter von Waffenlieferungen (und Sanktionen) in der Linkspartei hätten mit ihrer Haltung, prinzipentreu und nicht mit zweierlei Maß messend, zum Selbstverteidigungsrecht zu stehen, die Lieferung von Waffen in die halbe Welt fordern müssen.

Warum taten es signifikante Teile der Linken gerade hier und an dieser Stelle, wo es im Einklang mit "ihrer" Regierung, "ihrem" Staat und seiner Propaganda war? Und warum taten sie es woanders nicht, wo man genauso hätte argumentieren können, wo aber das exakte Gegenteil vom Einklang der Fall gewesen wäre: etwa zugunsten des irakischen und syrischen Staats zur Verteidigung ihrer jeweiligen territorialen Integrität gegen den kriegführenden NATO-Partner Erdogan? Oder in Bezug auf den Jemen oder in Bezug auf Palästina, das von der großen Mehrzahl der Staaten der Welt als Staat anerkannt wird und zugunsten der Selbstverteidigung gegen die israelische Okkupation?

Ich habe es schon vor zwei Jahren einmal so formuliert. Es kann nach meinem Dafürhalten auf diese Frage eben nur zwei Antworten geben:
Entweder waren Linke, die so argumentieren, rassistisch: Solidarität mit Ukrainern (weil sie christlich und weiß sind?), aber Doppelmoral und Aufkündigung der eigenen Prinzipienhaftigkeit in Bezug auf Muslime und Araber. Auch wenn ein solcher Rassismus in Deutschland seit 9/11 bei Antideutschen, Sarrazin und Co. tief verankert ist, will ich das nicht glauben und sähen sich auch viele Linke zurecht sehr ungern in dieses Licht gerückt.
Also kann es nur die zweite Antwort sein: Weil sich diese Kräfte in der Linken - wie schon in der Coronakrise - zum Anhängsel der Regierung und ihres neoliberalen Staates und seiner geopolitischen und imperialen Interessen gemacht haben.

Die Linke hatte sich über Jahre und Jahrzehnte unter den allergrößten intellektuellen, politischen und moralischen Anstrengungen gegen die brutale Hegemonie des Neoliberalismus und Imperialismus (Menschenrechtsbellizismus) der 1990er und frühen 2000er Jahre klare Positionen hart erarbeitet. Dazu gehörte: die NATO-Osterweiterung, der Ausschluss Russlands aus der östlichen Partnerschaft der EU usw. waren ein Fehler, das ost-westliche Zerren, wie Gysi es 2013/2014 nannte, an der Ukraine zerreißen das Land, es kann keinen Frieden und keine Sicherheit in Europa ohne eine kollektive Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands geben usw.

Nach dem 24.2.2022 hätte man also selbstbewusst sagen können: "Wir haben das immer gesagt, wir haben das vorhergesehen. Die von den Herrschenden bis hierhin betriebene Politik ist gescheitert." Und daraus seine konkreten Positionen begründen können. Stattdessen aber warf man das über Jahrzehnte hart politisch-intellektuell Erarbeitete quasi über Nacht über Bord. Stattdessen begab man sich auf das Terrain des politischen Gegners und der bürgerlichen Klasse, indem viele glaubten, noch jede Rede mit der richtigen Warnung vor Eskalation und der richtigen Forderung nach Diplomatie und Verhandlungen, anfangen zu müssen mit "Der durch nichts zu rechtfertigende, völkerrechtswidrige, verbrecherische Angriffskriegs Russlands...".

Mit anderen Worten: man setzte dem liberalen Narrativ nichts entgegen, um dann auf diesem vom Feind verminten Terrain und unter Dauerbeschuss seiner Propagandaapparate zu versuchen, noch bestimmte linke Positionen gegen Waffenlieferungen, gegen Eskalation, gegen Aufrüstung irgendwie zu halten, um Sorge zu tragen, dass bei der ganzen Militarisierung und inneren Zeitenwende die soziale Gerechtigkeit und Liberalität nicht vollends unter die Räder kommen.

Aber sich so ohne Not in die totale Defensive und auf das Terrain des Feindes zu begeben, musste scheitern: Wie soll irgendwer in der Bevölkerung verstehen, dass man verhandeln, auf Aufrüstung verzichten oder - Gott bewahre! - gar abrüsten will, wenn man der bürgerlichen Erzählung von "Wir die Guten" und drüben "Hitlermordor" nichts entgegensetzt? Das musste scheitern.

Das musste auch innerparteilich, wie man heute sieht, die Organisation zersetzen, weil natürlich die bürgerliche Propaganda in die Partei hineinwirkt, auf die Mitglieder und die Wähler.

Und nirgends zeigte sich das so deutlich, wie bei den Umfragen zu Waffenlieferungen oder dass 59% der Gesamtbevölkerung, aber nur 57% der Linken-Anhänger gegen die Lieferungen von Taurus-Raketen sind, die Moskau erreichen können und auf dem Weg dorthin 22 Atomsilos mit rund 90 Atomsprengköpfen passieren. Das war ein Symptom, eigentlich ein Offenbarungseid.

Und dieser Kurs der mangelnden Selbstachtung und Mutlosigkeit, den man am 22. Februar 2022 einschlug, musste m.E. bedeuten, dass man als Anhängsel der Regierung erscheint und aus dieser Defensive und Selbstblockade nicht mehr herauskommt.

Tatsächlich ist die Linke mit demselben Kurs und derselben Mutlosigkeit schon während der Coronakrise gescheitert, als man das sich über Jahrzehnte gegen die Hegemonie des Neoliberalismus hart erarbeitete politisch-intellektuelle Kapital zur Kritik der neoliberalen Gesundheitspolitik (Fallpauschalen und Ökonomisierung, Krankenhausprivatisierungen, Schließungen von Kliniken in der Fläche, Kürzungen von Intensivstationsbetten, Kürzungen im öffentlichen Sektor einschließlich der Gesundheitsämter usw.) über Nacht vernichtete, als dieses Kind seiner neoliberalen Eltern in den Brunnen gefallen war und die Gesundheitsämter natürlich keine Infektionsketten mehr nachverfolgen konnten, es zu kapitalistisch-künstlicher Triage in Zwickau und anderswo kam.

Anstatt das, was man immer politisch kritisiert und sich theoretisch hart erarbeitet hatte, jetzt in der Krise - erinnert sich noch jemand daran, dass Sozialisten wie Marx Krisen sehnlichst erwarteten? - in Anschlag zu bringen und auf den Feind zu richten, anstatt mit linkspopulärem Kurs die Diskurshoheit zu gewinnen, den Gegen-Pol zu besetzen, "issue ownership" zu erlangen, mit der Wahlbevölkerung als Zeugen die Herrschenden vor sich herzutreiben, anstatt zu sagen: "Wir haben es Euch doch immer gesagt, dass sowas passieren würde, wenn Ihr den Staat auf Kante näht und Gesundheit dem Profitprinzip unterwerft usw. Aber die, die das verbockt haben, sitzen immer noch an der Macht, die müssen weg!", was machte man?

Stattdessen stellte man sich schon damals buchstäblich ans Krankenbett des Kapitalismus, machte sich zum Krankenpfleger, der hinter der bürgerlichen Klasse und dem Kapitalismus aufkehrt, machte man sich die Probleme des kapitalistischen Staates zu eigen und anstatt die Pseudoalternative "Lockerung oder Lockdown" zu thematisieren, zu zeigen, dass man immer Recht gehabt hat, meinte man nun, die Suppe auslöffeln zu müssen, die der Kapitalismus und seine bürgerliche Klasse sich eingebrockt haben, meinte man, sich bei dieser Pseudoalternative auf eine Seite schlagen zu müssen, zugunsten von Lockdown, obwohl keine Partei in dieser Frage innerlich so gespalten war, wie die Linke. Dass damit aber größere Teile zur Basis, zu den Nichtwählern und über die "Querdenker"-Demos zur AfD abwanderten, dass damit auch in dieser Krise die AfD wieder die "issue ownership", den Status der einzigen (Schein-)Opposition und (Schein-)Alternative zum Bestehenden erlangen und sich daran nähren würde, hätte man doch absehen müssen.

Es ist gut, dass Janis Ehling in seinem Rücktrittschreiben vom Parteivorstand der Linkspartei mittlerweile benennt, dass die Strategie, sich - aus Angst, Mitglieder zu verlieren - eng auf "soziale Gerechtigkeit" zu konzentrieren und damit die größten Gesellschaftsfragen Frieden (Deindustrialisierung, auch Migration usw.) zu dethematisieren, gescheitert ist. [1]
Das habe ich bislang so noch nicht gehört, sondern eher Aufgüsse der Agenda-SPD Rhetorik von 2004: "Haben alles richtig gemacht, müssen es nur besser kommunizieren." Oder Aufgüsse der Rhetorik von Keynesianern anno 1975 und Neoliberalen anno 2008: "Der Weg ist richtig, aber wir sind ihn bloß nicht schnell und radikal genug gegangen." Woraus dann führende Genossen den Schluss ziehen, man komme wieder über 5%, wenn man jetzt bloß klipp und klar ja zur NATO und/oder zur EU-Armee zu sagen, d.h. wenn man der soziale Gerechtigkeitszipfel in der kommenden Blockkonfrontation und der imperialistischen Zuspitzung wird, weil, wie es der Bewegungslinke-Theoretiker Thomas Goes es in seiner 15. These von seinen 21 Thesen [2] formuliert, es ja neue "Sicherheitsbedürfnisse in der Bevölkerung" gäbe, auf die man reagieren müsse, sprich Einreihung in die nur für mehr Unsicherheit und Kriegsgefahr produzierende alte Kalte-Krieg-Philosophie der Abschreckung, der unilateralen Suche des Westens nach "absoluter Sicherheit" usw. (was zwangsläufig, egal, wie man es dreht oder wendet, nicht nur Militarisierungskritik mit angezogener Handbremse, sondern am Ende des Tages auch widerspenstige Einreihung in Aufrüstungspolitik und Sozialabbau bedeuten muss).

Leider spricht aber auch Janis mit positivem Bezug auf die norwegische Linkspartei "Rodt" selbst von der "Anpassung an die Wirklichkeit" (der nahen Grenze von Norwegen zu Russland) als Weg zum Erfolg, als ob Norwegen von Russland ernsthaft eine Gefahr drohen würde und als ob Aufrüstung und ein interventionistisches Militärbündnis - die NATO ist kein System der kollektiven Sicherheit - für mehr Sicherheit sorgen würden oder es nur könnten.

Daneben gibt es noch die Riege von Bewegungslinken und Reformern, die jetzt, ganz und gar hilflos ohne Analyse und Zeitdiagnose des globalen Kapitalismus nach kurzfristigen Umfrageergebnissen und Fokusgruppen taktierend, die Linkspartei umgedreht finnlandisieren will, weil sie in der Unterordnung unter die Außen- und Geopolitikziele des Westens ihr Heil sucht. [3] Man berauscht sich kurzfristig am Wahlergebnis der finnischen Linken (deren Führung übrigens nicht zufällig im Tony Blair Institute steckt).

Dieser Weg aber kann nach meinem Dafürhalten nur in den Untergang führen, weil auch die Spielräume für und die Glaubwürdigkeit in Sachen soziale Gerechtigkeit vollkommen unter die Räder kommen müssen, ja es offensichtlich längst schon kamen, wenn es kein klares Nein zu Blockkonfrontation und Abschreckungsphilosophie, kein offensives Thematisieren des Zusammenhangs von Außen- und Innenpolitik, von Friedens- und Sozialpolitik gibt. Die Dethematisierung der Außenpolitik und Friedensfrage, über die gegenwärtig die Verarmung breiter Bevölkerungsteile läuft (Stichwort: Reallohnverluste bei den letzten Tarifrunden durch Deglobalisierung, Sanktionspolitik und kriegsbedingte Inflation, Stichwort auch Aufrüstung/Austerität, Stichwort neuer EU-Protektionismus bei gleichzeitiger Individualisierung des Klimaschutzes: CO2-Bepreisung, Heizungsgesetz usw.), macht auch in Sachen der Kernkompetenz "soziale Gerechtigkeit" dauerhaft unglaubwürdig.

Ein nachvollziehbarer und dennoch ängstlicher organisationspolitischer Struktur-konservatismus ist, auch wenn er alternativlos erscheinen mag, kein guter Ratgeber. Der Blick nach innen und die Angst, was man im Innern verlieren könnte, verstellt m.E. den Blick nach außen, auf das, was man mit Mut und Klarheit gewinnen könnte, was einen nicht überflüssig erscheinen lassen würde. Lesenswert ist da, wie Marx und Engels scharf August Bebel und Wilhelm Liebknecht kritisierten, als die sich nach 1871 ebenso nach innen richteten und innerparteiliche Kompromisse mit dem wiedererstarkten Lassalleanismus rund um Johann Baptist von Schweitzer machen wollten, anstatt den Blick nach außen zu richten auf die Erfordernisse der Zeit und auf die Millionen von Arbeiterinnen und Arbeiter, die von einer sozialistischen Partei klare ihre Klasseninteressen verteidigende Antworten in den Zeitfragen erwart(et)en.

Kurz, es ist gut, dass Janis Ehling, den ich an sich - intellektuell, menschlich, moralisch - sehr schätze, auch heute den Mut hat, unbequeme Wahrheiten zu benennen (und sogar Konsequenzen zu ziehen aus dem von ihm klar anerkannten Scheitern des Kurses der letzten Jahre, selbst wenn jemand mit seinem intellektuellen Format, bei aller Kritik, der Linken schmerzhaft fehlen wird). Es ist ein Fortschritt, dass Janis die ängstliche Strategie des "kleinsten gemeinsamen Nenners" benennt. Da ist er m.W. bislang der Erste.

Aber von jemandem, der, wie Janis, marxistisch denkt, erwarte ich ein Nachdenken darüber, ob es wirklich der richtige Weg einer Partei ist, die linkssozialistisch und internationalistisch sein will und sich wenigstens - zumindest an hohen Feiertagen - nominell noch auf den Boden der Klassiker der Arbeiterbewegung stellt, sich in der vom gesamten globalen Süden abgelehnten kommenden neuen Blockkonfrontation auf eine Seite, auf die Seite des eigenen Imperialismus stellt, und dann versucht, diesen etwas zu bremsen und irgendwie noch Sachwalter von sozialer Gerechtigkeit, Bürgerrechten, Zivilität und demokratischer Mitbestimmung zu sein, die hierbei unter die Räder kommen werden.
Das wird nicht durchzuhalten sein.

Marxistisch und sozialistisch denkende Menschen in der Linkspartei sollten erkennen, dass sie sich am 24.2.2022 haben von der bürgerlichen Klasse überrumpeln lassen, dass dies der beschleunigte Weg in den Niedergang war und dass erst dann, wenn dies erkannt wird, der Versuch gestartet werden könnte, in der neuen Blockkonfrontation als Widerstandskraft im Geist der historischen Arbeiterbewegung kraftvoll neu zu entstehen anstatt als linksbürgerliches Anhängsel zu überleben zu versuchen und dabei als bundespolitische Kraft überflüssig zu werden.

  

 

Anmerkungen

[1] Janis Ehling in Zeitschrift LUXUMBURG: Brutale Niederlage
https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/brutale-niederlage

[2] Thomas Goes "Stolpern, hinfallen und aufstehen", 21 Thesen zur Krise und Erneuerung der Linken
https://www.links-bewegt.de/de/article/875.stolpern-hinfallen-und-aufstehen.html

[3] siehe z.B. Netzwerk Progressive Linke: MUT STATT ANGST - FÜR EINE ERKENNBARE, DEMOKRATISCHE, MODERNE LINKE IN DEUTSCHLAND UND EUROPA!
https://progressive-linke.org/wp-content/uploads/2024/06/Netzwerk-Progressive-Linke-Brief-an-den-PV-250624.pdf

 

 

 

Forderung eines Inflationsausgleichs für Rentnerinnen und Rentner in der Höhe von 3.000 Euro

Do, 27/06/2024 - 19:57

Die Forderung, auch den Rentner*innen eine Inflationsausgleichszahlung zu gewähren - entsprechend der Inflationsausgleichszahlung für Beamte und Pensionäre - wurde zuerst von der Vorsitzenden des VdK Verena Bentele erhoben.
Inzwischen hat sich daraus insbesondere in Norddeutschland ein breites Bündnis aus Sozialverbänden und Gliederungen der Gewerkschaften, vor allem aus der IG Metall, gebildet. 
Unterschriftensammlungen erhielten bisher weit über 200.000 Zustimmungen. Das Bündnis hat Politiker*innen angeschrieben.
Sie werden aufgefordert, die Forderung zu unterstützen.

Die Krokodilstränen einer Nichtbetroffenen

Die Abgeordnete der SPD für den Wahlkreis Eutin, Bettina Hagedorn, hat auf das Schreiben der Senioreninitiative zur Forderung eines Inflationsausgleichs von 3.000 Euro für Rentnerinnen und Rentner ausführlich geantwortet.

Kern ihrer Stellungnahme: Die Forderung, mag sie auch noch so berechtigt sein, ist aufgrund der aktuellen Haushaltslage des Bundes absolut unerfüllbar.

Sie lobt die  Initiative nahezu überschwänglich:
 “Natürlich habe ich auch intensiv verfolgt, dass Ihre Forderung nach dem Inflationsausgleich vom Oktober 2023 inzwischen massiv von den Gewerkschaften des DGB und dem Sozialverband SoVD unterstützt und mit einer starken Petition vorangetrieben wird, und ich schätze es sehr, wie es Ihnen gelungen ist, dieses kraftvolle Bündnis zu „schmieden“ und damit die Öffentlichkeit für die Situation der Rentnerinnen und Rentner in unserem Land zu Recht zu sensibilisieren“.

Die SPD-Abgeordnete Hagedorn stellt die Forderung nicht infrage. Das wäre auch seltsam. Die Inflationsausgleichszahlungen in der Höhe von 3.000€ netto wurden ja vom Kanzler und damit von höchster Stelle den Tarifparteien empfohlen und dann als Ergebnis der Tarifabschlüsse für den Öffentlichen Dienst auf die Beamten und die Pensionäre übertragen. Das hat den Bundeshaushalt mit ca. 8 Milliarden Euro belastet. Dass dadurch der Haushalt des Bundes überstrapaziert würde, hat man nicht gehört.

Aber:  21 Millionen Rentner*innen sind zu viel. Und irgendjemand muss Opfer bringen.

Frau Hagedorn weiß, dass die große Mehrheit der Rentnerinnen und Rentner sozial weit schlechter gestellt ist als die Bezieher*innen  des Inflationsausgleichs von 3.000 Euro. Und sie weiß auch, dass die unteren Einkommensbezieher*innen stärker als der Durchschnitt von der Inflation betroffen sind, weil sie einen größeren Teil ihres Einkommens auf Nahrung und Energie verwenden müssen, die im Preis weit stärker gestiegen sind als der Durchschnitt der Waren.
Damit liegt auch ihre Inflationsrate über dem Durchschnitt und insofern kann man behaupten, dass, verglichen mit besser Verdienenden, die Forderung nach dem Inflationsausgleich von 3000 Euro für drei Jahre nicht unbescheiden ist.

Frau Hagedorn rühmt  ihre Partei, die mit Rentenanpassungen, Sonderzahlungen und Gesetzen zur Grundrente, zur verminderten Erwerbsfähigkeit und zum Wohngeld die Lage der Rentnerinnen und Rentner verbessert habe. Sie schreibt, die Standardrente habe sich im Westen von 2010 um 32 Prozent und im Osten um 47 Prozent erhöht.
Mit all dem will sie tröstend darauf hinweisen, dass für die Rentner doch so viel geschehen sei, dass sie nun auf den Inflationsausgleich verzichten könnten. Naiv dabei ist jedoch, dass sie die Erhöhung der Standardrente isoliert betrachtet, obwohl gleichzeitig auch die Nominalzahlen anderer Größen wie z.B. der Löhne und Pensionen ebenfalls erhöht haben.
Die Ungleichheit, die die Sonderzahlungen nur für einen Teil der Gesellschaft ausmacht, hebt sich dadurch nicht auf.

Aber auch unabhängig davon beschönigt Frau Hagedorn die Rentenzahlen. Sie nennt nur Nominalzahlen der Steigerung der Standardrenten.

Ein richtiges Bild ergibt sich aber nur, wenn man die Rente ins Verhältnis zur Preisentwicklung und zum Volkseinkommen setzt.

Wenn man die Entwicklung von 2000 bis 2022 betrachtet, hat sich in den alten Bundesländern die Standardrente nominal um 40,1Prozent erhöht.
Dem steht entgegen, dass das Preisniveau um 34,7 gestiegen ist.

Real ist die Standardrente also in 22 Jahren nur um 5,4 Prozent gestiegen.
Im gleichen Zeitraum ist aber das Volkseinkommen je Einwohner preisbereinigt um 45 Prozent gestiegen.[1]
 
Von einer angemessenen Beteiligung der Rentner*innen am gesellschaftlichen Gesamteinkommen kann keine Rede sein.

Deswegen die dürftige Zahl von 1007 Euro als durchschnittlicher Zahlbetrag aller Renten wegen Alters im Jahr 2022 in den alten Bundesländern (RiZr. S.191).
Im Verhältnis zum durchschnittlichen Nettolohn desselben Jahres von 2.244 Euro monatlich sind das 44,9 Prozent.

Da ca. 60 Prozent aller RentnerInnen eine Rente unterhalb der Standardrente beziehen, gehören sie zu der Bevölkerungsschicht, die Inflationsausgleichszahlungen am Nötigsten hätte.

Dass Frau Hagedorn den Betrachtungszeitraum erst ab 2010 beginnt, hat die Absicht, die Reformen der SPD/Grüne Koalition von 2004 und 2005 vergessen zu machen. Eine durchschaubare politische Trickserei.

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, sagt Artikel 3 des Grundgesetzes. Es versteht sich, warum die RentnerInnen sich ungleich behandelt fühlen. Was nützt die Gleichheit, wenn das Soziale keine Rolle spielt?
Aber die Ungleichbehandlung ist gesetzlich gewollt und juristisch abgesichert.
Die Logik der Inflationsausgleichszahlung ergibt sich aus dem Beamtenrecht.
Pension ist eine Gehaltsfortzahlung im Ruhestand,
Rente ist eine durch eigene Beiträge finanzierte Versicherungsleistung.
Die Gehaltsfortzahlung (Pension) läuft nach Tarifrecht, die Rente nach Versicherungsrecht mit staatlichen Eingriffen.
Beamte sind nicht einfach abhängig Beschäftigte, sondern haben hoheitliche Aufgaben und werden dafür alimentiert. Sie müssen keine Vorsorge für das Alter treffen.
Die Arbeit von Arbeitern/Angestellten und Beamten mag die Gleiche sein, aber der Status macht den Unterschied.
So schafft man systematisch Ungleichheit in der Gesellschaft und sichert „Eliten“ von der Masse ab.
Ärzte, Juristen, Beamte – sie alle schaffen sich ihre eigenen Systeme und sichern sich Privilegien.  Dass das zutiefst anachronistisch ist, interessiert nicht. „Teile und herrsche“ – das liegt der Sache zu Grunde. Juristisch ist gegen die Beschränkung der Ausgleichszahlung also nicht anzukommen. Politisch ist die richtige Antwort: Ein Rentenversicherungssystem muss geschaffen werden, das alle Berufe einschließt.

Mit dieser Frage beschäftigt sich Frau Hagedorn nicht. Sie ist Haushaltsexpertin. Der Zustand des Haushalts allein schließt für sie die Erfüllung der Inflationsausgleichsforderung aus. 60 Milliarden für RentnerInnen sind nicht zu mobilisieren. Aber auch für eine modifizierte Gestaltung der Forderung ist Frau Hagedorn nicht zu haben. Hier geht einfach nichts.

Für Rüstung und Krieg schmeißt der Bund gegenwärtig das Geld nur so raus.

Und auch in der Wirtschaftsförderung werden große Beträge mobilisiert.

Und das sagt uns:  Wirtschaftskrieg, Aufrüstung und offener militärischer Krieg gehen immer auf Kosten des Sozialen. Die Erwerbstätigen in Arbeit und Ruhestand, die Erwerbslosen, Behinderten und Kranken – sie alle zahlen die Zeche für Konkurrenzvorteil und Großmachtpläne.

Glossar

Nominalzahlen sind reine Nennwerte. Sie sagen nichts über die Kaufkraft des Geldes aus.

 

Standardrente ist die Rente einer Person die 45 Jahre lang in die Rentenversicherung eingezahlt hat und während des Arbeitslebens den Durchschnitt der rentenversicherungspflichtigen Löhne ( = 100 %) verdient hat.  Die Standardrente wird meist nominal als Bruttowert angegeben. Davon gehen die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ab und dann noch Steuern. Die nominelle Brutto= Standardrente beträgt 1.692 Euro. Die Reale 1.490 Euro.

 

Die Durchschnittsrente liegt weit darunter, weil die Mehrheit der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten unterdurchschnittlich verdienen und auch nicht 45 Jahre lang in die Rentenversicherung einzahlen konnten.
Die Durchschnittsrente wegen Alters beträgt deswegen in Deutschland nur 1.054 Euro.

 

Das Preisniveau gibt an, wie sich die Preise durchschnittlich über einen längeren Zeitraum entwickelt haben. Erst wenn man von der Steigerung der Nominalzahlen die Steigerung des Preisniveaus abzieht, kann man die Entwicklung der Kaufkraft beurteilen. Von 2000 bis2022 hat sich das Preisniveau um 134,7 Prozent verändert.

Die Kaufkraft der Standardrente ist damit um 5,58 gestiegen.
Die hohe Inflation der letzten Jahre hat das vollständig aufgezehrt. Die Kaufkraft der Standardrente 2024 liegt damit unter der Kaufkraft der Standardrente von 2000.

 

Volkseinkommen – ist die Summe aller privater Einkommen, Gehälter, Löhne, Renten und Transferzahlungen.
Es wird jährlich erfasst. Es ist von 2000 bis 2022 preisbereinigt um 143,85 Prozent gestiegen. Welchen Anteil daran Löhne und Renten haben, ist nicht ausgewiesen.

 

[1] Alle Daten aus: Rentenversicherung in Zeitreihen 2023, S.270 Verbrauchspreisindex; S. 283 Volkseinkommen je Einwohner S.283)

Seiten