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Aktualisiert: vor 2 Stunden 48 Minuten

Die scheiternde Aufholjagd

Di, 25/06/2024 - 11:41

Die ambitionierten Pläne Berlins und Brüssels, die EU zu einem führenden Standort der Halbleiterfertigung auszubauen, geraten zunehmend ins Stocken. Die Aufholjagd Deutschlands und der EU in der Chipproduktion und der Batteriefertigung  könnte scheitern. Vorne liegen jeweils die USA bzw. China.



Laut aktuellen Berichten wird der US-Chipproduzent Wolfspeed eine mehrere Milliarden Euro schwere Investition im Saarland mindestens bis ins Jahr 2025 verzögern. Auch der US-Halbleiterhersteller Intel verschiebt den Beginn des Baus einer Chipfabrik bei Magdeburg – die teuerste Brancheninvestition in Deutschland – auf das kommende Jahr. Ursachen sind unter anderem Verzögerungen bei der Genehmigung staatlicher Subventionen durch die EU, aber auch, dass die aktuelle Schwäche auf dem Elektroautomarkt und eine womöglich verlangsamte Umstellung auf erneuerbare Energien die Chipnachfrage drastisch bremsen könnte. Hinzu kommt, dass die EU im transatlantischen Subventionswettlauf den Vereinigten Staaten immer häufiger unterliegt: Washington zahlt High-Tech-Konzernen für eine Ansiedlung im eigenen Land höhere Beträge als Berlin bzw. Brüssel. Auch auf dem zweiten High-Tech-Sektor, auf dem die EU rasch aufholen will – bei der Batteriefertigung –, zeichnen sich empfindliche Rückschläge ab, vor allem gegenüber China.

Ambitionierte Pläne

Mit seinem 2022 verabschiedeten European Chips Act wollte Brüssel in einem ambitionierten Vorhaben 43 Milliarden Euro an privaten Investitionen und an öffentlichen Subventionen mobilisieren, um in der EU eine global konkurrenzfähige Halbleiterfertigung aufzubauen und in dieser Schlüsseltechnologie – in Rivalität zu China, den USA und Japan – mit Blick auf die zunehmenden Spannungen in der Weltwirtschaft eigenständiger zu werden. Unternehmen wie Intel, TSMC, STMicroelectronics, GlobalFoundries und Infineon hatten prompt umfassende Investitionen angekündigt. Allerdings seien nach zwei Jahren nur „wenige Projekte im Bau“, heißt es nun in einem Bericht; „noch weniger“ hätten „die Genehmigung der Europäischen Kommission für staatliche Unterstützung“ erhalten, ohne die sie allerdings „finanziell nicht tragfähig“ seien.[1]

Hindernisse

Der Hintergrund: Die Subventionen werden im Rahmen des European Chips Acts zwar von den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt; sie müssen allerdings von Brüssel überprüft und genehmigt werden. Deutschland sei bei der Subventionsvergabe führend, heißt es; es habe Mittel für Großinvestitionen von Intel, TSMC, Infineon und Wolfspeed vergeben. Bislang habe aber noch keins dieser Projekte die erforderliche Zustimmung aus Brüssel erhalten.[2] Zudem befinde sich die Bundesrepublik in einer gravierenden Haushaltkrise; dies stelle – trotz gegenteiliger Beteuerungen der Bundesregierung – die Realisierung größerer Infrastrukturprojekte infrage. Es komme hinzu, dass die jüngsten Wahlerfolge der äußersten Rechten der Ansiedlung von High-Tech-Konzernen weitere Hindernisse in den Weg stellten. So könnten ultrarechte Parteien „die Unterstützung für regenerative Energieprojekte schwächen“, die eine wichtige Quelle für Aufträge an die Chiphersteller bildeten. Zugleich könne Rassismus die erforderliche Anwerbung ausländischer Fachkräfte erschweren.

80.000 Lastwagen Erde

Der Baubeginn der teuersten Halbleiterinvestition in Deutschland, der geplanten Intel-Fabrik bei Magdeburg, verzögert sich mindestens bis zum Jahr 2025.[3] Der Hintergrund: Am vorgesehenen Standort muss der landwirtschaftlich wertvolle Boden bis zu einer Tiefe von 40 Zentimetern – rund 80.000 Lastwagenladungen Erde – abgetragen und abtransportiert werden, wobei zusätzlich eine Fülle weiterer Einwände, etwa hinsichtlich der lokalen Wasserversorgung, ungeklärt im Raum steht. Zudem hat Intel angekündigt, am Standort Magdeburg keine Investitionen zu tätigen, solange die EU-Kommission die von Berlin zugesagten Subventionen von knapp 10 Milliarden Euro nicht freigegeben hat. Das Projekt soll sich insgesamt auf 30 Milliarden Euro summieren. Der Chipfertiger TSMC wiederum will rund 11 Milliarden Euro in einen Standort bei Dresden investieren, hat jedoch ebenfalls noch nicht mit dem Bau begonnen. Auch der US-Konzern Wolfspeed verschiebt die Realisierung seiner Pläne und will nun frühestens Mitte 2025 rund drei Milliarden Euro im Saarland investieren – sofern die Schwäche Elektroautomärkte in Europa und den USA nicht andauert. Bislang befindet sich nur das Infineon-Werk bei Dresden auf dem Weg zu fristgerechter Fertigstellung, die 2026 erfolgen soll. Der deutsche Halbleiterhersteller hat fünf Milliarden Euro investiert, ohne auf die Zustimmung aus Brüssel zu Subventionen zu warten.

Selbstversorgung „unrealistisch“

Angesichts der Verzögerungen geben sich inzwischen auch deutsche Medien und Experten hinsichtlich der ehrgeizigen Ziele des European Chips Acts skeptisch, der der EU bei der Halbleiterfertigung bis 2030 einen Weltmarktanteil von 20 Prozent sichern sollte. Das Ziel der „Selbstversorgung“ sei angesichts des hohen Vernetzungsgrades der Branche ohnehin „unrealistisch“, erklären deutsche Brancheninsider.[4] Um sie zu erreichen, müssten „700 bis 900 Milliarden Euro“ investiert werden; zudem werde die EU kaum die notwendige Zahl an Fachkräften mobilisieren können. Immerhin entstehe aber derzeit in Sachsen ein Cluster der Halbleiterindustrie, der zum „fünftgrößte[n] Produktionszentrum“ der Branche überhaupt aufsteigen könne. Das sei vor allem für die angeschlagene deutsche Autobranche von Belang, die in ihren Fahrzeugen immer mehr Halbleiter verbaue. Demnach seien in „einem VW Golf aus einer Generation im vergangenen Jahrzehnt“ nur „800 bis 1.000 Halbleiter“ zu finden; „in einem Porsche Taycan heutzutage“ würden aber bereits „8.000 bis 10.000" verbaut.

Ins Hintertreffen

Schon zu Jahresbeginn hieß es zudem im „Handelsblatt“, die EU gerate im globalen Subventions- und Investitionswettlauf mit den Vereinigten Staaten immer stärker ins Hintertreffen.[5] Demnach habe die Halbleiterbranche in den USA Investitionen in neue Produktionsstätten im Umfang von 278 Milliarden US-Dollar angekündigt, während in der EU nur 86 Milliarden Dollar in neue Chipfabriken fließen sollten. Entsprechend werden in Deutschland Rufe nach einem zweiten European Chips Act laut, um die Wettbewerbssituation der EU zu verbessern.[6] Er möge Subventionen zwar nicht, erklärte der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI); doch seien Steuergeschenke an High-Tech-Konzerne „alternativlos“, da ansonsten „Deutschland diese Technologien verliere“.

„Mit China mithalten“

Ähnlich problematisch gestaltet sich das zweite große High-Tech-Projekt Brüssels und Berlins, mit dem die strategische Autonomie der EU gestärkt werden sollte: der Aufbau einer eigenen Batteriefertigung in der EU. Laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung waren in der EU im Frühjahr 2024 zwar 80 Batterieprojekte geplant – ein Fortschritt gegenüber dem Vorjahr, in dem nur 70 verzeichnet wurden. Doch werden nach Einschätzung deutscher Wirtschaftskreise viele dieser Projekte nur mit großer Verzögerung „im Laufe des Jahrzehnts“ realisiert, sofern sie nicht gänzlich in der Planungsphase steckenbleiben.[7] Zudem sei die chinesische Konkurrenz dank niedrigerer Preise in der Lage, ihre Stellung auf dem europäischen Markt auszubauen. Laut einer Analyse der Großbank USB dürfte der „Marktanteil chinesischer Batteriefirmen in der EU von zuletzt 30 auf 50 Prozent im Jahr 2027“ wachsen. Die EU unternehme derzeit einen „mühsamen Versuch, bei Batterietechnik mit China mitzuhalten“ – denn inzwischen kämen „neun der zehn größten Batteriehersteller der Welt“ entweder aus China oder aus Südkorea. Laut EU-Plänen sollten bis 2030 eigentlich 90 Prozent aller in der EU benutzten E-Auto-Batterien auch in Europa gefertigt werden. Das ist nicht in Sicht.

Flaute bei Elektroautos

Überdies plagt die Branche die derzeitige Flaute bei Elektroautos, deren Absatz weit unter den Prognosen bleibt.[8] Laut Branchenkreisen tragen noch immer „drei Viertel aller neu in der EU zugelassenen Pkw einen Verbrenner unter der Haube“.[9] Offiziell hält Berlin dennoch Kurs auf Elektrofahrzeuge; so beteuerte etwa Bundeskanzler Scholz zu Jahresbeginn beim Baubeginn der Batteriefabrik des schwedischen Herstellers Northvolt in Schleswig-Holstein die strategische Bedeutung der Branche für „unser Land und Europa“. Das vier Milliarden Euro umfassende Northvolt-Projekt, das von der Bundesregierung mit 900 Millionen Euro bezuschusst wird, soll eine Kapazität von 60 Gigawatt erreichen. Die größte derzeit existierende Batteriefabrik in der EU betreibt der koreanische Hersteller LG in der Nähe der polnischen Stadt Wrocław; sie hat eine Kapazität von 65 Gigawatt.

Subventionswettlauf mit USA

Nicht nur, dass sich Chinas Batteriehersteller in der EU auf dem Vormarsch befinden; auch die Konkurrenz jenseits des Atlantiks ist besser aufgestellt. Schon im vergangenen Jahr klagten deutsche Medien über die großzügigen Subventionen für Batteriehersteller in den USA, die dazu führen dürften, dass zahlreiche strategische Investitionsprojekte westlich des Atlantiks getätigt werden.[10] Die US-Subventionen für Akkuproduzenten sind um ein Vielfaches höher als diejenigen, die Berlin und Brüssel zu zahlen gewillt sind. Demnach würde Northvolt bei einer vergleichbaren Investition in den USA bis zum Ende dieser Dekade umgerechnet etwa sieben Milliarden Euro erhalten. Ursprünglich wollte Berlin das Werk in Schleswig-Holstein nur mit 155,4 Millionen Euro bezuschussen. Die Subventionen mussten nach einer drohenden Abwanderung massiv auf 900 Millionen Euro aufgestockt werden. Europas Batteriebranche befinde sich im „Zangengriff des Inflation Reduction Act“, hieß es in Fachmedien angesichts der US-Dominanz im transatlantischen Subventionswettlauf.[11] Überdies werde von den in Europa bis 2030 geplanten Produktionskapazitäten von rund 1.000 Gigawatt ein Großteil, nämlich 750 Gigawatt, von außereuropäischen Konzernen realisiert.

 

[1], [2] Toby Sterling, Christoph Steitz, Hakan Ersen: Wolfspeed plant delayed as EU’s chipmaking plans flounder. uk.finance.yahoo.com 20.06.2024.

[3] Baustart für Magdeburger Intel-Fabrik auf 2025 verschoben. golem.de 29.05.2024.

[4] „Autarkie bei Halbleitern kann Europa wohl nie erreichen“. welt.de 19.01.2024.

[5] Amerika hängt Europa bei der Chipfertigung ab. handelsblatt.com 08.01.2024.

[6] Warum Subventionen für Europas Halbleiterindustrie so wichtig sind. mdr.de 18.06.2024.

[7] Europas mühsamer Versuch, bei Batterietechnik mit China mitzuhalten. handelsblatt.de 25.03.2024.

[8] S. dazu Auf dem Weg in Die Strafzollschlacht

[9] Scheitert Europa am E-Auto-Dilemma? auto-motor-und-sport.de 14.05.2024.

[10] Europa und die USA im Rennen um milliardenschweren Markt. handelsblatt.com 24.03.2024.

[11] Batterie: Europa im Zangengriff des Inflation Reduction Act. electrive.net 31.03.2024.

 

Eine sanfte Landung oder ein faules Ei –  a soft landing or curate´s egg?

Mo, 24/06/2024 - 13:07

Eine sanfte Landung oder ein faules Ei –  a soft landing or curate´s egg?

Vor kurzem hat die Weltbank ihre neuesten globalen Wirtschaftsaussichten veröffentlicht.  Die Ökonomen der Weltbank gehen davon aus, dass sich die Weltwirtschaft im Jahr 2024 zum ersten Mal seit drei Jahren "stabilisiert".  Die Weltwirtschaft hat die von vielen (auch vom Autor dieses Artikels, bis zu einem gewissen Grad) vorhergesagte Rezession im Jahr 2023 vermieden und setzt nun zu einer "sanften Landung" an. 


Das reale BIP-Wachstum wird 2024 weltweit 2,6 % betragen, genauso viel wie 2023, und im nächsten Jahr leicht auf 2,7 % ansteigen.

Der Begriff  'sanfte Landung' ist etwas seltsam.  Ich nehme an, er bedeutet, dass die Weltwirtschaft nicht auf die Landebahn geprallt ist, sondern sich sanft eingependelt hat.  Aber in Wirklichkeit hat es überhaupt keine Landung gegeben - wenn wir damit einen Einbruch oder eine Schrumpfung des realen BIP weltweit meinen. 
Wie auch immer, um einen anderen Aphorismus zu verwenden, die Weltwirtschaft ist in Wirklichkeit ein faules Ei (curate´s egg,[1]) ein altmodischer Begriff für etwas, das teilweise schlecht und teilweise gut ist, oder genauer gesagt für etwas, das offensichtlich und vollständig schlecht ist, aber aus Höflichkeit so beschrieben wird, als hätte es dennoch gute Eigenschaften, die es retten könnten.

Die Realität sieht so aus, dass, obwohl das reale BIP weltweit nicht schrumpft, mehrere große Volkswirtschaften bestenfalls stagnieren und das weltweite Wachstum deutlich unter der durchschnittlichen Rate von 3,1 % vor der Pandemie bleiben wird - auch wenn diese Zahl Indien, Indonesien und China mit einschließt, die schneller wachsen.
Wie die Weltbank es ausdrückt: "Länder, die zusammen mehr als 80 % der Weltbevölkerung und des globalen BIP ausmachen, würden immer noch langsamer wachsen als im Jahrzehnt vor COVID-19." 
Und schlimmer noch: "Es wird erwartet, dass eines von vier Entwicklungsländern 2019 ärmer sein wird als am Vorabend der Pandemie. Dieser Anteil ist für Länder in fragilen und konfliktbetroffenen Situationen doppelt so hoch". 

Die Ökonomen der Weltbank kommen zu dem Schluss, dass sich "die Einkommenskluft zwischen den Entwicklungsländern und den fortgeschrittenen Volkswirtschaften in fast der Hälfte der Entwicklungsländer im Zeitraum 2020-24 vergrößern wird."

Wenn wir uns die Wachstumsraten in den einzelnen großen Volkswirtschaften genauer ansehen, erscheint der Begriff "sanfte Landung" noch unpassender zu sein.  Nehmen wir die US-Wirtschaft, die leistungsstärkste der sieben größten kapitalistischen Volkswirtschaften (G7).  Nach dem "Zuckerrausch"-Jahr der Erholung im Jahr 2021, das auf den pandemischen Einbruch von 2020 folgte, gab es 2022 tatsächlich eine "technische Rezession" (d. h. zwei aufeinander folgende vierteljährliche Rückgänge des realen BIP).  Im Jahr 2023 war dann ein bescheidenes Wachstum zu verzeichnen, das sich in der zweiten Hälfte zu beschleunigen schien.  Im ersten Quartal dieses Jahres kam es jedoch zu einer deutlichen Abschwächung, und die US-Wirtschaft wuchs so langsam wie seit der Rezession Anfang 2022 nicht mehr.

 

 

Für das laufende Quartal (2. Quartal 2024) wird ein Quartalsanstieg von 0,4-0,5 % prognostiziert. 

Und das sind die USA.  In den anderen G7-Volkswirtschaften war die Leistung wesentlich schlechter. 
Die Eurozone als Ganzes war im Jahr 2023 ein Totalausfall. 

 

Was Japan betrifft, so wurde eine "sanfte Landung" eindeutig nicht erreicht.

 Chart Japan

 

Nicht zu vergessen ist Kanada, die kleinste G7-Wirtschaft.  Die Wirtschaft stagnierte in der letzten Hälfte des Jahres 2023.

 

Das Gleiche gilt für Australien, Schweden und die Niederlande. Die britische Wirtschaft ist die am schlechtesten abschneidende in der G7 und steht sogar in Konkurrenz zu Italien.

 

Sicher, einige der großen "Schwellenländer" stehen gut da.  Unter den so genannten BRICS wächst Indien mit 6 % pro Jahr (wenn man den offiziellen Zahlen glauben kann), China mit 5 % pro Jahr und die russische Kriegswirtschaft mit 3 % pro Jahr.  Aber Brasilien krabbelt mit deutlich unter 1 % dahin, während Südafrika einen Einbruch zu verzeichnen hat.  Und viele andere ärmere, kleinere Volkswirtschaften im so genannten globalen Süden sind in großer Bedrängnis.

Die jüngsten Daten zeigen, dass sich die großen Volkswirtschaften weiterhin in einer "langen Depression" befinden, d. h. nach jedem Einbruch oder jeder Schrumpfung (2008-9 und 2020) sinkt das reale BIP-Wachstum - der vorherige Trend wird nicht wieder erreicht.  Die Trendwachstumsrate vor dem globalen Finanzcrash (GFC) und der Großen Rezession wurde nicht wieder erreicht, und der Wachstumspfad ist nach dem Pandemieeinbruch von 2020 sogar noch weiter gesunken.  Kanada liegt immer noch 9 % unter dem Trend vor dem GFC, die Eurozone 15 %, das Vereinigte Königreich 17 % und selbst die USA liegen noch 9 % darunter.

Die Weltwirtschaft befindet sich jetzt in einem Zustand, den die IWF-Chefin Kristalina Georgieva als "laue Zwanziger" bezeichnet.  Die Ökonomen der Weltbank gehen davon aus, dass die Weltwirtschaft auf das "schlechteste halbe Jahrzehnt des Wachstums seit 30 Jahren" zusteuert.

Die Eurozone

Wenn wir die Eurozone unter die Lupe nehmen, erhalten wir ein umfassendes Bild vom Desaster der deutschen Wirtschaft, die früher das Kraftzentrum der europäischen Industrie war. 
Seit 2021 gab es fünf von 12 Quartalen mit Schrumpfung und nur ein Quartal mit mehr als 1 %.

 

 

Das ist eine schlechtere Leistung als das ständig stagnierende Japan.  Die Aktivität des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland erreicht keine sanfte Landung - nicht einmal ein Spiegelei.  Es handelt sich um einen totalen Absturz, fast zurück zur Pandemie von 2020.

Kein Wunder, dass die Reallöhne der deutschen Arbeitnehmer in den letzten vier Jahren gesunken sind - um unglaubliche 6 % seit dem Ende der Pandemie im Jahr 2020, trotz einer bescheidenen Erholung in der letzten Hälfte des Jahres 2023. 
Und es ist kein Wunder, dass die Parteien der "harten Rechten" in Deutschland bei den jüngsten Wahlen zur EU-Versammlung so gut abgeschnitten haben.


Die Inflationsraten in den großen Volkswirtschaften scheinen derweil festzustehen.
  Seit dem Ende der Pandemie sind die Preise im Durchschnitt um 20 % gestiegen.  Dieser Anstieg hat sich bis 2023 verlangsamt.  Aber jetzt sinken die Raten nicht mehr, und in einigen Ländern ziehen sie wieder an.  Die Inflationsrate der Europäischen Union liegt immer noch über dem Zielwert der Europäischen Zentralbank (EZB) von 2 %. Tatsächlich stieg sie im Mai auf 2,6 % im Jahresvergleich.  Die Kerninflation (ohne Lebensmittel und Energie) stieg ebenfalls auf 2,9 % im Jahresvergleich.
Die EZB hat ihre Prognose für die jährliche Inflation für 2024 auf 2,5 % und für nächstes Jahr auf 2,2 % angehoben. Sie geht davon aus, dass ihr Inflationsziel von 2 % nicht vor 2026 erreicht wird! 
Anfang 2021 betrug die Inflation nur 0,9 % und erreichte im Oktober 2022 mit 10,6 % ihren Höchststand. Das heißt, selbst wenn sich die Prognosen der EZB als richtig erweisen sollten, wird das EZB-Ziel seit fast fünf Jahren verfehlt sein! So viel zur Wirksamkeit der Geldpolitik der Zentralbank.

In diesem Monat senkte die EZB ihren Zinssatz vorläufig um 25 Basispunkte auf 4,25 %, die erste Zinssenkung, seit die EZB im Juli 2022 begann, die Zinsen von 0,5 % anzuheben, um (angeblich) die Inflation einzudämmen.  Der Grund dafür ist die Sorge, dass die Wirtschaft der Eurozone keinen Aufschwung verkraften kann, solange die Kosten für die Aufnahme von Krediten für Investitionen und Ausgaben so hoch bleiben.  Im Gegensatz dazu hat die US-Notenbank ihren Leitzins auf ihrer letzten Sitzung unverändert gelassen. Er liegt nach wie vor auf einem 23-Jahres-Hoch von 5,5 %.  Entgegen den Hoffnungen der Fed ist die Verbraucherpreisinflation in den USA nicht mehr rückläufig.  Die Fed-Mitglieder gehen nun davon aus, dass die Inflation in der Nähe von 3 % bleiben wird und dass das Inflationsziel von 2 % ebenfalls nicht vor 2026 erreicht wird! 

Die niedrige Arbeitslosenquote und der Nettozuwachs an Arbeitsplätzen in den USA werden viel zitiert.  Offiziell hat die US-Wirtschaft im Mai 2024 272.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, so viele wie seit fünf Monaten nicht mehr.  Aber die Arbeitslosenquote stieg im Mai auf 4 %.  Und der gesamte Nettozuwachs an Arbeitsplätzen stammt aus der Teilzeitarbeit. Die Zahl der Teilzeitstellen stieg im Mai um 286 000, während die Zahl der Vollzeitstellen um 625 000 zurückging. In den letzten 12 Monaten ist die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze um 1,1 Millionen zurückgegangen, während die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze um 1,5 Millionen gestiegen ist.  Unter Berücksichtigung der Inflation liegt der reale Wochenverdienst immer noch etwa 7 % unter dem Niveau von vor vier Jahren und ist im letzten Jahr unverändert geblieben. Infolgedessen stieg die Zahl der Amerikaner, die mehrere Jobs haben, im Mai auf 8,4 Millionen, was einem Anstieg von 3 Millionen seit 2020 entspricht. Es braucht zwei Jobs, um über die Runden zu kommen.  Die US-Wirtschaft ist also nicht so schnell, wie die Mainstream-Propheten behaupten. Die Wachstumsbeschleunigung im Jahr 2023 scheint vorbei zu sein.

Der Hauptgrund für die Verlangsamung des Wachstums in den USA im ersten Quartal dieses Jahres war eine Abschwächung des Wachstums beim Konsum von Gütern und bei den Unternehmensinvestitionen (der Boom beim Bau von Büros und Fabriken ist vorbei).  Und dafür gibt es zwei Gründe.  Erstens gab es einen absoluten Rückgang der Unternehmensgewinne, die im Nicht-Finanzsektor um 114 Mrd. Dollar sanken.  Der zweite Grund ist der hohe Zinssatz der Fed, der bedeutet, dass die Hypothekenzinsen für Haushalte und die Schuldendienstkosten für viele schwache, unrentable Unternehmen weiterhin hoch sind. Das ist ein Rezept für weitere Insolvenzen.

Wir alle haben von den riesigen Gewinnen der so genannten "Magnificent Seven" der sozialen Medien und Technologiegiganten gelesen. [3] Aber nur diesen Unternehmen geht es gut.  Die Marktkapitalisierung der 10 größten US-Aktien macht über 13 % des weltweiten Börsenwerts aus. Damit liegt sie weit über dem Höchststand der Dotcom-Blase von 9,9 % im März 2000. 

In einem beispiellosen Anstieg der Börsenkurse ist das KI-Chipunternehmen Nvidia zum höchstbewerteten Unternehmen der Welt geworden und hat Apple und Microsoft überholt.

 

 

Im Gegensatz dazu sind 42 % der US-amerikanischen Small-Cap-Unternehmen unrentabel, so viele wie seit der Pandemie von 2020 nicht mehr, als 53 % der Small-Caps Geld verloren. Small-Cap-Unternehmen haben zu kämpfen.

Der Welthandel dümpelt

Es gibt keinen Ausweg aus der stagnierenden Binnenwirtschaft durch verstärkten Handel.  Der Welthandel dümpelt seit Jahren vor sich hin und erlitt während des Pandemieeinbruchs einen starken Abschwung.  Im Jahr 2023 schrumpfte der Welthandel sogar.

Kein Wunder also, dass die USA und ihre Verbündeten Chinas Exporterfolge mit Zöllen und anderen Sanktionen gegen chinesische Waren angreifen.  Um dem entgegenzuwirken, ist China auf andere Märkte ausgewichen (gezwungen worden?), statt auf die USA und Europa.

 

Doch der große Zollkrieg hat kaum begonnen.[4]  Die jüngsten Maßnahmen von Biden werden 2025 "übertrumpft", wenn "the Donald" dieses Jahr wiedergewählt wird.  Trump plant, eine 10-prozentige Abgabe auf alle US-Einfuhren und eine 60-prozentige Steuer auf Waren aus China zu erheben. Mit den Zöllen will er seine Pläne finanzieren, eine Reihe von Steuersenkungen, die er während seiner Amtszeit als Präsident im Jahr 2017 eingeführt hat, über das Jahr 2025 hinaus zu verlängern.  Trump spricht sogar davon, so hohe Zölle zu erheben, dass er die Einkommensteuer ganz abschaffen kann!

Eine aktuelle Studie legt nahe, dass es sich bei Trumps Politik um "stark regressive steuerpolitische Änderungen handelt, die die Steuerlast weg von den Wohlhabenden und hin zu den einkommensschwächeren Mitgliedern der Gesellschaft verschieben".  Das Papier von Kim Clausing und Mary Lovely beziffert die Kosten der bestehenden Abgaben plus Trumps Zollpläne für seine zweite Amtszeit auf 1,8 Prozent des BIP. Sie warnen, dass diese Schätzung "weitere Schäden durch Vergeltungsmaßnahmen der amerikanischen Handelspartner und andere Nebeneffekte wie den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit nicht berücksichtigt".

Diese Berechnung "impliziert, dass die Kosten, die durch Trumps vorgeschlagene neue Zölle entstehen, bis Ende 2019 fast fünfmal so hoch sein werden wie die Kosten, die durch die Trump-Zölle verursacht werden, was den Verbrauchern allein über diesen Kanal zusätzliche Kosten in Höhe von etwa 500 Milliarden Dollar pro Jahr verursacht", so das Papier.  Ein Haushalt mit mittlerem Einkommen wäre im Durchschnitt mit 1.700 Dollar pro Jahr betroffen. Die ärmsten 50 Prozent der Haushalte, die in der Regel einen größeren Teil ihres Einkommens ausgeben, müssen mit einem Rückgang ihres verfügbaren Einkommens um durchschnittlich 3,5 Prozent rechnen.

Die gängigen Wirtschaftswissenschaftler behaupten nach wie vor, die großen Volkswirtschaften hätten eine "sanfte Landung" vollzogen und die Lage sei jetzt ausgeglichen.  Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab jedoch, dass 56 % der Amerikaner der Meinung waren, die USA befänden sich in einer Rezession, und 72 % glaubten, die Inflation steige. Ökonomen wie Paul Krugman sind der Meinung, dass die europäischen und amerikanischen Haushalte nicht mehr auf dem Laufenden zu sein scheinen.  Aber wer hat wirklich den Anschluss verloren? Die amerikanischen Haushalte oder die Wirtschaftsexperten?

 

[1] Ein curate´s egg ist ein englischer Ausdruck, der etwas beschreibt, das teilweise gut und teilweise schlecht ist.
Die moderne Bedeutung hat sich gewandelt und bezieht sich auf etwas, das tatächlich eine Mischung aus guten und schlechten Eigenschaften aufweist, oft mit einem Übergewicht an schlechten Qualitäten.

[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/07/from-the-magnificent-seven-to-the-desperate-hundred/

[4] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/05/20/tariffs-technology-and-industrial-policy/

Pseudo-Wissenschaft im reinen Kapitalinteresse

Mo, 24/06/2024 - 07:49

Da gibt es in der Schweiz, in Lausanne, eine private Hochschule: IMD = International Institute for Management Development. Als ihre Kernkompetenz betrachten sie es, jährlich eine Länderliste aufzustellen, in der die Länder der Welt (bzw. diejenigen, über die man entsprechende Details erfährt) nach ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit angeordnet werden.

Vor einigen Tagen kam die neueste Länderliste des sogenannten  World Competitiveness Ranking  heraus und es herrscht Panik in den seriösen Medien, weil Deutschland auf Platz 24 von 67 erfassten Ländern abrutschte.
Wo Deutschland doch in die absolute Spitzengruppe gehört, und bis vor einigen Jahren dort auch war. Und jetzt? Totales Desaster? Deutschland geht bald unter? Die Ampel-Regierung versemmelt unseren Wohlstand und muss schleunigst abgelöst werden? So in etwa lauten landauf, landab die Kommentare seitens des Kapitals und der Kapitalfreunde.

Hier die Liste der 30 wettbewerbsfähigsten Länder – mit China auf Platz 14, also besser als Deutschland, aber weit von der absoluten Spitze entfernt.

1

Singapur

11

Katar

21

Bahrain

2

Schweiz

12

USA

22

Israel

3

Dänemark

13

Australien

23

Luxemburg

4

Irland

14

China

24

Deutschland

5

Hongkong

15

Finnland

25

Thailand

6

Schweden

16

Saudi-Arabien

26

Österreich

7

Verein. Arab. Emirate

17

Island

27

Indonesien

8

Taiwan

18

Belgien

28

Vereinigtes Königreich

9

Niederlande

19

Kanada

29

Tschechien

10

Norwegen

20

Südkorea

30

Litauen

Was lernen wir aus dieser Liste? Die Süddeutsche Zeitung schreibt dazu: "Die Länderliste versteht sich als Gradmesser, welche Volkswirtschaften es am besten schaffen, den heimischen Wohlstand zu steigern."

Schauen wir uns das mal an. Die folgende Grafik zeigt für jedes der 30 Länder

  • die durchschnittliche Veränderung des BIP pro Kopf (als einfachster Wohlstandsmesser in der kapitalistischen Statistik) in den 10 Jahren bis 2022 (blaue Linie),
  • desgleichen für die letzten 5 Jahre bis 2022 (rote Linie),
  • und zusätzlich, gepunktet, auch den jeweiligen welt-durchschnittlichen Anstieg des BIP pro Kopf.

 

Grafik: Durchschnittliche Wachstumsraten des realen BIP pro Kopf

Interessanterweise sehen wir, dass hinsichtlich der Wohlstandsteigerung die Mehrheit der 30 wettbewerbsstärksten Länder, vor allem auch die an der Spitze, unterhalb des Weltdurchschnittes rangieren: Beim 10-Jahres-Vergleich sind es nur 10 Länder, beim 5-Jahres-Vergleich gar nur 8 Länder, die besser als der Weltdurchschnitt abschneiden.

SZ: Wirtschaftsstandort fällt zurück, 18. 6. 2024

Spiegel: Deutschland rutscht im Ländervergleich ab, 18. 6. 2024

Welt: Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im freien Fall, 20. 6. 2024

Daraus ergibt  sich die Frage: Was sollen wir mit einer Länderliste, die die angeblich Wettbewerbsstarken aufführt, die sich aber hinsichtlich der Wohlstandssteigerung (gemessen als BIP pro Kopf) überwiegend als Versager herausstellen?
Eine solche Liste ist für rein gar nichts brauchbar außer als Begründung oder Anlass für das Kapital, wieder mal Forderungs-Schlagworte an die Regierungen zu richten: Bürokratie-Abbau! Billige Energie! Wirtschaftswende! Weniger Regeln! Mehr Subventionen in deutsche Standorte! Und für die digitale Transformation! ………..…

 

 

 

 

 

 

 

 

Schlechtes Klima

Di, 18/06/2024 - 19:34

Wirtschaftsvertreter warnen wegen hoher Energiepreise, fallender Produktivität und schrumpfender Auftragsbestände vor Deindustrialisierung.
Maßnahmen zum Klimaschutz sollen zurückgedrängt werden.

 

 

 Repräsentanten der deutschen Wirtschaft warnen vor einer voranschreitenden Deindustrialisierung und dringen auf Einschränkungen bei Maßnahmen zum Klimaschutz. Wie der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall erklärt, seien wegen deutlich schrumpfender Nachfrage bis zu 50.000 Arbeitsplätze in der Industrie bedroht. Das Statistische Bundesamt meldet konstant zweistellige Wachstumsraten – bei den Firmenpleiten in Deutschland.
Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) warnt, nicht nur der Export lahme; auch die Produktivität gehe weiter zurück, während die Energiepreise immer noch über ihrem Niveau vor der jüngsten Energiekrise lägen. Deutschland drohe „den Anschluss“ zu verlieren, urteilt das IW.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) fordert, „Europas Wettbewerbsfähigkeit“ müsse zur „Top-Priorität“ werden; daher müsse die künftige EU-Kommission Ökologie und „Wettbewerbsfähigkeit“ besser „ausbalanciere[n]“. Teile der deutschen Wirtschaft nehmen die desolate Wirtschaftsentwicklung zum Anlass, um die Bundesregierung von rechtsaußen zu attackieren und zu Widerstand aufzurufen; sie erhalten Beifall unter anderem von der AfD.

Klimaschutz hat ausgedient

Die Europawahl hat vor dem Hintergrund einer hartnäckigen Wirtschaftsmisere die zunehmenden Differenzen und Spannungen innerhalb der deutschen Funktionseliten offengelegt. Kurz nach der Wahl preschte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mit der Forderung vor, das neue EU-Parlament solle Ökologie und „Wettbewerbsfähigkeit“ besser „ausbalancier[en]“; „Europas Wettbewerbsfähigkeit“ müsse in der kommenden Legislaturperiode zur „Top-Priorität“ werden.[1] Zugleich zeigten sich Wirtschaftsvertreter besorgt ob des Zuwachses „rechtspopulistischer Abgeordneter“; dieser wurde als „besorgniserregendes Signal“ bezeichnet. Der Verband der chemischen Industrie forderte „eine klare Kurskorrektur bei den politischen Prioritäten, damit unsere Wirtschaft im internationalen Wettbewerb“ bestehen und zugleich „die grüne Transformation vorantreiben“ könne. Hierbei müsse der Fokus auf „günstige Energie“ und offene Märkte gelegt werden. Ähnlich argumentierte der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), laut dem insbesondere die Wahlerfolge der AfD und des BSW in Ostdeutschland die „wirtschaftlichen Aussichten“ dieser Regionen verdüsterten. Der Green Deal, der die EU auf eine ökologisch nachhaltige Energieversorgung umstellen sollte, wird laut dem ifo-Institut in der „bisherigen Form wohl nicht weitergeführt“. In der EU hätten „Klimaschutz und Regulierung ausgedient“, heißt es unter Bezug auf Wirtschaftskreise; es stehe ein Politikwechsel hin zu „Pragmatismus und Wettbewerbsfähigkeit“ an.[2]

Streit um „Sondervermögen“

Herrscht diesbezüglich weithin Einigkeit, so bestehen unterschiedliche Einschätzungen zur Konjunkturpolitik. Während das ifo-Institut vor dem Konfliktpotenzial in der EU wegen der hohen Schulden in Frankreich und Italien warnte, sprach sich der BDI für einen deutschen Investitionsplan in Höhe von 400 Milliarden Euro aus.[3]
Diesem Vorstoß erteilte wiederum Finanzminister Christian Lindner (FDP) eine Absage. Ein „Sondervermögen“ von 400 Milliarden Euro belaste „künftige Steuerzahler“, erklärte der Minister. Zudem gälten auch in diesem Fall die „europäischen Fiskalregeln“. Zustimmung erhielt der BDI hingegen von Politikern der Grünen. Deren Vizefraktionschef im Bundestag Andreas Audretsch erklärte, der Wirtschaftsverband stehe mit dieser Forderung „nicht allein“.[4]
In der Berliner Ampelkoalition schwelt der Konflikt um eine schuldenfinanzierte, aktive Konjunkturpolitik seit Langem, wobei sich Kanzler Olaf Scholz bislang auf die Seite seines Finanzministers schlug, der die Schuldenbremse trotz zunehmender Krisentendenzen aufrechterhalten will.[5]

Anschluss verloren

Dabei halten die stagnativen Tendenzen in der Wirtschaft des ehemaligen Exportweltmeisters an. Das unternehmernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) prognostiziert der Bundesrepublik für 2024 eine Stagnation von 0,0 Prozent, wodurch die führende Wirtschaftsmacht der Eurozone gegenüber ihren Konkurrenten zurückfallen werde:

„(Fast) alle wachsen, Deutschland nicht“, klagt das IW; nach der Rezession des vergangenen Jahres (minus 0,3 Prozent) sei die Bundesrepublik dabei, aufgrund fehlender Investitionen „den Anschluss“ zu verlieren.

China werde laut dem IW um 4,5 Prozent wachsen, die USA um 2,0 Prozent; sogar der Euroraum könne um 0,75 Prozent zulegen. Das IW macht für die Misere der exportfixierten deutschen Wirtschaft den stockenden Außenhandel verantwortlich, der „seit Herbst 2022 rückläufig“ sei und „zuletzt unter dem Niveau von 2019“ gelegen habe. Obwohl die Weltwirtschaft in diesem Jahr leicht um ein Prozent wachsen werde, werde hiervon in der Bundesrepublik wenig ankommen, da die globale Nachfrage nach Investitionsgütern aufgrund der weltpolitischen Spannungen schwach bleibe, prognostiziert das IW. Zudem seien die Energiepreise trotz einer deutlichen Stabilisierung „immer noch höher als vor der Energiekrise“. Auch die Arbeitskosten seien in den vergangenen beiden Jahren in Deutschland um fünf Prozent gestiegen, während die Arbeitsproduktivität um 0,1 Prozent pro Jahr zurückgegangen sei. Folglich trage derzeit vor allem der Binnenkonsum die Konjunktur, während die Investitionstätigkeit zurückgehe. Die Anlageinvestitionen der Unternehmen etwa sollen laut dem IW 2024 um 1,5 Prozent schrumpfen.

Deindustrialisierung

Medien warnen gar, die fallende Produktivität – die deutsche Wirtschaft konnte den Spitzenwert ihrer Produktivität aus dem Jahr 2017 bislang nicht mehr erreichen [6] – werde „den Wohlstand in Deutschland“ gefährden. Aufgrund sinkender Produktivität, der zunehmenden Konkurrenz und der anhaltenden protektionistischen Bestrebungen warnen Industrievertreter wie der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall inzwischen vor einer Deindustrialisierung in Deutschland.[7]

Demnach seien bis zu 50.000 Arbeitsplätze in der Industrie aufgrund fehlender Nachfrage akut bedroht. Der Auftragsbestand der Industrie sei im März um 5,8 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen, was vor allem auf die schlechte Lage in der Autoindustrie zurückzuführen sei. Die deutsche Industrie sehe ihre „Wettbewerbsfähigkeit gefährdet“, warnte das ifo-Institut bei der Präsentation einer entsprechenden Umfrage Ende Mai.[8] Demnach hätten nahezu alle Industriezweige berichtet, „ihre Wettbewerbsposition im ersten Quartal 2024“ habe sich „gegenüber dem vierten Quartal 2023 verschlechtert“.

Pleitewelle

Bei der Zahl der in der Industrie beschäftigten Lohnabhängigen scheint sich jüngsten Studien zufolge die Tendenz zur Deindustrialisierung allerdings erst leicht anzudeuten.[9] Demnach arbeiteten 2019 in der deutschen Industrie mit 7,5 Millionen genauso viele Lohnabhängige wie 1996. Allerdings seien seit 2019 zehntausende Arbeitsplätze abgebaut worden; die „Anzahl der Industriearbeitsplätze“ liege „noch immer unter dem Niveau vor der Coronapandemie“. Deutlich stärker spiegelt sich die Krise in der Pleitewelle, die die Bundesrepublik erfasst hat.[10] So mussten im ersten Quartal 2024 mehr als 5.200 Unternehmen Insolvenz anmelden; das kam einem Anstieg um 26,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gleich. Seit Mitte 2023 würden bei Firmenpleiten „durchgängig zweistellige Zuwachsraten“ verzeichnet, teilt das Statistische Bundesamt mit.

Angriff von rechts

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Wirtschaftsmisere nahm die Kritik von Wirtschaftsvertretern an der Bundesregierung gerade im Vorfeld der Europawahl zu, wobei der offizielle Konsens, die äußerste Rechte einzudämmen, innerhalb der deutschen Wirtschaftselite zunehmend bröckelte. Bislang wurde die mit Faschisten durchsetzte Alternative für Deutschland (AfD) vor allem vom Mittelstand und vom Kleinunternehmertum unterstützt, während die Export- und die Großindustrie sich entweder zurückhielten oder den Rassismus und den Nationalismus der AfD formell als wirtschaftsschädlich verurteilten. In Absetzung davon wurde kurz vor der EU-Wahl eine heftige Polemik des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Börse, Theodor Weimer, in den sozialen Medien lanciert, die als Angriff auf die Bundesregierung und sogar auf die bürgerliche Demokratie von weit rechts interpretiert und von der AfD aufgegriffen wurde.[11]

„Wir machen nicht mehr mit!“

Deutschlands Ansehen sei „schlecht wie nie“, erklärte Weimer, der auch die im Herbst 2023 massiv verschärfte Asyl- und Migrationspolitik der Bundesregierung – ganz auf AfD-Linie – als „Gutmenschentum“ kritisierte; das Industrieland Bundesrepublik verkomme zu einem „Ramschladen“ und sei auf dem „Weg zum Entwicklungsland“. Die Unternehmer müssten laut Weimer Berlin endlich klar mitteilen: „Wir machen nicht mehr mit“. Weimers Aufruf wurde kurz vor der Wahl von ultrarechten Kräften massiv in den sozialen Medien verbreitet. Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch etwa erklärte, Weimer kenne die harte ökonomische Realität – „anders als der journalistische Teil des Ampel-Hofstaats“.

„Primat der Politik“

Vertreter der Großindustrie hingegen beeilten sich nach der Wahl, Weimers Äußerungen zu widersprechen. Deutschland sei kein Ramschladen, erklärte der Chef des Evonik-Konzerns, Christian Kullmann. Unternehmensvertreter, die anonym bleiben wollten, beteuerten gegenüber Medienvertretern, sie akzeptierten das „Primat der Politik“. Stefan Hartung, Chef des Bosch-Konzerns, beteuerte gegenüber dem Internationalen Club Frankfurter Wirtschaftsjournalisten, er habe Börsenchef Theodor Weimer lange nicht gesehen und wisse nicht, wie dieser zu seinen Aussagen komme. Er stehe, erklärte Hartung, „zum Standort Deutschland mit all seinen Stärken und Schwächen“.

 

[1] So reagiert die deutsche Wirtschaft auf die EU-Wahl. wiwo.de 11.06.2024.

[2] Deutsche Wirtschaft verlangt „klare Kurskorrektur“ von Brüssel. n-tv.de 10.06.2024.

[3] Industrie fordert Milliardentöpfe gegen Investitionsstau. spiegel.de 12.06.2024.

[4] Lindner lehnt BDI-Vorstoß ab. deutschlandfunk.de 12.06.2024.

[5] Scholz gibt Lindner Rückendeckung. tagesschau.de 14.05.2024.

[6] Die Welt wird immer leistungsfähiger – und Deutschland fällt zurück. welt.de 13.06.2024.

[7] „Beginnende Deindustrialisierung“: In fast allen Branchen verliert Deutschland den Anschluss. merkur.de 01.06.2024.

[8] Industrie in Deutschland sieht ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährdet. ifo.de 21.05.2024.

[9] Industriejobs ade? Welche Branchen Stellen abbauen – und welche Mitarbeiter einstellen. wiwo.de 31.05.2024.

[10] Zahl der Firmenpleiten nimmt weiter zu. zeit.de 14.06.2024.

[11] Wie die Wutrede des Börsenchefs die Wirtschaft aufmischt. sueddeutsche.de 12.06.2024.

 

Ergänzende Literatur:

https://www.isw-muenchen.de/broschueren/wirtschaftsinfos/217-wirtschaftsinfo-64

 

 

Gendergerechte Sprache „unzulässig“: Der Anfang einer Verbotsspirale?

Sa, 15/06/2024 - 22:06

Es gehe um eine ideologiefreie, verständliche Sprache, heißt es. Aber gibt es überhaupt Sprache ohne ideologische Prägung?
Die Gefahr liegt woanders.

 



Gendersprache bleibt  ein Reizthema.[1] Außer in Bayern; dort wurde sie verboten.
Schon im März erklärte der Freistaat gendergerechte Sprache für „unzulässig“. Seitdem sind „mehrgeschlechtliche Schreibweisen durch Wortbinnenzeichen wie Genderstern, Doppelpunkt, Gender-Gap oder Mediopunkt“ an Behörden, Universitäten und Schulen tabu.

„Bayerns Staatsregierung führt Genderverbot ein“, titelte der Deutschlandfunk. „Gender-Gaga in Bayern“, schrieb das Sonntagsblatt und nannte Bayern die „Sprachpolizei der Nation“.

Diesen Hut wollte sich Staatskanzleichef Florian Herrmann nicht aufsetzen. „Sprache muss klar und verständlich sein“, unterstrich der CSU-Politiker. Denn Behördendeutsch ist bekanntlich ja gut zu verstehen. Begriffe wie „raumübergreifendes Großgrün“ (Baum), „einachsiger Dreiseitenkipper“ (Schubkarre) oder „Restmüllbeseitigungsbehälterentleerung“ (Müllabfuhr) verblassen im Angesicht des „Gender-Gagas“.

Beim Verbot gehe es auch darum, die „Diskursräume in einer liberalen Gesellschaft offenzuhalten“, argumentierte Herrmann weiter. Eine ideologisch geprägte Sprache, etwa beim Gendern, tue das Gegenteil. Die berechtigte Gegenfrage ist nun: Gibt es Sprache ohne ideologische Prägung? Genderstern hin oder her, Begriffe wie „Politik der Stärke“, „bildungsfern“ oder „Problemabfall“ werden in der Politik oft und gern genutzt. Letztlich stehen sie für „Aufrüstung“, „ungebildet“ und „Giftmüll“. Klingt weniger schön, beschreibt aber dasselbe. Das heißt, auch hier wird über Sprache beeinflusst, wie wir über bestimmte Dinge denken.

Im Journalismus gehört die Wahl von Begriffen deshalb zum Tagesgeschäft.[2]:
Schreibt eine Zeitung „Flüchtling“ oder „Migrant“, „Schutzwall“ oder „Grenzzaun“, „Terrorist“ oder „Freiheitskämpfer“?
Viele Redaktionen geben vor, welche Wörter für welche Situationen gelten sollen. Denn keiner der genannten Begriffe ist neutral; sie alle stehen für politische Perspektiven.
Ein scheinbares Gegenbeispiel liefert die Deutsche Bahn. Sie umschreibt den Tod eines Menschen auf Schienen mit „Personenschaden“. Das ist maximales Behördendeutsch für einen Tod, der am Ende oft „Selbstmord“ ist. Hier verschleiert ein Begriff also Blut, Schock und Trauma und lässt die Person hinter dem Schaden verschwinden.

Aber eignen sich Verbote überhaupt dazu, „Diskursräume offenzuhalten“? Beispiel USA: Dort nehmen die Verbotsspiralen kein Ende. In Florida werden Begriffe wie „Klimawandel“ aus Gesetzestexten gestrichen, Studiengänge zur afroamerikanischen Geschichte verboten und entsprechende Bücher zensiert. In Bayern ist man davon noch weit entfernt. Trotzdem betonte Herrmann, der Freistaat werde die Verbotsdurchsetzung „mit Augenmaß verfolgen“.

Gleichzeitig erklärt die CSU, Bayern sei „ein Freistaat und kein Verbotsstaat“. Rückhalt bekommt die Partei von der bayerischen AfD. Die will nicht nur die Gendersprache, sondern die ganze Forschung abschaffen. Das heißt, Frauenstudien? Weg damit! Wir Frauen wissen doch, wo wir hingehören: ins Heim, zur Familie, in die Ehe – natürlich nur mit Mann. Das nennt die AfD „Bekenntnis zur traditionellen Familie als Leitbild“.
Und da ist sie, die potenzielle Verbotsspirale: Erst kommt die Sprache, dann bestimmte Studiengänge und Bücher, dann Abtreibung und Frauenrechte. Klingt übertrieben?
In den USA ist das längst Realität.

Erstveröffentlichung berliner zeitung
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/bayern-verbannt-das-gendern-der-anfang-einer-verbotsspirale-li.2223360

 

[1] https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/gender-terror-die-erziehungsmassnahmen-der-sprachpolizisten-nerven-li.346021

 

[2] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/in-kriegszeiten-braucht-es-vor-allem-einen-humanitaeren-journalismus-li.2210429

 

 

 

 

Autoindustrie: Die Lage wird jeden Tag dringlicher.

Sa, 15/06/2024 - 17:04

Während die Klimakatastrophe unübersehbar geworden ist (außer Markus Söder wussten alle, dass Starkregen zu Überschwemmungen führt), bahnt sich eine klimapolitische Rolle rückwärts an.
 

Nachdem in Deutschland und anderen Ländern der EU die Diskussion losgetreten wurde, das Verbrenner-Aus zu kippen, nährt nun auch der Betriebsratschef von Audi die Hoffnung, dass es so weitergehen kann wie bisher.
Die IG Metall steht zwar zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens, ist dennoch– trotz guter gemeinsamer Positionen mit Umwelt- und Sozialverbänden – ziemlich ratlos in der Debatte und den Aktionen um die Verkehrswende.

„Ich glaube, dass die Gewerkschaften sich überlegen müssen, ob sie beim Thema Klimawandel vorneweg marschieren wollen oder das anderen überlassen. Ich wünsche mir, dass wir uns mehr mit außerparlamentarischen Bewegungen verbünden. Das betrifft nicht nur die Klimabewegung, sondern auch die Antikriegsbewegung. In Kassel gibt es Rheinmetall, wo abhängig Beschäftigte Rüstungsgüter herstellen. Es geht um Arbeit, klar. Aber dennoch muss man fragen, ob wir als Gewerkschaft akzeptieren wollen, dass in Kriegen Waffen eingesetzt werden, die aus Deutschland kommen. Immerhin setzt sich die IG Metall laut Satzung für Frieden ein. Ich finde, dass wir auch da die Speerspitze der Bewegung bilden sollten,“
so der VW-Betriebsrat Bilal Sahin im Interview mit dem nd1.

Die Schließung des Ford-Werkes in Saarlouis wurde ausgespielt gegen das Ford-Werk in Valencia. Eine internationalistische, europäische Strategie dagegen ist bei der IG Metall so wenig wirksam wie beim europäischen Betriebsrat. Die Konkurrenz zu akzeptieren kann nicht zum Erfolg führen – das ist das gewerkschaftliche Dilemma, auch im Fall Tesla.

Verzweiflung in Zwickau, Emden und Brüssel

In Zwickau, Emden und Brüssel werden in vergleichbaren Fabriken Autos gebaut, Elektroautos. Aber die Autos finden keinen Absatz, weil fast nur große und teure Autos gebaut werden und weil deren Förderung am 18. Dezember 2023 durch die Bundesregierung abrupt beendet wurde. Seit Beginn der Förderung vor sieben Jahren wurden 10 Milliarden Euro dafür ausgeschüttet – überwiegend für Unternehmen, die ihre Flotte von Geschäftsfahrzeugen erweitert haben. Die Steuerfreiheit von E-Autos, ca. 100 Mio. Euro pro Jahr gegenwärtig, bezahlt gleichermaßen der ärmere Teil der Bevölkerung.
Ein wichtiger Grund für den Absatzeinbruch sind die Behauptungen von CDU/CSU, FDP, BSW, AfD und von der Leyen, wir können so weitermachen wie bisher. Den Arbeiterinnen und Arbeitern in den Fabriken von VW und Audi, in denen hauptsächlich E-Autos gebaut werden, geht es schlecht, wenn sie an die Zukunft denken. Immer wieder wird tage- oder wochenweise die Produktion gestoppt, um nicht noch mehr Autos „auf Halde“ zu produzieren. Ford schließt seine Fabrik in Saarlouis, bei BMW und Mercedes sieht es wegen der reichen Luxus-Kunden weltweit etwas besser aus. In Zwickau, Emden und in Brüssel hoffen sie darauf, dass der Kelch der Werksschließung an ihnen vorübergeht, dass eher das jeweils andere Werk geschlossen wird. Der Ingolstädter Betriebsratsvorsitzende von Audi, Jörg Schlagbauer, fordert auf der jüngsten Betriebsversammlung einen Kurswechsel hin zu mehr Verbrenner-Autos über den bisherigen Zeithorizont (2033) hinaus, um aus dem aktuellen „Krisenmodus“ wieder herauszukommen. Die Herren von VW freuen sich über diese Wendungen und die konstruierte Spaltung – verschonen vielleicht die größeren Standorte und machen als erstes die Fabriken in Dresden, Osnabrück und Brüssel dicht.

Verfehlte Produktstrategie

Die eingebrochene Nachfrage nach Elektroautos lässt nun Zweifel an dem Ziel der Klimaneutralität aufkommen – nicht jedoch an der Produktionsstrategie der Autokonzerne. BMW-Boss Zipse hat kein Datum für ein Aus von Benzinern und Diesel gesetzt und will weiter in die Technik investieren. Der Plan von Mercedes, ab 2030 nur noch Elektroantriebe anzubieten, ist gestrichen. Der Klimawandel soll anderswo gestoppt werden, argumentiert das Handelsblatt (14.6.2024): „Aktuell könnte das in Indien der Fall sein, wo gut drei Viertel des Strombedarfs durch das Verbrennen von Kohle, Gas und Öl gedeckt werden. Würde der Westen Indien und andere Schwellenländer mit Geld und Technologie stärker als bisher dabei unterstützen, zügig von der Kohleverstromung wegzukommen – dann wäre das ein sehr effizienter Weg zu mehr Klimaschutz,“ – und die deutschen Autokonzerne könnten so weitermachen wie bisher.
Die Verkehrswende mit einem kräftigen Ausbau des ÖPNV könnte ebenso ausbleiben wie die Umstellung auf Wärmepumpen, kleine, sparsame und preiswerte E-Autos kämen aus China (falls die EU das durch den Handelskrieg nicht auch noch versaut). Der klimapolitische Backlash wäre vollkommen, die Klimakatastrophe nähme mit allen fürchterlichen Folgen ihren Lauf und die soziale Katastrophe wäre nur um kurze Zeit verschoben und in andere Weltregionen ausgelagert.

Schützt das VW-Gesetz?

Bei VW wird inzwischen offen über massenhaften Personalabbau und über Werksschließungen gesprochen. Tausende Leiharbeiter*innen in Hannover, Emden und Zwickau werden vor die Tür gesetzt, wie unter anderem der NDR berichtet2. Im Rahmen des aktuellen Sparprogramms sollen 20 Prozent Personalkosten im indirekten Bereich eingespart werden, die Arbeit also mit rund 10.000 Angestellten weniger geleistet werden. Mit der Debatte um Werksschließungen ist die Frage aufgeworfen, welche Möglichkeiten die besondere Mitbestimmung bei VW nach dem VW-Gesetz hat. Im VW-Gesetz heißt es u.a.: (§4.2) „Die Errichtung und die Verlegung von Produktionsstätten bedürfen der Zustimmung des Aufsichtsrats. Der Beschluss bedarf der Mehrheit von zwei Drittel der Mitglieder des Aufsichtsrats.“ Mit dem Anteil des Landes und den zwei Mitgliedern der Landesregierung sowie den 10 Vertreter*innen der Beschäftigten im Aufsichtsrat wäre die „Verlegung von Produktionsstätten“ zu verhindern – aber auch die Schließung? Es gibt da noch die Satzung der Volkswagen AG, in der es konkreter formuliert ist, in § 9.1: „Der Vorstand bedarf der vorherigen Zustimmung des Aufsichtsrats zur Vornahme folgender Geschäfte: 1. Errichtung und Aufhebung von Zweigniederlassungen; 2. Errichtung und Verlegung von Produktionsstätten.“

Wenn, wie Klaus Dörre bei dem Mobilitätsratschlag angeregt hat, die Aufgabe darin besteht, den Rückschritt hin zum Verbrenner zu verhindern, muss doch um den Umfang und die Funktion von Autos mit E-Antrieb gestritten werden.
Denn es geht am Ende um weniger privat genutzte Autos und um wesentlich mehr öffentlichen Verkehr – sowohl wegen des Klimas als auch wegen der weniger werdenden Erwerbsarbeit, wie an Personalabbau und Werksschließungen sichtbar ist.
Wir brauchen weniger Autos, andere Autos und viel mehr öffentlichen Verkehr.
Das Aus des Verbrenner-Aus ist eine Rolle rückwärts, die die getätigten Investitionen und die industriellen Cluster insbesondere in Ostdeutschland gefährden – das wäre eine soziale und politische Katastrophe.
In der aktuellen Auseinandersetzung muss Die Linke für den Green Deal und gegen das Aus des Verbrenner-Aus kämpfen.
Verzögerungen bei der Verkehrswende führen entweder zum Verfehlen der Klimaziele oder sind, soll Klimaneutralität trotzdem bis 2045 erreicht werden, mit höheren Kosten verbunden. Strukturbrüche und Entwertung von Investitionen sind dann unvermeidlich. Beginnt das Umsteuern der Klimapolitik im Verkehr erst 2030, drohen bis 2045 Mehrkosten von rund 500 Milliarden Euro3.

Elon Musk heizt die Konkurrenz an

Gegen Tesla und Elon Musk oder gegen E-Autos? Bei Tesla in Grünheide erzählen Arbeiter, weil das Unternehmen sich strikt weigert, mit der Gewerkschaft überhaupt zu reden, von der „Produktionshölle“, von mangelnder Arbeitssicherheit, von hohem Arbeitsdruck und ebensolchem Krankenstand, von willkürlichen Entscheidungen betrieblicher Vorgesetzter und kaum Möglichkeiten zusammenhängender Urlaubsentnahme.
Der Widerstand gegen Tesla im Klimacamp oder in der Waldbesetzung in Grünheide ist deshalb kein Kampf gegen das Elektroauto an sich, kein Blitzableiter, schon gar keine „Querfront“ mit den Apologeten des Verbrenner.Motors, wie Timo Daum und Andreas Knie befürchten und argumentieren4.
Es geht dabei um die Mobilitätswende insgesamt, um die geschaffenen Überkapazitäten, die angeheizte Konkurrenz zwischen den Arbeiter*innen der verschiedenen Standorte, für Umwelt- und Ressourcenschutz, Gewerkschaftsrechte und die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter. Und es geht um Demokratie: Wenn der Gemeinderat von Grünheide sich über den Bürgerentscheid gegen die Erweiterung von Tesla hinwegsetzt, so ist das in höchstem Maße undemokratisch und führt zu weiterer Politikverdrossenheit.

Der Kampf bei Tesla wird für das Recht auf Tarifverträge in ganz Europa geführt! Arturo Vasquez Sandoval, Mitglied der schwedischen Linkspartei (Vänsterpartiet) und Sekretär der Gewerkschaft IF Metall in Stockholm, hat jüngst beim Mobilitätsratschlag in Kassel mit Kollegen von der IG Metall gesprochen, die ebenfalls Schwierigkeiten haben, Tesla zu Verhandlungen zu bewegen. Was verbindet die Kämpfe und wie kann die gegenseitige Unterstützung gestärkt werden?

Arturo antwortet im Interview mit dem nd:

„Wir kämpfen nicht nur für das skandinavische Modell. Es ist ein Kampf für das Recht auf Tarifverträge für Arbeiter in ganz Europa. Falls wir verlieren, würde das ein Erdbeben für den Rest des Kontinents bedeuten. Glauben Sie, dass es für die IG Metall leichter wird, einen Tarifvertrag für das Berliner Werk zu unterzeichnen, wenn wir den Kampf in Schweden verlieren? Ein Vorschlag, den ich in Deutschland vorgebracht habe, ist, dass wir ein Netzwerk bilden müssen, damit wir direkt miteinander reden können. Wir müssen eine Verbindung zwischen den Beschäftigten in Berlin und in Schweden herstellen, damit sie sehen, dass sie ähnliche Probleme haben und anfangen können, einander zu unterstützen. Wir werden als Gewerkschaft dabei sein und helfen.“

Beteiligung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Transformationsräten und Transformationsnetzwerken, wirtschaftliche Mitbestimmung über die Branche und darüber hinaus gehende Strukturpolitik sind notwendig in der Transformation, sonst kommen die Interessen der Beschäftigten unter die Räder. Wir brauchen öffentliche Investitionen, wenn privates Kapital wegen Konkurrenz und Wachstumszwang nicht richtig angelegt oder gar abgezogen wird. Die Schuldenbremse ist das Haupthindernis, entwickelt sich so zu einer Zukunftsbremse.

Beim Mobilitätsratschlag der RLS in Kassel wurde eine Erklärung dazu beraten, die auf der WebSite der Stiftung dokumentiert ist5:
 „Die Lage ist dringlich“. Und sie wird jeden Tag dringlicher!

 

Personenkraftwagen

Mai 2024

Veränderung 24/23 in %

Neuzulassungen in Deutschland

236.400

-4

davon

   

dt. Marken inkl. Konzernmarken

166.400

-6

ausl. Marken

70.000

0

darunter

   

Elektro

43.760

-23

BEV

29.710

-31

PHEV

14.040

2

Produktion in Deutschland

307.500

-18

darunter: Export

249.400


-16

Daten des VDA, https://www.vda.de/

1https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182713.automobilindustrie-vw-betriebsrat-man-hat-die-entwicklung-verschlafen.html

2https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Hannover-VW-Nutzfahrzeuge-laesst-rund-900-Zeitvertraege-auslaufen,vwn116.html

3https://www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/verkehrswende-als-mehrwert/

4https://www.ipg-journal.de/rubriken/wirtschaft-und-oekologie/artikel/blitzableiter-7496/

5https://www.rosalux.de/dokumentation/id/52186/nach-links-abbiegen-spurwechsel-fuer-eine-gerechte-mobilitaetswende

 

EU-Wahl: Der rechte Wind über der Union. Linksfraktion stabil

Mi, 12/06/2024 - 08:28

Trotz der Erfolge ultrarechter und nationalistischer Parteien in vielen EU-Ländern, werden die drei Fraktionen der politischen Mitte - die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische S&D und die liberale Renew - auch im neuen Europaparlament eine klare Mehrheit bilden können.

 

 

Im Wahlkampf hatte sich von der Leyen auch offen für eine Zusammenarbeit mit ultrarechten Parteien gezeigt hat, etwa mit den faschistischen Fratelli d’Italia von Italiens Regierungschefin Georgia Meloni. Das Kriterium war nur noch, eindeutig pro-NATO, pro Ukraine und gegen Russland zu sein. Die Zusammenarbeit mit der extremen Rechten in Europa ist kein Tabu mehr)


 

Die Europäische Volkspartei EVP, Familie der konservativen Parteien, bleibt mit 186 Mandaten stärkste Kraft und konnte Stimmen hinzugewinnen, vor allem aufgrund  der  Ergebnisse in Deutschland, Spanien und Polen.

Die Sozialdemokraten der S&D-Fraktion verlieren leicht und kommen auf 135 Sitze.

Für die Liberalen, Renew Europe, kommt aus Frankreich das Debakel der Macron'schen Liberalen, das dazu führt, dass die Renew-Fraktion rund 20 Abgeordnete - fast ein Fünftel ihrer Sitze - verliert: es ist das schlechteste Ergebnis in absoluten Zahlen,  

Die Grünen stürzen von über 70 auf 53 ab.

Die Ultrarechten in der Fraktion der "Konservativen und Reformisten" (ECR) haben dank Meloni und der polnischen Pis gut zugelegt, auch wenn der Zuwachs in der Straßburger Kammer kaum sichtbar ist: 73 Sitze (+4).

Die andere ultrarechte Fraktion, die Fraktion "Identität und Demokratie" (ID), legen um 10 auf 58 Sitze zu. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die kürzlich ausgeschlossene AfD in der Fraktion fehlt. Der Erfolg von ID ist dem Rassemblement National von Le Pen zu verdanken.
Zusammen kommen die beiden Fraktionen der Nationalisten, Ultrarechten und Faschisten auf 131 Abgeordnete - mehr als ein Sechstel des Parlaments. Zum ultrarechten Lager müssen noch eine Reihe fraktionsloser Abgeordneter hinzugezählt werden: 16 der AfD, 11 der ungarischen Fidesz.

Die Linksfraktion The Left bleibt mit 36 Abgeordneten insgesamt stabil und wird durch italienische Abgeordnete der "Alleanza Verdi e Sinistra" (AVS) – ein Bündnis der Linkspartei Sinistra Italiana und der Partei der Grünen – gestärkt.

Nicht zu vergessen sind die 100 Abgeordneten der Fraktionslosen (darunter die ungarische Partei von Ministerpräsident Orbán, Fidesz, aber auch die 5-Sterne aus Italien, die noch auf der Suche nach einer europäischen Heimat sind) und die fraktionslosen Neulinge (z.B. die Partei von Sarah Wagenknecht).

Aus der Linksfraktion ist durchgesickert, dass es Interesse an Sahra Wagenknechts BSW gibt, der aus einer Abspaltung der Linken hervorgegangenen Partei, die sechs Abgeordnete ins Europäische Parlament gewählt schickt und nun eine politische Zugehörigkeit anstrebt. Aber auch die 5-Sterne-Bewegung umwerben das BSW.

Von der Leyen auf der Suche nach einer Mehrheit

Noch am Sonntagabend betonte von der Leyen die zentrale Bedeutung der Europäischen Volkspartei (EVP) und die Notwendigkeit, die bisher geleistete Arbeit mit den beiden anderen großen europäischen Parteifamilien fortzusetzen. Sie werde Sozialdemokraten und Liberale wegen einer möglichen Zusammenarbeit ansprechen, so von der Leyen. "Ich habe immer gesagt, dass ich eine breite Mehrheit für ein starkes Europa aufbauen möchte".

"Diese Wahlen haben uns zwei Botschaften vermittelt“, so die Kommissionspräsidentin. "Erstens: Es gibt weiterhin eine Mehrheit in der Mitte für ein starkes Europa“. Da aber "die Extreme, links und rechts, an Zustimmung gewonnen haben“, trage das Ergebnis gerade deshalb eine große Verantwortung für die pro-europäischen Parteien. "Wir mögen uns in einzelnen Punkten unterscheiden, aber wir haben alle ein Interesse an Stabilität und wir wollen alle ein starkes und leistungsfähiges Europa", schloss sie ihre Ausführungen.

Die drei Fraktionen – Europäische Volkspartei EP, Progressive Allianz der Sozialdemokraten S&D und die liberale Renew Europe Group - kommen auf mehr als 400 Sitze, das ist rein rechnerisch eine klare Mehrheit im neuen Parlament, dem 720 Abgeordnete angehören werden.

Die Grünen erwähnte von der Leyen am Wahlabend nicht als mögliche Partner für eine Zusammenarbeit.
Bereits im Wahlkampf hatte sie auf das, was jahrelang ihre "Herzensangelegenheit" gewesen war, verzichtet, den "Green Deal", was die Grünen nicht daran hindert, von der Leyen ihre Unterstützung anzubiedern.

Die stellvertretenden Vorsitzende der ultrarechten EKR-Fraktion, Assita Kanko, erklärte am Wahlabend: "Wir haben gut mit von der Leyen zusammengearbeitet, ich wüsste nicht, was uns daran hindern sollte, mit ihr weiter zusammenzuarbeiten.“

Wahlergebnisse in einigen ausgewählten Ländern

Deutschland

CDU/CSU kommen auf 30 Prozent und 29 Sitze (+-0). An zweiter Stelle liegt die AfD mit 15,9 Prozent und 15 Sitzen (+6). SPD 13,9 Prozent und 14 Sitze (-2); Grüne 11,9 Prozent und 12 Sitze (-9); BSW 6,2 Prozent und 6 Sitze; FDP 5,2 Prozent und 5 Sitze.

Die Partei Die Linke kommt noch auf 2,7 Prozent und 3 Sitze (-2). Damit muss Özlem Demirel aus dem EU-Parlament ausscheiden.

Die Tierschutzpartei kommt auf einen Abgeordneten, der Mitglied der Linksfraktion wird.

Welcher Fraktion sich die Abgeordneten des BSW anschließen werden, ist noch offen.

Weitere Ergebnisse:
Freie Wähler 3 Sitze (+1); Volt 3 Sitze (+2) Die PARTEI 2 Sitze (+1); FAMILIE 1 Sitz; ÖDP 1 Sitz; PdF 1 Sitz.

Belgien

Wahlsieger ist der ultrarechte flämische Vlaams Belang (VB) mit 14,5 Prozent, gefolgt von den flämischen Nationalisten Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) mit knapp 14 Prozent.

Die Abgeordneten des Vlaams Belang sind Mitglied der Fraktion "Identität und Demokratie" (ID), eine Fraktion von sieben nationalistischen und ultrarechten Parteien, zu der unter anderem auch die österreichische FPÖ, die italienische Lega, die französische Rassemblement National von Le Pen gehören. Die AfD wurde kürzlich ausgeschlossen.

Die Nieuw-Vlaamse Alliantie ist Mitglied in der Fraktion "Europäische Konservative und Reformer" (ECR), gemeinsam mit Parteien wie den italienischen Faschisten von Fratelli d’Italia, der polnischen PiS oder der spanischen, faschistischen Partei Vox.

Die linke Parti du Travail de Belgique / Partij van de Arbeid van België kommt auf 5,57 Prozent, im französischen Sprachraum erreicht sie 15,38 Prozent. Sie wird mit zwei Abgeordneten die Linksfraktion The Left stärken.

Dänemark: 

Überraschungssieger ist die Sozialistische Volkspartei Socialistisk Folkeparti (SF) mit 17,4 Prozent, vor den Sozialdemokraten, die auf 15,6 Prozent kommen. Die drei Mandate der Sozialistischen Volkspartei kommen im EU-Parlament jedoch nicht der Linksfraktion zugute, sondern der Fraktion der Grünen.

Die rot-grünen Einheitslisten erhalten sieben Prozent und schicken einen Abgeordneten in die Linksfraktion The Left.

Finnland: Linksallinaz erfolgreich

In Finnland liegen die Konservativen von der Nationalen Sammlungspartei mit 24,8 Prozent an erster Stelle.

Auf dem zweiten Platz liegt die Linksallianz Vasemmistoliitto mit 17,3 Prozent. Ihre drei Abgeordneten (+2) sind Teil der Linksfraktion The Left.

An dritter Stelle liegt die Sozialdemokratische Partei Finnlands mit 14,9 Prozent.

 

Erdbeben in Frankreich

Die ultrarechte Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen hat die EU-Wahl in Frankreich mit 31,4 Prozent und 30 Sitzen (+12) klar gewonnen. RN ist nun in allen Departements außer in der Hauptstadtregion Île-de-France die stärke politische Kraft.

Besoin d'Europe, die Liste von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Verbündeten landete wie erwartet mit 14,6 Prozent weit abgeschlagen dahinter.

An dritter Stelle liegt das Bündnis der Sozialistischen Partei, Réveiller l'Europe, mit 13,83 Prozent.

La France Insoumise LF erreicht 9,89 Prozent und schickt 9 Abgeordnete (+4) in die Linksfraktion des EU-Parlaments.

Das Wahlbündnis der Französischen Kommunistischen Partei, Coalition Gauche Unie, scheitert mit 2,36 Prozent an der Wahlhürde für den Einzug ins EU-Parlament.

Frankreich ´s  Parlamentswahl am 30. Juni und 7. Juli

Als Reaktion auf das Wahlergebnis und die Forderung des Rassemblement National (RN) nach Neuwahlen, kündigte Staatspräsident Emmanuel Macron noch am Wahlabend an, dass er Neuwahlen ausrufen würde.

Gewählt wird in zwei Runden am 30. Juni und 7. Juli. Der Vormarsch der Ultrarechten wird sich bis dahin nicht mehr umkehren lassen. Der RN könnte dann nicht nur stärkste Fraktion in der Nationalversammlung werden, sondern sogar eine absolute Mehrheit erringen. In diesem Fall wäre Macron gezwungen, einen Premierminister oder eine Premierministerin aus den Reihen des RN mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

Francois Ruffin von La France Insoumise kommentierte die Entscheidung von Macron: "Wir haben einen Spinner an der Spitze des Staates. Das ist ein Pyromane. Macrons Partei wird sich eine zweite Klatsche einfangen. Das ist alles. Was bleibt, um den Rassemblement National zu stoppen, ist deshalb nur die Linke."

Griechenland

Zwar liegt die konservative Néa Dimokratía des griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis mit 28,31 Prozent an erster Stelle. Aber Mitsotakis ist trotzdem unzufrieden. "Ich sage es ohne Umschweife: Unsere Partei hat das Ziel, das wir uns gesetzt hatten, nicht erreicht“, sagte Mitsotakis in einer ersten persönlichen Erklärung zum Wahlergebnis.

Hintergrund für Mitsotakis' Aussagen ist der Umstand, dass seine ND bei der EU-Wahl am Sonntag im Vergleich zu den jüngsten Parlamentswahlen Ende Juni vorigen Jahres sowie den letzten Europawahlen 2019 starke Stimmenverluste hat hinnehmen müssen. Bei den jüngsten Parlamentswahlen hatte regierende ND gut 40 Prozent der Stimmen erreicht, bei den letzten Europawahlen waren es 33 Prozent.

An zweiter Stelle liegt SYRIZA mit 14,92 Prozent. Die vier Abgeordneten (+2) schließen sich der Linksfraktion The Left an.

Es folgen die sozialdemokratische Pasok mit 12,79 Prozent der Stimmen, die nationalkonservative Griechische Lösung (9,30 Prozent), die Kommunistische Partei KKE (9,25 Prozent), die ultrareligiöse Partei Niki (der Sieg) mit 4,37 Prozent der Stimmen, die linksnationale Plefsi Eleftherias (Kurs der Freiheit) mit 3,40 Prozent der Stimmen sowie die nationalistische Stimme der Vernunft (Foni tis Logikis) mit 3,04 Prozent der Stimmen.

MERA25, die Partei von Yanis Varoufakis, kommt auf 2,54 Prozent und scheitert damit ebenso an der Drei-Prozent-Hürde wie die linke SYRIZA-Abspaltung Néa Aristerá/Neue Linke von Euclid Tsakalotos mit 2,45 Prozent.

Italien

Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre faschistische Partei Fratelli d'Italia (FdI) übertreffen mit 28,77 Prozent der Stimmen sogar das Resultat der Parlamentswahlen im Oktober 2022. Allerdings nur prozentual. Die Fratelli d'Italia haben etwa 10 Prozent ihrer Wähler verloren - ein Rückgang um 700.000 Stimmen von mehr als 7,4 Millionen auf 6,7 Millionen. Trotzdem belibt die FdI mit Abstand Italiens stärkste Einzelkraft. Auch koalitionsintern hat Meloni weiterhin allein das Sagen - denn die Koalitionspartner Lega und Forza Italia kommen nicht über 9 Prozent der Stimmen hinaus.

Die Kräfteverhältnisse innerhalb der Regierungskoalition in Rom haben sich seit der Europawahl vor fünf Jahren umgekehrt. 2019 hatte die Lega noch 34,3 Prozent der Stimmen erzielt und Fratelli d'Italia 6,44. Diesmal musste sich die Lega mit 8,98 Prozent der Stimmen begnügen – und liegt damit hinter der Forza Italia mit 9,6 Prozent.

Doch auch die Oppositionskräfte haben zugelegt, und zwar auf Kosten der pro-europäischen Zentrumsparteien. So schaffte es die Partito Democratico mit ihrer neuen Führung unter der populären Elly Schlein auf 24,1 Prozent - das sind vier Prozentpunkte mehr als bei den Parlamentswahlen. In absoluten Zahlen konnte sie ihre 5,6 Millionen Wähler halten. Sie bestätigte sich somit als stärkste Oppositionspartei.

Die Fünf-Sterne-Bewegung Movimento Cinque Stelle musste dagegen Stimmeneinbußen hinnehmen und sank von 16 Prozent auf 9,98 Prozent.

Spitzenkandidatin des links-grünen Bündnisses "Alleanza Verdi e Sinistra" in Ungarn in Haft

Eine Überraschung ist der Wahlerfolg des links-grünen Bündnisses "Alleanza Verdi e Sinistra" (Bündnis der Linken und der Grünen) AVS. Die Partei verdoppelte ihre Stimmen gegenüber den Parlamentswahlen 2022 auf 6,77 Prozent. In absoluten Stimmen konnte sie auf einen Schlag ihre Stimmenzahl um 50 Prozent von einer Million absoluter Stimmen im September 2022 auf anderthalb Millionen steigern.

Damit hat die Spitzenkandidatin der Partei, die in Budapest unter Hausarrest stehende Aktivistin Ilaria Salis, den Einzug ins EU-Parlament geschafft.

Salis, gegen die seit Januar in Budapest ein Prozess läuft, wird zur Last gelegt, mit anderen Beteiligten aus der linken Szene im Februar vergangenen Jahres in Budapest eine Gruppe von Rechtsextremen gewaltsam angegriffen zu haben, die bei einer Aktion der Waffen-SS und ungarischer Soldaten gedenken wollten. Dabei wurden nach Angaben der Behörden neun Menschen verletzt. Der Volksschullehrerin aus der Lombardei drohen bis zu elf Jahre Haft. Die AVS-Partei hofft nun, dass Salis dank ihrer Immunität als EU-Parlamentarierin freikommen kann.

Kompliziert ist auch die Zuordnung zu den Fraktionen im EU-Parlament.
Zwar steht fest, dass die Liste sechs Sitze im Plenarsaal erhalten wird, aber zwei Elemente sind derzeit noch ungewiss, nicht zuletzt wegen der komplexen Überschneidung zwischen dem Präferenzsystem und dem System der Mehrfachkandidaturen in den fünf Wahlkreisen, in die die Halbinsel unterteilt ist. Neben Ilaria Salis wird auch Mimmo Lucano voraussichtlich der Linksfraktion beitreten. Sowohl Ignazio Marino als auch Leoluca Orlando, sollte er gewählt werden, würden sich höchstwahrscheinlich den Grünen anschließen. Große Ungewissheit herrscht dagegen bei den beiden anderen Sitzen, die je nach Namen der einen oder der anderen Fraktion zugeschlagen oder zu gleichen Teilen auf beide aufgeteilt werden könnten.

Mimmo Lucano gewinnt und wird wieder Bürgermeister von Riace – und EU-Abgeordneter

Im kalabrischen Riace herrscht wieder Sonnenschein. Das Dorf kann wieder das Schild "Stadt der Gastfreundschaft“ anbringen, das vor einigen Jahren entfernt wurde, um das soziale Experiment, das in diesem Dorf durchgeführt wurde, abzubrechen. Auf Betreiben des faschistischen Innenministers Matteo Salvini wurde vor sechs Jahren der Bürgermeister des Ortes, Mimmi Lucano, seines Amtes enthoben. Jahrelange Prozess folgten. Mit konstruierten Anklagen versuchte Salvini, Lucano ins Gefängnis zu werfen.

Doch jetzt ist Lucano wieder da. Die Hartnäckigkeit, der Widerstand gegen die Verleumdungen und den Hass, der sich gegen eine Idee der Solidarität richtet, die noch vor seiner Person steht, hat gesiegt. Bei den gleichzeitig zur EU-Wahl stattfindenden Kommunalwahlen gewann er das Amt des Bürgermeisters zurück.

Und nicht nur das. Er wurde auch in das EU-Parlament gewählt. Eine Lawine von Stimmen, ermöglichte es dem links-grünen Bündnis Alleanza Verdi e Sinistra mit fast 40 Prozent der Stimmen die erste Partei bei den Europawahlen zu werden.

Die Friedensliste "Pace, terra e dignità", die von dem Journalisten und Ex-EU-Abgeordneten Michele Santoro zusammen mit Rifondazione Comunista und MERA25 ins Leben gerufen wurde, ist mit 2,21 Prozent weit von dem nationalen Quorum von 4 % entfernt.

"Offensichtlich ist das Nein zum Krieg nicht der ausschlaggebende Faktor, der die Wählerschaft polarisiert. Pace, terra e dignità geht als Verlierer aus einem gerechten Kampf hervor", kommentierte Rifondazione-Sekretär Maurizio Acerbo.

Niederlande

Das Bündnis zwischen der links-grünen Partei Groenlinks und der sozialdemokratischen PvdA hat bei den EU-Wahlen mit 21,6 Prozent den ersten Platz belegt und erhält acht Abgeordnete, einen weniger als 2019, aber zwei mehr als die rassistische Partei PVV von Geert Wilders. Wilders, der bei den Parlamentswahlen im November letzten Jahres den ersten Platz belegt hatte, wird sich mit 17,7 Prozent mit nur sechs Abgeordneten begnügen müssen.

Zuvor war nach Umfragen erwartet worden, dass die Wilders-Partei erstmals eine Europawahl gewinnen würde. Dennoch erzielte die PVV einen enormen Zugewinn: Bei der Wahl 2019 schaffte es die Partei erst gar nicht ins EU-Parlament - nach Änderungen durch den Brexit erhielt die PVV dann einen Sitz.

Während der Rechtspopulist Wilders zulegen konnte, haben seine Regierungspartner verloren. Die liberale VVD wird nur noch vier Abgeordnete (-1) in die Renew-Fraktion bringen. Die beiden anderen Kräfte der Regierungskoalition erhalten drei Sitze, einen für die zentristische NSC und zwei für die ländliche BBB.

Die Sozialistische Partei kommt nur noch auf zwei Prozent und geht damit leer aus.

Portugiesische Überraschung: Ultrarechte brechen ein, Sozialisten in Führung

Im März rollte die schwarze Welle über Portugal, als die ultrarechte Partei Chega bei den Parlamentswahlen 1.169.836 Stimmen erhalten hatte, was etwa 18 % der Wählerschaft entsprach.

Alles deutete darauf hin, dass der Stern des Chega-Führers André Ventura nur noch steigen würde, vor allem unter Ausnutzung der Position der Opposition. Entgegen den Erwartungen entpuppte sich die Wahlnacht vom Sonntag als Desaster für die Ultrarechte: An den Wahlurnen der Europawahlen erhielt sie nur 386.620 Stimmen (9,79 Prozent, 2 Mandate). Ein Nettoverlust von rund 70 Prozent der Wählerschaft in nur 90 Tagen.

Eine weitere große Überraschung ist der Erfolg der Partido Socialista (PS) mit 32,1 Prozent, die sich damit in geringem Abstand vor die regierende Mitte-Rechts-Koalition Aliança Democratica (AD) mit 31,12 Prozent setzte.

Der Linksblock Bloco de Esquerda (BE) kommt auf 4,25 Prozent und schickt nur noch eine Abgeordenete in die Linksfraktion des EU-Parlaments (-1).

Auch das Bündnis von Kommunisten und Grünen musste Verluste hinnehmen. Die CDU - Coligação Democrática Unitária (Partido Comunista Português, Partido Ecologista “Os Verdes”) kommt auf 4,12 Prozent und einem Abgeordneten (-1) für die Linksfraktion.

Schweden

In Schweden gewinnt die Sozialdemokratische Partei mit 24,80 Prozent (5 Sitze).

An zweiter Stelle liegen die konservativen Moderaten (in der EVP) mit 17,60 Prozent. Die Christdemokraten (in der EVP) sinken auf 6,1 Prozent, während die Liberalen (in Renew) mit 4,2 Prozent stabil bleiben.

Die drei Parteien regieren mit der externen Unterstützung der Schwedendemokraten, einer ultrarechten, rassistischen Formation in der ECR-Gruppe. Die SD kommen auf 13,2 % und 3 Sitze (+1).

Die Grünen erreichen 13,8 Prozent (3 Sitze).

Die Linkspartei gewinnt mit 11 Prozent einen Sitz dazu und schickt jetzt zwei Abgeordnete in die Linksfraktion.

Spanien: Fiasko für SUMAR

Mit fast sechs Millionen Stimmen (34,20 Prozent) kommt die rechts-konservative Volkspartei PP auf 22 Abgeordnete (+9) und den ersten Platz.

An zweiter Stelle, mit 4 Prozentpunkten Rückstand, liegt die Sozialistische Partei PSOE mit 30,18 Prozent. Ministerpräsident Pedro Sánchez konnte die erwartete Niederlage in Grenzen halten und verlor im Vergleich zu 2019 nur einen Abgeordneten.

An dritter Stelle liegt die faschistische VOX mit 9,62 Prozent. Sie kommt damit auf sechs Sitze, zwei mehr als 2019.

Auf den vierten Platz kommt "Ahora Repúblicas" - eine Gruppierung von mehreren regionalen Parteien: die katalanischen Linksrepublikaner von Esquerra Republicana, die baskische Linkspartei EH Bildu und die galizische BNG. Mit dieser Koalition haben diese Parteien, die lokal wichtig, aber national klein sind, eine Formel gefunden haben, um ihr Ergebnis zu maximieren: Sie erhielten mit 4,91 Prozent der Stimmen 3 Sitze (+1).

Knapp dahinter liegt das von Yolanda Díaz geführte Linksbündnis SUMAR mit 4,65 Prozent und drei Abgeordneten.

Vor fünf Jahren hatte Unidas Podemos doppelt so viele Sitze. Diesmal hat Podemos jedoch einen Alleingang unternommen, angeführt von der ehemaligen Ministerin Irene Montero: Sie erhielt 2 Sitze und 3,28 Prozent der Stimmen.

Auch wenn es ein schwacher Trost ist, Podemos überholt zu haben, stürzt das Wahlergebnis SUMAR und Yolanda Díaz, die drei statt der erhofften vier Sitze errungen haben, in eine tiefe Krise. Bei der Listenaufstellung war der Kampf zwischen den Koalitionsparteien um die Spitzenplätze sehr heftig. Yolanda Díaz hatte ziemlich autoritär und mit einigen kaum nachvollziehbaren Entscheidungen (wie der Vergabe des zweiten Platzes an die sehr kleine valencianische Partei Compromís oder an einen wenig bekannten Außenseiter) eingegriffen. Schließlich gab die Izquierda Unida IU zähneknirschend nach. Obwohl die Izquierda Unida die stärkste Partei in der Koalition ist, akzeptierte sie den Platz 4. Im Ergebnis muss der auf Platz 4 gesetzte derzeitige EU-Abgeordnete Manuel Pineda aus dem EU-Parlament ausscheiden. Für die IU das denkbar schlechteste Ergebnis. Schlecht auch für die Linksfraktion The Left: Die auf der Listen von SUMAR gewählten Abgeordneten werden sich der grünen Fraktion naschließen.

Zusammen haben die beiden Parteien – SUMAR und Podemos - am Sonntag weniger Stimmen erhalten als die IU allein im Jahr 2014, die mehr als anderthalb Millionen Stimmen erhielt.

Existenzielle Krise von SUMAR

Am Montagnachmittag erklärte Yolanda Díaz, Vorsitzende und Gründerin von SUMAR, dass sie die Führung der Partei aufgibt, ohne jedoch die wirklich wichtigen Ämter aufzugeben, nämlich das der Arbeitsministerin und der Vizepräsidentin der Regierung Sánchez.

Nun beginnt eine Zeit enormer Ungewissheit für die Parteien links der PSOE und auch für die PSOE selbst, die ihre politische Zukunft aufgrund der Schwäche von SUMAR in Gefahr sieht. Der vielleicht bissigste Kommentar stammt vom ehemaligen Vorsitzenden der Izquierda Unida, Alberto Garzón, der wenige Stunden vor dem Rücktritt von Díaz in einem Tweet schrieb: „Ich würde damit beginnen, zu bedenken, dass das Interesse, jemand anderen oder eine andere Person zur Kasse zu bitten, umgekehrt proportional zu dem Wunsch ist, Probleme wirklich zu lösen“. Dies kann als Kritik sowohl an Podemos als auch an SUMAR verstanden werden.

Der kürzlich neu ins Amt gewählte Vorsitzende der Izquierda Unida, Antonio Maíllo, hält die Phase, in der SUMAR die einigende Kraft der Linken war, für beendet und hat sich für ein horizontaleres Modell entschieden.

"SUMAR tritt in eine neue Phase ein. Yolanda hat dieses Projekt inspiriert, und wir treten in eine neue Phase ein, in der die Organisationen die Hauptrolle spielen werden. Ihre Persönlichkeit hat das Projekt geprägt und sie hat erkannt, dass es Dinge gibt, die verbessert werden können. Eines davon ist die Notwendigkeit, ein horizontaleres Projekt und mehr Gleichheit zwischen den Akteuren zu schaffen", sagte er in einem Interview, in dem er sogar davon sprach, die Einheit der Linken wieder auf Podemos auszuweiten. "Wir müssen eine ehrliche Debatte und eine Reflexion aller linken Parteien führen“, sagte er.

Genauso beunruhigend wie das desaströse Abschneiden von SUMAR und Podemos sind die 4,59 Prozent bzw. drei Sitze, die eine junge, von einem rechtsextremen Influencer und Verbreiter unzähliger Fake News gegründete Partei namens Se acabó la fiesta (Das Fest ist vorbei) errungen hat. Eine Partei, die in den traditionellen Medien nicht wahrgenommen wurde und es nur schaffte, ihre unqualifizierten Botschaften über soziale Netzwerke und Telegram zu verbreiten.

Tschechien

Aus Tschechien werden zwei Abgeordnete in die Linksfraktion kommen. Das von der Kommunistischen Partei initiierte Wahlbündnis Stačilo! kommt auf 9,56 Prozent.

Zypern

In Zypern liegt die konservative DISY mit 24,78 Prozent vorne.

Die kommunistische AKEL liegt mit 21,49 Prozent an zweiter Stelle. Sie wird damit einen Abgeordneten (-1) in die Linksfraktion nach Brüssel/Straßburg entsenden.

 

Die nächste Zeitenwende

Mo, 10/06/2024 - 11:54

Deutschland und Europa stehen vor einer zweiten „Zeitenwende“.
Dies sagt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer aktuellen Studie voraus. Demnach ist nach der US-Präsidentenwahl am 5. November nicht nur dann mit einer deutlichen Reduzierung der US-Militäraktivitäten in Europa zu rechnen, wenn Donald Trump den Urnengang gewinnt, sondern auch dann, wenn Joe Biden als Sieger hervorgeht.



Auch Joe Biden werde „im Zweifelsfall“ einem etwaigen Krieg gegen China um Taiwan Vorrang vor einer fortgesetzten Unterstützung der Ukraine in deren Krieg gegen Russland einräumen, urteilt die SWP. Es werde daher „die Hauptaufgabe“ der deutschen Außen- und Militärpolitik sein, die EU bzw. die NATO-Staaten Europas künftig gegen Russland „zu sichern“. „An diesem Ziel“ müssten sich „alle Aspekte“ der Aufrüstung ausrichten. Von kleineren Militäreinsätzen in aller Welt müsse man daher jetzt „Abstand nehmen“. Dies entspricht nicht zuletzt Überlegungen in den USA, man werde das drohende Szenario dreier gleichzeitig zu führender Kriege – gegen Russland, in Nah- und Mittelost, gegen China – nur mit massiv hochgerüsteten Verbündeten gewinnen können.

Zwei Kandidaten, eine Richtung

Nach der Präsidentenwahl in den USA am 5. November dieses Jahres werden die Staaten Europas „mit einer weiteren Zeitenwende konfrontiert sein“, sagt die SWP in einer aktuellen Studie voraus.[1]

Zwar stünden sich mit Joe Biden und Donald Trump „zwei Denkschulen gegenüber“, die „die Rolle der USA mit Blick auf die amerikanische Politik in und gegenüber Europa sehr unterschiedlich definieren“. 

Trumps Absicht, die militärischen Aktivitäten der Vereinigten Staaten auf dem europäischen Kontinent zu reduzieren, sei bekannt.

Doch könne das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der „geopolitische[...] Fokus“ der Biden-Administration „auf dem indopazifischen Raum“ liege; „das gegenwärtige Engagement in Europa“ sei auch für sie lediglich eine „Ausnahme“. „Die gesellschaftlichen Strömungen und Bindekräfte“ in den USA drängten „die außenpolitische Programmatik beider Kandidaten in dieselbe Richtung“, konstatiert die SWP.

Trump und die Restrainer

Donald Trump schreibt die Berliner Denkfabrik eine – trotz Abstrichen – deutliche Nähe zu einer außenpolitischen Fraktion zu, deren Anhänger zuweilen als „Restrainer“ bezeichnet werden. Diese plädierten „für ein selektives Engagement Washingtons in der internationalen Politik“, das sich exklusiv „an den nationalen Interessen der USA orientieren“ solle, heißt es in der SWP-Studie. Restrainer seien der Auffassung, die Vereinigten Staaten seien „in der Vergangenheit ... zu viele sicherheitspolitische Verpflichtungen eingegangen“ und sollten sie nun „reduzieren“. Der Ukraine-Krieg gelte ihnen als ein „periphere[r] Krieg in den östlichen Ausläufern Europas“, der „die strategischen Kerninteressen Amerikas nicht beeinträchtige“ und deshalb keine herausragenden US-Aktivitäten rechtfertige. Die Restrainer forderten eine massive „Lastenverlagerung ... weg von den USA, hin zu Europa“. Dies könne „zu einer europäisierten Nato führen“, in der die Vereinigten Staaten als eine Art „Logistikdienstleister letzter Instanz“ und „Garant für freie Seewege und Handelsrouten“ fungierten.

 

Biden und die Primacists

Joe Biden wiederum ordnet die SWP als der Denkschule der „Primacists“ nahestehend ein. Dieser zufolge müssten die Vereinigten Staaten in der internationalen Politik danach streben, „ihre geopolitische Vormachtstellung aufrechtzuerhalten“; die „Grundlage“ ihrer „globalen Vorherrschaft“ sei dabei „die konkurrenzlose militärische Überlegenheit des Landes“. Allerdings sei sich die Biden-Administration bewusst, dass die USA „nicht zwei Kriege – denjenigen Russlands gegen die Ukraine und einen potentiellen zwischen China und Taiwan – gleichzeitig bewältigen“ könnten.
Es sei klar, dass sie „im Zweifelsfall ... einem Konflikt in der Straße von Taiwan Priorität einräumen“ würden.
Eine „Biden-Administration 2.0“ werde daher „auf eine deutlich stärkere Lastenteilung hinwirken“, sagt die SWP voraus.
Diese werde – ebenso wie die von einer neuen Trump-Administration erwartete Lastenverlagerung – einen deutlich verstärkten „europäischen Pfeiler der Nato“ erforderlich machen.

Alles auf ein Ziel

In beiden Szenarien werde es „die Hauptaufgabe“ der deutschen Außen- und Militärpolitik sein, die EU bzw. die europäischen NATO-Mitglieder „gegen ein aggressiv-revisionistisches Russland zu sichern“, schreibt die SWP. „An diesem Ziel“ hätten sich ab sofort „alle Aspekte der Planungen für die Bundeswehr auszurichten – Finanz-, Personal-, Rüstungs- und Streitkräfteplanung“. Der Bundeswehrhaushalt müsse dabei von 2028 an zumindest 75 bis 80 Milliarden Euro im Jahr erreichen. Die SWP erinnert daran, dass der Wehretat etwa im Jahr 1963 sogar bei 4,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gelegen habe; dies lasse sich heute aber „wohl nur als Reaktion auf einen außenpolitischen Schock noch einmal erreichen“. Die erforderliche militärische Fokussierung auf den Machtkampf gegen Russland verlange, dass Deutschland künftig „vom internationalen Krisenmanagement“ – Militäreinsätze in aller Welt – „Abstand nehmen“ müsse. Die SWP lehnt darüber hinaus die Teilnahme der Bundeswehr an Manövern in der Asien-Pazifik-Region ab: „Vereinzelte Versuche, die Bundeswehr ... zu einem Anbieter von Sicherheit“ im Indischen und Pazifischen Ozean „zu stilisieren“, könnten „kein Ausdruck einer ernsthaften Orientierung der deutschen Sicherheitspolitik sein“.


„900.000 Reservisten aktivieren“

An der Maxime, alle verfügbaren Ressourcen auf die Vorbereitung eines möglichen Kriegs gegen Russland zu fokussieren, orientiert sich die Bundesregierung in der Tat und greift dabei derzeit noch stärker aus als bisher. So fordert Verteidigungsminister Boris Pistorius aktuell, „wir“ müssten „bis 2029 kriegstüchtig sein“.[2]
Um „durchhaltefähig und aufwuchsfähig“ zu sein, brauche man „junge Frauen und Männer“ in größerer Zahl als bisher; deshalb sei eine neue Form des Wehrdienstes unumgänglich. Anfang vergangener Woche war zudem die Forderung laut geworden, den mobilisierenden Zugriff auf ehemalige Bundeswehrsoldaten zu erleichtern. Notwendig sei es etwa, „die Meldedaten wieder zu erfassen und dann auch den Gesundheitszustand zu überprüfen“, forderte der Vorsitzende des Reservistenverbandes der Bundeswehr, Patrick Sensburg (CDU).[3] Die scheidende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), verlangte die Aktivierung der „ungefähr 900.000“ früheren Soldaten, „die wir in Deutschland haben“; man müsse „so schnell wie möglich verteidigungsfähig werden“.[4]

Drei Kriege gleichzeitig

Die Mobilisierung größtmöglicher Ressourcen für einen etwaigen Krieg gegen Russland kommt Überlegungen von US-Strategen zugute, die nicht ausschließen, Washington könne in absehbarer Zeit nicht nur in zwei, sondern sogar in drei Kriegen gleichzeitig kämpfen. Schon jetzt seien die Vereinigten Staaten in zwei Kriege involviert – in den Ukraine- und in den Gaza-Krieg –, während sich am Horizont bereits „ein dritter“ abzeichne – gegen China um Taiwan [5], heißt es in einem aktuellen Onlinebeitrag in der führenden außenpolitischen US-Zeitschrift, Foreign Affairs. Es erweise sich jetzt als nachteilig, dass Washington während der Amtszeit von Präsident Barack Obama offiziell erklärt habe, mit Blick auf seine trotz immenser Stärke doch begrenzten militärischen Kapazitäten in Zukunft nicht mehr zwei große Kriege zugleich führen zu können, heißt es in dem Text weiter; die Bestrebungen der vergangenen Jahre, Europa zu entpriorisieren und sich zudem aus Mittelost zurückzuziehen, um alle Kräfte gegen China in Stellung bringen zu können, hätten die Stellung der USA geschwächt. Im Hinblick darauf, dass man womöglich in absehbarer Zeit sogar drei Kriege zugleich führen werde, sei es dringend erforderlich, verbündete Staaten stärker einzuspannen. Eine vollumfängliche Fokussierung aller Ressourcen in Deutschland und Europa auf einen etwaigen Krieg gegen Russland hält den USA den Rücken für einen Krieg gegen China sowie eine Fortdauer ihrer Militärpräsenz im Nahen und Mittleren Osten frei: Sie ermöglicht damit im Wortsinne einen Dritten Weltkrieg.

 

[1] Zitate hier und im Folgenden aus: Markus Kaim, Ronja Kempin: Die Neuvermessung der amerikanisch-europäischen Sicherheitsbeziehungen. Von Zeitenwende zu Zeitenwende. SWP-Studie 2024/S 15. Berlin, 21.05.2024.

[2] Boris Pistorius: Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein. bundestag.de 05.06.2024.

[3] Reservisten sollen auf Einsetzbarkeit geprüft werden. mdr.de 03.06.2024.

[4] Strack-Zimmermann fordert Aktivierung von 900.000 Reservisten in Deutschland. spiegel.de 01.06.2024.

[5] Thomas G. Mahnken: A Three-Theater Defense Strategy. foreignaffairs.com 05.06.2024.

 

KI und Arbeitsproduktivität

Sa, 08/06/2024 - 07:38

Künstliche Intelligenz (KI) und die Auswirkungen der neuen Sprachlernmodelle mit verallgemeinerter Intelligenz ist nicht nur medial sondern vor allem auch aus wirtschaftlicher Perspektive ein intensiv betrachtetes Thema.
Von besonderem Interesse sind dabei die Auswirkungen von KI-Sprachlernmodulen auf die Arbeitsplätze von Arbeitnehmern und die Arbeitsproduktivität.


Die Standardprognose zur KI stammt von den Ökonomen der großen Investmentbank Goldman Sachs.  Sie prognostizierten schon vor langem, dass die Technologie, wenn sie hält, was sie verspricht, zu einer "erheblichen Störung" des Arbeitsmarktes führen würde, indem sie 300 Millionen Vollzeitbeschäftigte in den großen Volkswirtschaften der Automatisierung der Arbeitsplätze aussetzt. Juristen und Verwaltungsangestellte würden zu denjenigen gehören, die am stärksten von Entlassungen bedroht wären.
Auf der Grundlage von Daten über die Aufgaben, die in Tausenden von Berufen typischerweise ausgeführt werden, errechneten die Forscher, dass etwa zwei Drittel der Arbeitsplätze in den USA und in Europa zu einem gewissen Grad durch KI-Automatisierung bedroht wären.
Für die meisten Menschen würde weniger als die Hälfte ihres Arbeitspensums automatisiert werden, würden ihren Job wahrscheinlich weiter ausüben können, wobei ein Teil ihrer Zeit für produktivere Tätigkeiten zur Verfügung stünde.
In den USA würde dies nach den Berechnungen 63 % der Beschäftigten betreffen. Weitere 30 %, die in körperlichen Tätigkeiten oder im Freien arbeiten, wären davon nicht betroffen, obwohl ihre Arbeit für andere Formen der Automatisierung anfällig sein könnte.

 

Pro und Contra:  KI-ausgelöste Produktivitäts-Steigerung

Die Ökonomen von Goldman Sachs waren sehr optimistisch und euphorisch in Bezug auf die Produktivitätssteigerungen, die durch KI erzielt werden könnten und
die kapitalistischen Volkswirtschaften möglicherweise aus der relativen Stagnation der letzten 15-20 Jahre - der langen Depression - herausführen könnten. 
Die Annahme lautete, dass "generative" KI-Systeme wie beispielsweise ChatGPT einen Produktivitätsboom auslösen könnten, der das jährliche globale BIP innerhalb eines Jahrzehnts um 7 % steigern würde.  Wenn die Unternehmensinvestitionen in KI weiterhin ähnlich schnell wachsen wie die Software-Investitionen in den 1990er Jahren, könnten allein die KI-Investitionen in den USA bis 2030 1 % des US-BIP erreichen.

Der US-amerikanische Technologie-Ökonom Daren Acemoglu hingegen war damals skeptisch.  Er argumentierte, dass nicht alle Automatisierungstechnologien die Arbeitsproduktivität tatsächlich erhöhen. Das läge daran, dass die Unternehmen die Automatisierung hauptsächlich in Bereichen einführen, die zwar die Rentabilität steigern, wie Marketing, Buchhaltung oder Technologie für fossile Brennstoffe, aber nicht die Produktivität der Wirtschaft als Ganzes erhöhen oder soziale Bedürfnisse erfüllen.
In einem aktuellen Papier schüttet Acemoglu nun eine gehörige Portion kaltes Wasser auf den Optimismus, der von Unternehmen wie GS verbreitet wird. 

Im Gegensatz zu GS ist nach Aussage des Technologie-Ökonomen damit zu rechnen, dass die Produktivitätseffekte von KI-Fortschritten in den nächsten 10 Jahren "bescheiden sein werden".  Der höchste von ihm prognostizierte Gewinn wäre ein Anstieg der totalen Faktorproduktivität (TFP) um insgesamt 0,66 %, was dem gängigen Maß für die Auswirkungen von Innovationen entspricht, oder ein winziger Anstieg des jährlichen TFP-Wachstums um 0,064 %.

Er könnte sogar noch geringer ausfallen, da die KI einige schwierigere Aufgaben, die Menschen erledigen, nicht bewältigen kann.  Dann könnte der Anstieg nur 0,53 % betragen.  Selbst wenn die Einführung von KI die Gesamtinvestitionen erhöhen würde, würde der Anstieg des BIP in den USA insgesamt nur 0,93-1,56 % betragen, je nach Umfang des Investitionsbooms.

Darüber hinaus rechnet Acemoglu damit, dass die KI die Kluft zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen vergrößern wird: "Frauen mit niedrigem Bildungsstand könnten Lohneinbußen erleiden, die Ungleichheit zwischen den Gruppen könnte insgesamt leicht zunehmen und die Kluft zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen wird sich wahrscheinlich weiter vergrößern".
Tatsächlich kann die KI dem menschlichen Wohlergehen sogar schaden, indem sie irreführende soziale Medien, digitale Werbung und die Ausgaben für IT-Verteidigungsmaßnahmen ausweitet.
 KI-Investitionen könnten also das BIP erhöhen, aber das menschliche Wohlergehen um bis zu 0,72 % des BIP verringern.

Und es gibt noch weitere Gefahren für die Arbeit.  Owen David weist darauf hin, dass KI bereits eingesetzt wird, um Arbeitnehmer am Arbeitsplatz zu überwachen, Bewerber zu rekrutieren und zu prüfen, das Lohnniveau festzulegen, die Aufgaben der Arbeitnehmer zu bestimmen, ihre Leistungen zu bewerten, Schichten zu planen usw. "In dem Maße, in dem KI die Aufgaben des Managements übernimmt und die Managementfähigkeiten erweitert, kann sie die Macht auf die Arbeitgeber verlagern.
Vergleiche hierzu
Es erinnert an die Beobachtungen von Harry Braverman in seinem berühmten Buch von 1974 über die Degradierung der Arbeit und die Zerstörung von Fähigkeiten durch die Automatisierung. Der Technologie-Ökonom Daren Acemoglu räumt ein, dass die generative KI Vorteile bietet, "aber diese Vorteile werden schwer zu erreichen sein, wenn es nicht zu einer grundlegenden Neuausrichtung der Branche kommt, einschließlich einer grundlegenden Änderung der Architektur der gängigsten generativen KI-Modelle."  Insbesondere sagt Acemoglu, dass "es eine offene Frage bleibt, ob wir Modelle brauchen, die unmenschliche Unterhaltungen führen und Shakespeare-Sonette schreiben, wenn wir wirklich verlässliche Informationen brauchen, die für Pädagogen, Mediziner, Elektriker, Klempner und andere Handwerker nützlich sind."

Da es die Manager und nicht die Arbeitnehmer als Ganzes sind, die KI einführen, um menschliche Arbeitskraft zu ersetzen, verdrängen sie bereits jetzt qualifizierte Arbeitnehmer von Tätigkeiten, die sie gut ausüben, ohne notwendigerweise die Effizienz und das Wohlbefinden aller zu verbessern.  Wie ein Kommentator es ausdrückte: "Ich möchte, dass KI meine Wäsche und mein Geschirr wäscht, damit ich Kunst machen und schreiben kann, und nicht, dass KI meine Kunst und mein Schreiben macht, damit ich meine Wäsche und mein Geschirr waschen kann."  Manager führen KI ein, um "Managementprobleme zu vereinfachen, auf Kosten der Dinge, von denen viele Leute denken, dass KI nicht dafür eingesetzt werden sollte, wie z. B. kreative Arbeit..... Wenn KI funktionieren soll, muss sie von unten nach oben kommen, oder KI wird für die große Mehrheit der Menschen am Arbeitsplatz nutzlos sein".

Wird die KI die großen Volkswirtschaften retten, indem sie einen großen Produktivitätssprung bewirkt?

Das hängt ganz davon ab, wo und wie KI eingesetzt wird. Eine PwC-Studie hat ergeben, dass das Produktivitätswachstum in den Teilen der Wirtschaft, in denen die KI-Durchdringung am höchsten ist, fast fünfmal so hoch ist wie in weniger exponierten Sektoren.  Barret Kupelian, Chefökonom bei PwC UK, sagte dazu: "Unsere Ergebnisse zeigen, dass KI das Potenzial hat, neue Branchen zu schaffen, den Arbeitsmarkt zu verändern und das Produktivitätswachstum potenziell zu steigern.
Was die wirtschaftlichen Auswirkungen angeht, so sehen wir erst die Spitze des Eisbergs - derzeit deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass sich der Einsatz von KI auf einige wenige Wirtschaftszweige konzentriert, aber sobald sich die Technologie verbessert und in anderen Wirtschaftszweigen verbreitet, könnte das künftige Potenzial transformativ sein."

Die Ökonomen der OECD sind sich nicht sicher, ob das richtig ist.  In einem Papier stellen sie das Problem: "Wie lange wird die Anwendung von KI in den Wirtschaftssektoren dauern? 
Der Einsatz von KI ist immer noch sehr gering, weniger als 5 % der Unternehmen in den USA geben an, diese Technologie zu nutzen (Census Bureau 2024). Vergleicht man dies mit dem Weg der Einführung früherer Allzwecktechnologien (z. B. Computer und Elektrizität), die bis zu 20 Jahre brauchten, um sich vollständig zu verbreiten, so hat KI noch einen langen Weg vor sich, bevor sie die hohen Einführungsraten erreicht, die notwendig sind, um makroökonomische Vorteile zu erkennen."

"Die Ergebnisse auf der Mikro- oder Branchenebene erfassen hauptsächlich die Auswirkungen auf frühe Anwender und sehr spezifische Aufgaben und deuten wahrscheinlich auf kurzfristige Effekte hin. Die langfristigen Auswirkungen der KI auf das Produktivitätswachstum auf Makroebene werden vom Umfang ihrer Nutzung und der erfolgreichen Integration in Geschäftsprozesse abhängen." 

Die OECD-Ökonomen weisen darauf hin, dass es 20 Jahre gedauert hat, bis bahnbrechende Technologien wie Elektrizität oder PCs so weit "verbreitet" waren, dass sie etwas bewirken konnten.  Für die KI würde das die 2040er Jahre bedeuten.

Darüber hinaus könnte die KI, indem sie Arbeitskräfte in produktiveren, wissensintensiven Sektoren ersetzt, "einen möglichen Rückgang der Beschäftigungsanteile dieser Sektoren (bewirken), der sich negativ auf das gesamte Produktivitätswachstum auswirken würde".

In Anlehnung an die Argumente von Acemoglu weisen die OECD-Ökonomen darauf hin, dass "die KI erhebliche Gefahren für den Wettbewerb und die Ungleichheit auf dem Markt birgt, die ihren potenziellen Nutzen entweder direkt oder indirekt schmälern könnten, indem sie präventive politische Maßnahmen zur Begrenzung ihrer Entwicklung und Einführung veranlassen".

Und dann sind da noch die Kosten für Investitionen.  Allein der Zugang zur physischen Infrastruktur, die für KI in großem Maßstab benötigt wird, kann eine Herausforderung sein. Die Art von Computersystemen, die benötigt wird, um eine KI für die Krebsforschung zu betreiben, erfordert in der Regel zwischen zwei- und dreitausend der neuesten Computerchips. Allein die Kosten für diese Computerhardware könnten sich leicht auf über 60 Mio. $ belaufen, selbst wenn man die Kosten für andere wichtige Dinge wie Datenspeicherung und Vernetzung noch nicht berücksichtigt. Eine große Bank, ein Pharmakonzern oder ein Hersteller hat vielleicht die Mittel, um die Technologie zu kaufen, die erforderlich ist, um von der neuesten KI zu profitieren, aber was ist mit einem kleineren Unternehmen?

Im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung und im Einklang mit der marxistischen Theorie wird die Einführung von KI-Investitionen also nicht zu einer Verbilligung des Anlagevermögens (des konstanten Kapitals im marxistischen Sinne) und damit zu einem Rückgang des Verhältnisses von Anlagekosten zu Arbeitskosten führen, sondern zum Gegenteil (d. h. zu einer steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals).
Und das bedeutet einen weiteren Abwärtsdruck auf die durchschnittliche Rentabilität in den großen Volkswirtschaften.

Hinzu kommen noch die Auswirkungen auf die globale Erwärmung und den Energieverbrauch:
Großsprachige Modelle wie ChatGPT gehören zu den Technologien, die am meisten Energie verbrauchen.  Untersuchungen haben ergeben, dass etwa 700.000 Liter Wasser für die Kühlung der Maschinen verwendet wurden, die ChatGPT-3 in den Datenzentren von Microsoft trainierten.
Das Training von KI-Modellen verbraucht 6.000 mal mehr Energie als eine europäische Stadt. 
Darüber hinaus werden Mineralien wie Lithium und Kobalt zwar meist mit Batterien im Automobilsektor in Verbindung gebracht, sie sind aber auch für die in Rechenzentren verwendeten Batterien von entscheidender Bedeutung.
Bei der Gewinnung wird oft viel Wasser verbraucht, was zu Umweltverschmutzung führen kann und die Wassersicherheit untergräbt.

Das Beratungsunternehmen Grid Strategies prognostiziert für die nächsten fünf Jahre einen Anstieg der Stromnachfrage in den USA um 4,7 Prozent und damit fast eine Verdopplung der Prognose aus dem Vorjahr.
Eine Studie des Electric Power Research Institute ergab, dass Rechenzentren bis 2030 9 Prozent des US-Strombedarfs ausmachen werden, mehr als das Doppelte des heutigen Niveaus.

Schon jetzt führt diese Aussicht zu einer Verlangsamung der Pläne zur Stilllegung von Kohlekraftwerken, da die Stromnachfrage durch KI stark ansteigt.

Vielleicht können diese Investitions- und Energiekosten durch neue KI-Entwicklungen gesenkt werden.  Das Schweizer Technologieunternehmen Final Spark hat die Neuroplattform ins Leben gerufen, die weltweit erste Bioprozessplattform, auf der menschliche Hirnorganoide (im Labor gezüchtete, miniaturisierte Versionen von Organen) anstelle von Siliziumchips Rechenaufgaben übernehmen. Die erste derartige Anlage beherbergt die Rechenleistung von 16 Hirnorganoiden, die nach Angaben des Unternehmens eine Million Mal weniger Strom verbrauchen als ihre Silizium-Gegenstücke. 
Diese Entwicklung ist in gewisser Weise beängstigend: menschliche Gehirne!  Aber zum Glück ist sie noch weit von der Umsetzung entfernt.  Im Gegensatz zu Siliziumchips, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte halten können, halten die "Organoide" nur 100 Tage, bevor sie "sterben".

Im Gegensatz zu den GS-Ökonomen sind diejenigen, die an der Spitze der KI-Entwicklung stehen, weit weniger zuversichtlich, was die Auswirkungen angeht. 
Demis Hassabis, Leiter der KI-Forschungsabteilung von Google, sagt dazu:

"Das größte Versprechen der KI ist genau das - ein Versprechen. Zwei grundlegende Probleme bleiben ungelöst. Das eine besteht darin, KI-Modelle zu entwickeln, die auf der Grundlage historischer Daten trainiert werden, jede neue Situation verstehen und angemessen darauf reagieren. "KI muss in der Lage sein, "unsere komplexe und dynamische Welt zu verstehen und darauf zu reagieren, so wie wir es tun".

Aber kann KI das leisten?  In meinem letzten Beitrag über KI habe ich argumentiert, dass KI die menschliche Intelligenz nicht wirklich ersetzen kann.  Und Yann LeCun, leitender KI-Wissenschaftler bei Meta, dem Social-Media-Riesen, zu dem Facebook und Instagram gehören, stimmt dem zu. 
Er sagte, dass LLMs "ein sehr begrenztes Verständnis von Logik haben ... die physikalische Welt nicht verstehen, kein dauerhaftes Gedächtnis haben, in keiner vernünftigen Definition des Begriffs logisch denken können und nicht planen können, hierarchisch planen".

LLMs (Large Language Models bilden die algorithmische Grundlage für Generative-AI-Tools wie ChatGP)  waren bisher Modelle, die nur lernen, wenn menschliche Ingenieure eingreifen, um sie auf diese Informationen zu trainieren, anstatt dass die KI wie Menschen organisch zu einer Schlussfolgerung kommt.
"Für die meisten Menschen erscheint es sicherlich als logisches Denken - aber in den meisten Fällen handelt es sich um die Nutzung von angesammeltem Wissen aus einer Vielzahl von Trainingsdaten." 
Aron Culotta, außerordentlicher Professor für Informatik an der Tulane University, drückt es anders aus.  "Der gesunde Menschenverstand war der KI lange Zeit ein Dorn im Auge", und es sei schwierig, Modellen Kausalität beizubringen, was sie "anfällig für unerwartete Fehler" mache.

Noam Chomsky brachte die Grenzen der KI im Vergleich zur menschlichen Intelligenz auf den Punkt:

 "Der menschliche Verstand ist nicht wie ChatGPT und Konsorten, eine schwerfällige statistische Maschine für den Musterabgleich, die Hunderte von Terabyte an Daten verschlingt und die wahrscheinlichste Gesprächsantwort oder die wahrscheinlichste Antwort auf eine wissenschaftliche Frage extrapoliert.  Im Gegenteil, der menschliche Verstand ist ein überraschend effizientes und sogar elegantes System, das mit kleinen Informationsmengen arbeitet; es versucht nicht, grobe Korrelationen zwischen Datenpunkten abzuleiten, sondern Erklärungen zu schaffen.  Wir sollten aufhören, sie künstliche Intelligenz zu nennen, und sie als das bezeichnen, was sie ist: 'Plagiatssoftware', denn sie schafft nichts, sondern kopiert bestehende Werke, von Künstlern, und verändert sie so weit, dass sie den Urheberrechtsgesetzen entgeht."

Das bringt mich zu dem, was ich das Altman-Syndrom nennen würde.  KI im Kapitalismus ist keine Innovation, die darauf abzielt, das menschliche Wissen zu erweitern und die Menschheit von der Arbeit zu befreien.  Für kapitalistische Innovatoren wie Sam Altman ist sie eine Innovation zur Erzielung von Profiten.  Sam Altman, der Gründer von OpenAI, wurde letztes Jahr von der Kontrolle über sein Unternehmen entbunden, weil andere Vorstandsmitglieder der Meinung waren, er wolle OpenAI in eine riesige, vom Großkapital unterstützte Geldmacherei verwandeln (Microsoft ist der derzeitige Geldgeber), während der Rest des Vorstands OpenAI weiterhin als ein gemeinnütziges Unternehmen ansah, das die Vorteile der KI allen zugänglich machen wollte, mit angemessenen Garantien für Datenschutz, Überwachung und Kontrolle.  Altman hatte einen "gewinnorientierten" Geschäftszweig entwickelt, der es dem Unternehmen ermöglichte, Investitionen von außen anzuziehen und seine Dienste zu vermarkten.  Altman hatte bald wieder die Kontrolle, als Microsoft und andere Investoren den Stab über den Rest des Vorstands schwangen.
 OpenAI ist nicht mehr offen.

Maschinen können nicht über potenzielle und qualitative Veränderungen nachdenken.  Neues Wissen entsteht durch solche Veränderungen (Menschen), nicht durch die Erweiterung von bestehendem Wissen (Maschinen). 
Nur menschliche Intelligenz ist sozial und kann das Potenzial für Veränderungen erkennen, insbesondere für soziale Veränderungen, die zu einem besseren Leben für Mensch und Natur führen. Anstatt KI zu entwickeln, um Profite zu machen und Arbeitsplätze und den Lebensunterhalt von Menschen abzubauen, könnte KI unter gemeinsamer Verantwortung und Planung die menschliche Arbeitszeit für alle reduzieren und Menschen von der Arbeit befreien, damit sie sich auf kreative Arbeit konzentrieren können, die nur menschliche Intelligenz leisten kann.

Künstliche Intelligenz KI : EU-Verordnung mit gewollten Lücken

Di, 04/06/2024 - 15:56

Kritiker monieren, die verabschiedete KI-Verordnung der EU lasse Konzernen und Repressionsapparaten große Schlupflöcher, erlaube ortsbezogenes „Protective Policing“ und KI-gesteuerte Echtzeitüberwachung.  

Scharfe Kritik begleitet die Verabschiedung der neuen KI-Verordnung der Europäischen Union. Das Gesetzespaket ist vergangene Woche vom Rat der EU endgültig abgesegnet worden. Vorausgegangen waren jahrelange intensive Verhandlungen, bei denen nicht zuletzt IT-Riesen wie Google oder Microsoft ihre Interessen durchzusetzen suchten.

Beobachter monierten eine der „größten Lobbyschlachten“ in der Geschichte der EU.

Entgegen der Behauptung, Brüssel habe sich vor allem um den Schutz der Bürger bemüht, sicherten die Mitgliedstaaten ihren Repressionsapparaten recht ausgedehnte Möglichkeiten zur Nutzung von KI, vor allem zu Zwecken der Strafverfolgung oder der Flüchtlingsabwehr. So darf etwa ortsbezogenes „Predictive Policing“ weiter betrieben werden, obwohl es Kritikern zufolge vor allem dazu führt, Stadtteile und Regionen, in denen finanzschwache Minderheiten leben, verschärfter Überwachung und Kontolle zu unterwerfen.
Sogar KI-gesteuerte Überwachung in Echtzeit darf bei bloßer Annahme einer Gefahrenlage genehmigt und praktiziert werden.
Kritiker urteilen, vor allem Deutschland und Frankreich hätten diverse Schlupflöcher und Leerstellen in der Regulierung durchgesetzt.

„Gelungene Balance”

Im Mai d. J.  hat die EU ein umfassendes Gesetzespaket verabschiedet, das den rasch expandierenden Technologiekomplex der Künstlichen Intelligenz (KI) regeln soll.
Deutsche Minister hatten schon im Februar die europäische KI-Verordnung nach ihrer einstimmigen Verabschiedung im Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) des Rates der Europäischen Union einhellig begrüßt.[1] Der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), sprach von einer „gelungenen Balance“ zwischen der Hebung des „Potenzials der KI“ und der  Begrenzung der Risiken dieser Technologie, die durch ihre „Innovationsfreudigkeit“ dafür sorgen werde, dass sich Europa zu einem „starken KI-Standort“ entwickle. Laut Marco Buschmann (FDP), Bundesminister für Justiz, habe die KI-Verordnung den legislativen Weg für „einen sicheren Rechtsrahmen“ geebnet, der „Innovation fördert und gleichzeitig Risiken in der Anwendung angemessen adressiert“. International sei dieser Rechtsrahmen ein „Novum“, erklärte Buschmann. Die Vorordnung stelle sicher, dass die „Grundrechte und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger der EU respektiert“ würden, hieß es in der Stellungnahme der Bundesregierung, die hinsichtlich der KI-Verordnung von einer „Produktregulierung“ sprach, die sich „nicht auf Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten“ beziehe.
Die ab Frühjahr 2026 geltenden Regeln sehen etwa eine Kennzeichnungspflicht für KI-generiertes Material (Texte, Bilder, Töne, Videos) vor.[2]

„Predictive Policing“

In offenem Widerspruch zum Lob der Bundesregierung mehren sich längst kritische Stimmen, die vor den Gefahren, Ausnaheregelungen und Leerstellen in der Verordnung warnen.
Ende Mai 2024 etwa wies das Portal netzpolitik.org darauf hin, Polizeibehörden in der EU könnten mithilfe Künstlicher Intelligenz versucht sein, sogenanntes Predictive Policing zu praktizieren.[3]
Dabei werden riesige Datenmengen aus der Kriminalitätsstatistik von KI-Systemen ausgewertet, um Wahrscheinlichkeiten für künftige Gesetzesbrüche zu ermitteln. Hierdurch soll theoretisch die „präventive“ Polizeitätigkeit perfektioniert werden. In der Praxis haben solche Ansätze – etwa in den USA – vor allem zur systemischen Diskriminierung von Minderheiten in sozialen Brennpunkten geführt, da statistische Rückkopplungseffekte zu einer Fokussierung der Polizeikräfte auf solche „Hot-Spots“ führen. Die europäische KI-Verordnung solle diesen Formen diskriminierender KI-Anwendung durch die Polizei, die mit dem Aufbau von „intransparenten und womöglich ungerechten Strukturen“ einhergingen, eigentlich entgegenwirken, heißt es in dem Beitrag; in Wirklichkeit aber weise sie eine „bedrohliche Leerstelle“ auf.

Finanzschwache Minderheiten im Visier

Denn von regierungsnahen deutschen Medien verbreitete Behauptungen, wonach die KI-Verordnung die Anwendung von „Predictive Policing“ verbiete [4], seien nicht voll zutreffend, warnt netzpolitik.org.
So sei der Begriff „Predictive Policing“ in der KI-Verordnung ausgeklammert worden; stattdessen finde sich eine Passage, die faktisch personenbezogenes „Predictive Policing“ verbiete. Dabei erstellen KI-Systeme – etwa das amerikanische COMPAS-System – einen kriminalistischen „Risikoindex“ von Einzelpersonen, die dann verschärfter Überwachung oder Repression ausgesetzt sein können.
In der EU-Verordnung gänzlich ausgeklammert wird aber das ortsbezogene „Predictive Policing“, bei dem KI-Systeme Risikoanalysen von „Kriminalitätsschwerpunkten“ erstellen sollen.
Dabei werden wiederum vor allem Stadtteile und Regionen, in denen finanzschwache Minderheiten leben, zum Ziel verschärfter Überwachung und Kontrolle. Gerade in der Bundesrepublik sei die Anwendung solcher ortsgebundener KI-Systeme, die aus kriminologischen Statistiken künftige Kriminalitätswahrscheinlichkeiten ableiten sollten, „nicht einheitlich geregelt“, heißt es.
 In etlichen Bundesländern befinde sich das ortsbezogene „Predictive Policing“ bereits im „Regelbetrieb“; woanders sei es noch in der „Testphase“. KI-Software zur präventiven Polizeiarbeit werde entweder von „Privatunternehmen erworben“ oder von den Behörden eigenständig entwickelt.

„Große Schlupflöcher“

Schon im März 2024 hieß es in einem kritischen Hintergrundbericht [5], die KI-Verordnung weise „große Schlupflöcher für Behörden und Unternehmen“ auf.
Der drei Jahre andauernde Formungsprozess des Gesetzespakets sei in einer der „größten Lobbyschlachten“ in der legislativen Geschichte der EU kulminiert, in die nicht zuletzt IT-Giganten wie Google und Microsoft Millionensummen investiert hätten.

Bestimmte besonders umstrittene Praktiken konnten tatsächlich verboten werden, etwa das „Social Scoring“, bei dem KI-Systeme das Verhalten von Bürgern auswerten und auf unerwünschte Abweichungen untersuchen. Doch in vielen Fällen seien Schlupflöcher und Leerstellen geblieben, was vor allem auf die Blockadehaltung Deutschlands und Frankreichs zurückzuführen sei, heißt es – etwa bei großen Sprachmodellen wie GTP-4, die anhand großer Datenmengen flexibel für verschiedene Anwendungen „trainiert“ werden könnten.[6]
Der Grund für die deutsch-französische Blockade: In beiden Ländern arbeiten Start-ups an diesen Formen der KI, um den Rückstand zu der US-Konkurrenz aufzuholen.

Biometrische Überwachung in Echtzeit

Hinzu kommen lockere Regelungen zur automatisierten Entscheidungsfindung mittels Künstlicher Intelligenz (etwa bei Behörden) sowie zum Einsatz von KI-Systemen zwecks Kontrolle und Überwachung. Die EU-Verordnung bringe „kein Verbot, nicht einmal besonders strenge Regeln für den Einsatz biometrischer Überwachung“, heißt es bei netzpolitik.org; von den „einst starken Forderungen des Parlaments“ zum Schutz vor Überwachung sei kaum etwas übriggeblieben. Die EU-Staaten dürften künftig also Menschen „aus vielen Gründen“ anhand ihrer körperlichen Merkmale mittels KI identifizieren und überwachen. Hierzu können die bereits überall installierten Überwachungskameras benutzt werden – selbst in Echtzeit. Zur Begründung genügen die bloße Annahme einer Gefahrenlage („Terrorismus“, „Menschenhandel“) und eine entsprechende richterliche Anordnung.[7] Die wenigen Einschränkungen bei KI-gestützter Gesichtserkennung gelten nicht für Grenzkontrollen; Flüchtlinge profitieren also von der KI-Verordnung nicht. Auch umstrittene Technologien wie die automatisierte Emotionserkennung und Lügendetektoren können in der EU künftig zur Anwendung gelangen – etwa an Grenzübergängen. Bei „Strafverfolgung, Migration, Grenzkontrolle und Asyl“ gelten nicht einmal die Transparenzverpflichtungen zum Einsatz von KI-Systemen.

„Innovationsfreundlich nachsteuern“

Trotz der zahlreichen Ausnahmen zeigten sich deutsche Branchenverbände skeptisch. Der Digitalverband Bitkom etwa monierte Mitte März, die KI-Verordnung lasse „viele Fragen offen“; Deutschland benötige eine „innovationsfreundliche Umsetzung“.[8] Die Bundesregierung dürfe das „nationale Regulierungskorsett“ nicht „so eng schnüren, dass den Unternehmen der Freiraum für Innovationen“ fehle. Vor allem gelte es für Berlin, nach der nationalen Implementierung der KI-Verordnung sich rasch „pro-aktiv in die Gestaltung des EU AI Board“ einzubringen, das weitere einheitliche europaweite KI-Regeln gestalten soll. Hierdurch solle verhindert werden, dass in Europa ein „Flickenteppich an nationalstaatlichen Einzelregelungen“ entstehe. Bundesdigitalminister Volker Wissing (FDP) versprach, die Bundesregierung werde in dieser Hinsicht aktiv bleiben.[9]
Man könne nicht erwarten, dass eine sich dermaßen rasch entwickelnde Technologie eine abschließende Regulierung gefunden habe. Berlin werde „den Mut haben, kontinuierlich nachzusteuern“, erklärte Wissing, wobei man die Innovationsfreundlichkeit der Regeln immer im Blick haben werde. In der Tat ist etwa die Ausklammerung von Allzweck-KI wie ChatGTP aus den strengeren EU-Regelungen für Hochrisiko-KI-Anwendungen insbesondere auf Betreiben Berlins erfolgt.

 

[1] Rahmen für Künstliche Intelligenz in der EU steht: KI-Verordnung einstimmig gebilligt. bmwk.de 02.02.2024.

[2] KI-Gesetz ist endgültig beschlossen. tagesschau.de 21.05.2024.

[3] Gefährliche Lücke in der KI-Verordnung. netzpolitik.org 27.05.2024.

[4] European Parliament gives final approval to landmark AI law. dw.com 13.03.2024.

[5] EU-Parlament macht Weg frei für KI-Verordnung. netzpolitik.org 13.03.2024.

[6] Deutschland will Basis-Modelle wie ChatGPT nicht regulieren. netzpolitik.org 21.11.2023.

[7] KI-Gesetz ist endgültig beschlossen. tagesschau.de 21.05.2024.

[8] Beim AI Act sind noch viele Fragen offen. bitkom-consult.de 13.03.2024.

[9] KI-Gesetz ist endgültig beschlossen. tagesschau.de 21.05.2024.

 

Big Data im Betrieb – Daten als Rohstoff des 21. Jahrhundert

Di, 04/06/2024 - 06:46

Daten werden als Rohstoff des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Jede Produktionshalle kann als „Drehscheibe“ gesehen werden: Lieferungen kommen an, wandern durch die Stationen, werden bearbeitet, Produkte verlassen das Unternehmen. Diese Abläufe sind heute in der Regel miteinander vernetzt, die Drehscheiben-Funktion zeigt sich auch in der Digitalisierung.
Jeder Prozess in der analogen Halle erzeugt mittlerweile digitale Daten.
Vernetzte Produktion erleichtert die Überwachung der Belegschaft.
 

 

Daten werden als Rohstoff des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Jede Produktionshalle kann als „Drehscheibe“ gesehen werden: Lieferungen kommen an, wandern durch die Stationen, werden bearbeitet, Produkte verlassen das Unternehmen.
Diese Abläufe sind heute in der Regel miteinander vernetzt, die Drehscheiben-Funktion zeigt sich auch in der Digitalisierung: Jeder Prozess in der analogen Halle erzeugt mittlerweile digitale Daten.
Jeder Produktionsschritt kann als Datensatz gesehen werden.  

In den ersten Überlegungen zum „Industrie 4.0“-Konzept spielte der „gemeinsame Datenraum“ eine große Rolle. Daten zu Prozessen, die sich in vielen Betrieben wiederholen, sollten gemeinsam dokumentiert und allen beteiligten Firmen zur Verfügung gestellt werden. Dabei können sich wichtige Daten ergeben aus Logistikprozessen, dem autonomen Stapler oder den Abläufen in der Produktion. Die Sorge von Managern, hier Betriebsgeheimnisse bekannt zu geben, ist groß, so dass der Betriebsegoismus zum Start erster 4.0-Ideen übergreifende Projekte verhinderte.

Das Data-Sharing bleibt aber ein wichtiges Thema. „Manufacturing-X“ ist eine aktuelle Initiative für einen übergreifenden Datenraum. „Mit Manufacturing-X haben Wirtschaft, Politik und Wissenschaft eine gemeinsame Initiative gestartet. Unternehmen sollen Daten über die gesamte Fertigungs- und Lieferkette souverän und gemeinsam nutzen können“, meldet die Bundesregierung, die diese Initiative finanziell fördert. Versprochen wird der „Aufbau eines kollaborativen und dezentralen Datenökosystems“ www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/manufacturing-x.html

Der Anspruch ist hoch: „Anders als die analoge Halle befindet sich dieser nicht an einem Ort, sondern ist überall verfügbar, wo es Internet gibt. So können viele Unternehmen – vom KMU bis zum Konzern – in einem offenen und dezentralen Datenraum sicher und“ vertrauensvoll“ Daten entlang von Wertschöpfungsketten austauschen, ohne die Kontrolle aus der Hand zu geben (
https://digitalstrategie-deutschland.de/manufacturing-x

Daten sind die „Treiber des digitalen Zeitalters. Daten durchdringen das ganze Unternehmen“, erklärt Dr. Jacob Gorenflos Lopez, Referent Industrie 4.0 & Technische Regulierung bei Bitkom e.V.
Um die Chancen eines „digitalen Geschäftsmodells zu nutzen, muss ein Betrieb in der Lage sein, Daten mit Partnern zu teilen – und zwar ohne die Kontrolle und die Schnittstelle über die eigenen, sensiblen und gewinnbringenden Daten zu verlieren“, fordert Bitkom, der Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche.
www.bitkom.org/Bitkom/Publikationen/Manufacturing-X-selbstbestimmtes-Datenoekosystem-Industrie-40


Gemeinsamer Datenraum scheitert am Betriebsegoismus
 

Das gestaltet sich in der Praxis nicht so einfach, denn Skepsis überwiegt. Nur ein Drittel der Industrie ist bisher offen dafür, bei Manufacturing X mitzuwirken. Dies zeigt eine Befragung von Bitkom anlässlich der Hannover-Messe in diesem Jahr. www.produktion.de/technik/digitalisierung/manufacturing-x-industrie-ist-offen-aber-zurueckhaltend-568.html

„Eine intelligente Vernetzung kann nicht nur dazu führen, dass die Produktivität deutlich steigt. Lieferungen können schneller erfolgen, Engpässe durch zeitnahen Datenaustausch vermieden werden“, beschreibt Sylvia Meier, Unternehmensberaterin, die Chancen recht positiv bei Lieferkettenmanagement.

www.haufe.de/controlling/controllerpraxis/mit-manufacturing-x-kann-controlling-neue-potenziale-nutzen_112_621906.html

 Industrieunternehmen arbeiten mit Lieferanten, Logistikunternehmen und zahlreichen weiteren Partnern zusammen.
Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder sieht zunächst Vorteile durch Manufacturing-X:
„Bislang können Daten in einzelnen Unternehmen Abläufe transparent machen und zu einer effizienteren und nachhaltigeren Steuerung genutzt werden. Noch mehr kann aber gewonnen werden, wenn ein Datenaustausch zwischen Unternehmen ermöglicht wird und so Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette detailliert aufeinander abgestimmt werden“.

People Analytics als Kontrollinstrument in Produktion und Verwaltung

Betriebsintern wird mit Daten offensiv umgegangen. Fallen Daten in Arbeitsprozessen an vernetzten Maschinen oder in der Verwaltung im Online-Kontakt mit Kunden an, werden sie dokumentiert.   

People Analytics lautet der neue Trend: „In einer zentralen Datenbank werden Informationen zur Demografie, zu Fachkenntnissen, zu Soft Skills, zur Gehaltsstruktur, zur Zufriedenheit, zu Weiterbildungsmaßnahmen und auch zu historischen Entwicklungspfaden eines jeden einzelnen Mitarbeitenden festgehalten“, schildert Marie Kanellopulos, Geschäftsführerin der Personalberatung „Done! Berlin“.
Diese könnten bei Stellenbesetzungen genutzt werden, Personalabteilungen können über Data Analytics geeignete Kandidaten im eigenen Haus finden, die „heute schon in der Lage sind, ad hoc Führungspositionen zu übernehmen“
www.springerprofessional.de/talentmanagement/unternehmensfuehrung/die-nachfolgeplanung-muss-agiler-werden/26665528.
m dieses interne Recruiting weiter auszubauen, werden Instrumente wie People Analytics benötigt, so die Beraterin.

People Analytics kann aber weitgehende Auswirkungen auf die Beschäftigten haben. Das zeigt die Untersuchung eines Forscherteams des „Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft“ in Berlin, der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin und des FZI Forschungszentrums Informatik in Karlsruhe. www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-glaserne-beschaftigte-58542.htm

Wurden bisher in erster Linie Arbeiter in der Produktion regelmäßig kontrolliert, werden die Möglichkeiten auf typische Angestelltentätigkeiten ausgeweitet. Der Geschäftsprozess beginnt mit der Kundenanfrage und reicht bis zur Feststellung der Kundenzufriedenheit. Gemessen werden etwa die Bearbeitungsdauer, Gesprächsdauer, Wartezeiten oder Antwortzeiten. Auf dieser Basis werden die Prozesse ständig gemessen, standardisiert und die Beschäftigten durch Zeitvorgaben kontrolliert. Per Software soll der Arbeitsanfall und das Kundenverhalten prognostiziert und stundentaktgenaue Vorgaben des Arbeitsvolumens ermittelt werden, um Personalkapazitäten und die Verteilung der Arbeitszeiten bis hin zur Lage der Pausen vorschreiben zu können.

Die Folgen sind offensichtlich: Quantifizierung und Leistungsmessung im Betrieb führe zu Konkurrenzdenken und weniger kollegialem Verhalten in der Belegschaft, so das Forscherteam.


Vernetzte Produktion erleichtert die Überwachung der Belegschaft

Dabei ist klar: Wenn die Produktion der Industrie als großes Netzwerk organisiert wird, wirkt das direkt auf die Beschäftigten. Die Vernetzung der IT-Systeme ermöglicht den Unternehmen eine dauernde Überwachung des Verhaltens der Beschäftigten. Die Folge kann eine automatisierte Arbeitsverteilung sein.
 In Bereichen mit Kundenkontakt haben die Arbeitenden oft keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung, welche Arbeitsvorgänge sie übernehmen. Stattdessen wird die eingehende Arbeit automatisiert durch Workflowsysteme in persönliche Arbeitskörbe verteilt und gesteuert.  

Die Geschäftsprozessoptimierung gefährdet wiederum Arbeitsplätze.
Der Geschäftsprozess beginnt mit der Kundenanfrage und reicht bis zur Feststellung der Kundenzufriedenheit. Gemessen werden etwa die Bearbeitungsdauer, Gesprächsdauer, Wartezeiten, Antwortzeiten, Prozessdurchlaufzeiten oder Service Level.
Auf dieser Basis werden die Prozesse ständig gemessen, standardisiert und durch Zeitvorgaben kontrolliert.

Eine permanente Kontrolle setzt die Beschäftigten unter Druck. Die psychischen Belastungen steigen, die Krankenzahlen nehmen zu, wie aktuelle Zahlen der Krankenkassen zeigen.
 „Erneuter Höchststand bei psychisch bedingten Fehltagen im Job“, meldet die DAK im „Psychreport 2024“.
 Im Zehnjahresvergleich zeigen die Auswertungen einen Anstieg der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen um 52 Prozent.
 Aufgeteilt nach Diagnosen verursachten Depressionen und Reaktionen auf schwere Belastungen sowie Anpassungsstörungen die meisten Ausfalltage, beschreibt die Krankenkasse die Folgen der Arbeitsbedingungen.  www.dak.de/dak/unternehmen/reporte-forschung/psychreport-2024_57364

 

 

Europa wohin?

Mo, 03/06/2024 - 12:43


Wo steht Europa?
Wohin treibt Europa?
Wie ist die geopolitische, wie die wirtschaftliche Lage?
Bricht es auseinander oder hält es zusammen?
Gib es noch eine fortschrittliche Leitidee?
Ein Welt- und Weitblick au
f die spezielle Konstruktion der EU, ihre Chancen und Hürden. Leitmotive des Europa-Narrativs

Europapolitische Aussagen nehmen nicht selten Bezug auf den Philosophen Immanuel Kant. Erst kürzlich fanden Feierlichkeiten zu seinem 300-jährigen Geburtstag statt.  Er hat mehrere wichtige Kernelemente formuliert, die bis heute im europapolitischen Diskurs eine Rolle spielen. So heißt es bei ihm in einer Schrift mit dem bezeichnenden Namen Vom ewigen Frieden mit Bezug auf das Völkerrecht, die Beziehungen zwischen den Völkern sollen auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein.

Und er schreibt dann weiter: „Der Gedanke ist, um Frieden zu schaffen.“ Der Frieden steht hier ganz an erster Stelle.  Und er sagt dann dazu, dass die Ausführbarkeit dieser Idee der Föderation, realistisch sei, die sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll und so zum ewigen Frieden hinführt,

Kant schreibt das in seiner Sprache, die heute ungeheuer zu lesen ist. Also wichtig der Gedanke Frieden, den man sichern kann, indem sich Staaten zueinander in das Verhältnis einer Föderation begeben. Und Kant hat auch etwas gesagt, das jetzt natürlich leicht scherzhaft zum Binnenmarkt und zu Nordstream 2 passt, nämlich der Gedanke zum Zustandekommen dieser Gemeinschaft:
„Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen, der Staatsmacht untergeordneten, Mächten (Mitteln), die Geldmacht wohl die zuverläßigste seyn möchte, so sehen sich Staaten (freylich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern, und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittelungen abzuwehren.“

Hier ist der Gedanke, dass wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Staaten ein Element sind, um Frieden zu schaffen. Das heißt also, wenn man durch Nordstream 2 oder durch viele andere Möglichkeiten miteinander kooperiert, wie im europäischen Binnenmarkt, dann ist das ein Instrument, das friedensfördernd ist.
Und jetzt dieser Gedanke aus einer politisch anderen Richtung betrachtet, aber interessanterweise im Kern-gedanke von Kant gar nicht so weit entfernt ist.
Deutschlehrerinnen kennen vielleicht Novalis, ein Schriftsteller der deutschen Romantik, sehr konservativ, der aber einige sehr schöne Gedichte und auch Geschichten geschrieben zum Beispiel. aus dem Leben eines Taugenichts Und der schreibt in einer Schrift „Sie muss kommen, die heilige Zeit des ewigen Friedens. Die anderen Weltteile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelreiches zu werden. Die Christenheit, aber, und jetzt kommt das Interessante, muss wieder lebendig erscheinen, ohne Rücksicht auf Landesgrenzen.


Also auch hier der Gedanke des Friedens ganz an der Spitze und des Zusammenschlusses in einem nicht nationalen Zusammenhang.
Das Ganze war natürlich bezogen damals auf den Begriff des christlichen Abendlandes, den es heute in dieser Stärke nicht mehr gibt, aber durchaus vorhanden ist, wie zum Beispiel im Aachener Karlspreis. Jedes Jahr wird in Aachen dieser Karlspreis verliehen. Und der Hintergedanke dabei ist deswegen Karl, weil er sich auf Karl den Großen bezieht.   Karl der Große war Chef des Frankenreiches. Damals gab es die Trennung zwischen Deutsch und Frankreich. Ich war 12 Jahre alt, als ich das erste Mal in meinem Leben nach Frankreich kam und von Burgund aus mit einem Brieffreund nach Paris reiste.  Und da standen wir natürlich vor der großen Kathedrale Notre Dame und rechts daneben ein Reiterstandbild mit einem mittelalterlichen Reiter darauf, mit dem Namen Charlomanie, also Karl dem Großen, ein franz. bzw. deutscher Kaiser. Das reicht zwar 800 Jahre weit zurück, stellte damals aber den Bezug zu einem geeinten Europa dar. Selbstredend sollte man solche Dinge freilich mit Vorsicht genießen.
Aber, interessant das ist ein aktueller Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen mit dem Titel „Abendland“. Das ist natürlich Bestandteil des EU- Vorwahlkampfes in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und sie möchte mit diesem Artikel auf etwas verweisen, was sozusagen europäische Identität sei. Und die Kernbotschaft des Professors, der diesen Artikel geschrieben hat, lautet Demokratie und Menschenrechte sind auch die Substanz des Abendlandes und deswegen sei der Abendland-Gedanke aktuell.
Also hier sehen wir den konservativen Novalis und die Frankfurter Allgemeine Zeitung jeweils als Plädoyer für Frieden und europäischen Zusammenschluß, aus politisch ganz anderen Lagern kommend.
Interessant dabei ist zu bedenken, dass beides, Novalis als auch Kant auf dem Hintergrund der Kriegssituation nach der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege zu betrachten sind, das Europa wahnsinnig erschüttert hat und einen riesigen Blutzoll in Millionenhöhe gefordert hat. Es waren mehrere Feldzüge, darunter der große Feldzug Napoleons nach Moskau mit der Grande Armee, der dann allerdings in der Beresina gescheitert ist.

Ergänzend dazu die Aussage eines anderen Franzosen, etwas später als Novalis und Kant:

„Der Tag wird kommen, an dem der Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin so absurd scheinen und unmöglich sein wird, wie er heute zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia unmöglich sein und absurd scheinen würde.“   Hier also auch der Bezug zur Gründung eines nationalen, europäischen Staates. Und weiter: „Der Tag wird kommen, an dem Ihr Frankreich, Ihr Russland, Ihr Italien, Ihr England, Ihr Deutschland, ...  ohne Eure unterschiedlichen Eigenschaften und Eure glorreiche Eigenheit zu verlieren - Euch in einer höheren Einheit eng verschmelzen werdet ... genau so wie die Normandie, die Bretagne, Burgund, Lothringen, das Elsass, alle unsere Landteile sich in Frankreich verschmolzen haben.“

Auch hier der Gedanke des Friedens durch einen europäischen Zusammenschluss, vorgetragen um 1849 von Victor Hugo auf einem Kongress, einem Friedenskongress in Paris. Allerdings ist das dann etwas später sehr umstritten gewesen in der Linken. Hier ein Auszug aus der Position einer Person, die uns allen bekannt ist. Also im Grunde das, was Kant, Hugo und Novalis wollen, wird hier als reaktionäre Idee bezeichnet.

„Ebenso wie wir stets den Pangermanismus, den Panslawismus, den Panamerikanismus als reaktionäre Ideen bekämpfen, ebenso haben wir mit der Idee des Paneuropäertums nicht das geringste zu schaffen.“

„Nicht die europäische Solidarität, sondern die internationale Solidarität, die sämtliche Weltteile, Rassen und Völker umfasst, ist der Grundpfeiler des Sozialismus im Marxschen Sinne.“
„Jede Teilsolidarität aber ist nicht eine Stufe zur Verwirklichung der echten Internationalität, sondern ihr Gegensatz, ihr Feind, eine Zweideutigkeit, unter der der Pferdefuß des nationalen Antagonismus hervorguckt.“
Rosa Luxemburg, Friedensutopien, (1911) in: Gesammelte Werke, Band 2, 491-504.
Hier zeigt sich, dass Rosa Luxemburg, die sich für Frieden ausspricht, aber die Idee des Panslawismus ablehnt. Eine Reihe anderer aus jener Zeit wie etwa Trotzki, Lenin und andere, waren ähnlicher Meinung wie Rosa Luxemburg.

Aber es gibt noch eine andere Variante, auch von links, die sich wiederum von Rosa Luxemburg absetzt:  das Manifest von Ventotene, das 1941 in Italien verfasst wurde.
Spinelli ist einer der bekanntesten Autoren. Es waren Antifaschisten, die in Ventotene in Haft saßen während des italienischen Faschismus. Und sie haben ein Manifest geschrieben zu Europa. Danach sei die erste Aufgabe nach dem Krieg, die angepackt werden muss, sei die endgültige Beseitigung der Grenzen, und ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt nicht möglich sei.

 

Das ist im Schluss wieder die Kantsche Idee. Man fängt in einem Gebiet in Europa an, und am Schluss einigt man sich - Alle Menschen werden Brüder, wie es bei Schiller und Beethoven heißt, in der Einheit der Völker des Erdballs, also eine große Utopie.

Wir sehen hier, wie der Grundgedanke Frieden. Föderationsbildung, aber auch andere Elemente darin enthalten sind, wie zum Beispiel eine europäische Armee.

Und jetzt ein letztes Beispiel, quer durch das politische Spektrum, das diese Grundgedanken ebenfalls formuliert aus einem Memoire Memorandum des Auswärtigen Amtes unter dem Titel „Schaffung eines europäischen Staatenbundes.:
Die Einigung Europas, die sich in der Geschichte seit längerem abzeichnet, ist eine zwangsläufige Entwicklung. Es muss daher die Aufgabe der neuen europäischen Ordnung sein, die Ursachen zu beseitigen, die in der Vergangenheit zu innereuropäischen Kriegen Anlass gegeben haben. Es muss der Grundsatz gelten, dass einem Angriff auf Europa die solidarische Abwehr der europäischen Völker entgegengesetzt wird.
Nur sehr große Einheiten sind heute kriegstüchtig., um militärisch bestehen zu können.  
Und hier die Frage, war das unter der Außenministerin Baerbock, war das unter dem Außenminister Willy Brandt?  Ihr werdet vom Sockel fallen:  Das ist aus einem Memorandum des Auswärtigen Amtes 1943, und der Außenminister war Ribbentrop.
Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, ich möchte heutige und bundesdeutsche Minister in keiner Weise mit denen gleichstellen.
Aber was ich damit zeigen will, ist, dass der Europagedanke in allen politischen Lagern für deren jeweiligen Interessen eingesetzt, benutzt, instrumentalisiert wird.

Man sieht hier im Folgenden ein Photo „Mit Adolf Hitler steht und fällt Europa.“


Das heißt, es ist also nicht nur in irgendwelchen esoterischen Kreisen der Naziverwaltung diskutiert worden, sondern zwar Bestandteil der offenen Propaganda.  Interessant dabei das Datum: Das war nach Stalingrad. Als die deutsche Führung gemerkt hat, dass ihnen die Felle davonschwimmen, haben sie plötzlich Europa entdeckt. Und es gibt zahlreiche Zeugnisse aus dieser Zeit, wo in der Propaganda der Europagedanke instrumentalisiert worden ist gegen die asiatischen jüdisch bolschewistischen Horden, die Europa vernichten wollen.
Also wie gesagt, es geht nicht um Gleichsetzung, sondern, und das ist sozusagen das Fazit dieses Kapitels, der Europagedanke wird von allen politischen Lagern von links bis rechts außen benutzt, um eigene Interessen damit zu realisieren.

Die zentralen Leitmotive des Europa-Narrativs

Die zentralen Leitmotive, die wir jetzt aus diesem Ritt durch die Geschichte festhalten können, sind an erster Stelle das Thema Krieg und Frieden.

Ein zweiter Aspekt ist das Thema Nation und Supranationalität, Nationalstaat. Auch das historisch natürlich verständlich, weil die Französische Revolution den Gedanken der Nation sehr stark gemacht hat und danach ja auch in Europa der Nationalstaat zur dominanten Form der Vergesellschaftung wurde.
Dann schon bei Kant angefangen, Kapitalinteressen, so würde ich das heute nennen. Er hat das nicht so genannt, aber die Handelsinteressen, wie er sprach: Wirtschaftliche Integration als ein Element für Friedensstiftung und dann natürlich das Verhältnis Europas zum Rest der Welt.
Das sind die 4 Punkte, die im Narrativ zu Europa immer wieder auftauchen, eine Rolle spielen bis heute.

Wir haben es an manchen Formulierungen von der Kriegstüchtigkeit gemerkt, dass das alles Dinge sind, die eine Vorgeschichte haben. Ich will jetzt einen kurzen Blick darauf werden, wie diese Integration Europas stattgefunden hat bzw. umgesetzt worden ist, praktisch nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wirtschaftliche Integration & Kapitalinteressen

 

Nicht das einzige, aber ein zentrales Element, wie es Kant ja auch schon vorgegeben hat, war die Idee der wirtschaftlichen und die Praxis der wirtschaftlichen Integration und Kapitalinteressen.
Und um das mal zu zeigen, wo die Attraktivität für das Kapital liegt, will ich 2, 3 Zitate von Hayek bringen.  Das ist einer der bedeutendsten Väter des Neoliberalismus, der bereits 1948 vor 76 Jahren schrieb
 
„Der Wegfall von Zollmauern und die freie Beweglichkeit von Menschen und Kapital beschränken den Spielraum der Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten in sehr beträchtlichem Maß.“

Also weiter der Gedanke, dass der Eingriff des Staates in den freien Markt und seinen Austausch was Böses ist, ein Grundgedanke des Neoliberalismus, wird hier klar formuliert, und er ist ja dann auch in der europäischen Integration ganz an der Spitze gestanden.
Und jetzt kommt die Währungsfrage:

„Mit einer gemeinsamen Währungseinheit wird die Handlungsfreiheit der nationalen Zentrale, die den nationalen gegeben ist, zumindest so stark beschränkt sein wie unter einer strengen Goldwährung. „

Wer an die Eurokrise denkt, an Schäuble, an die Sparpolitik und die Rolle der EZB, der weiß, wovon Hayek gesprochen hat und umgekehrt.

Ein drittes Element dabei, Wo bleibt das Soziale unter diesen Bedingungen? Da schreibt der Kerl auch ganz knallhart und offen „… für einen Einzelstaat schwer, selbst Gesetze wie das der Beschränkung der Kinderarbeit oder Arbeitszeit allein durchzuführen.“

 Das ist schwer unter Bedingungen eines freien, handelsfreien Binnenmarktes. Heute haben wir das Thema Mindestlohn, Entsendungsrichtlinie. Das sind ähnliche Themen, und die haben es genauso schwer. Ich will das vertiefen. Gewerkschafter kennen das genauso schwer, wie Hayek das sagt.


Und last but not least Hayeks Auffassung zu den Staatsfinanzen. Wenn dem einen oder anderen jetzt das Wort Schuldenbremse einfällt, dann ist das kein Zufall:

„ Auch im rein finanziellen Bereich wären die Methoden zur Erhöhung der Staatseinkünfte für den Einzelstaat einigermaßen beschränkt. Das also knallhart die Logik der Schuldenbremse. Da also auch das ein zentrales Element und das hat Hayek, also deswegen war er ein Befürworter europäischer Integration nach diesem Muster sozusagen in den Vordergrund gestellt. siehe oben.

Mit anderen Worten, die Montanunion, die 1951 gegründet worden ist, war der Zusammenschluss der Schwerindustrie in den 6 Gründungsländern und danach auch die EWG, die die Fortsetzung war und die Erweiterung von dem war, ging es also darum, günstige Akkumulationsbedingungen des Kapitals der Mitgliedsländer zu schaffen, also die europäische Integration, ganz wie Kant es geschrieben hat.
Es ging also nicht um Moral, sondern das Geld ist eine wichtige Triebkraft gewesen. Eine zweite Säule dieser Integration war die Tatsache, dass diese 6 Länder im Kalten Krieg die zivile ökonomische Komponente oder Säule der NATO waren, sozusagen in Ergänzung komplementär zur NATO. Allerdings hatte das sicherlich auch positive Nebeneffekte, einen Kollateralnutzen.

Die Funktionen der Integration nach dem 2. Weltkrieg

Es gab unter diesen Bedingungen seither keinen Krieg mehr in den eigenen Reihen. Innerhalb der Wagenburg wird nicht gekämpft. Und die deutsch französische Erbfeindschaft zum Beispiel, die über 150 oder 200 Jahre lang zu 3 Kriegen geführt hat, darunter 2 Weltkriege., Das ist natürlich vorbei. Also hier bestätigt sich bis zu einem gewissen Grade Kants Argument von der Rolle der Handelspolitik.
Das waren also die Funktionen der europäischen Integration. Es war also nicht, wie es auch heute, jetzt in den Medien immer dargestellt, eine Periode der unbefleckten Empfängnis, wo es nur um Frieden, um Verständigung ging, sondern eben auch um andere Interessen. Übrigens geht es auch nicht nur um NATO, also Geopolitik, sondern auch um Kolonialismus. Kaum jemand weiß. dass Algerien Bestandteil der EWG war und in den Verträgen ausdrücklich erwähnt ist? Der Grund ist folgender: Frankreich war damals vom Status her seiner Kolonialmacht definiert als integraler Bestandteil Frankreichs. Es waren 15 Departements. Und offiziell war das Frankreich, und eben auch Algier usw.  Die Deutschen haben das akzeptiert. Allerdings 2 Ausnahmeklausel hat Adenauer durchgesetzt, nämlich erstens, bei der Migration nach Westdeutschland in die BRD sollten Algerier nicht behandelt werden wie Franzosen. Und zweitens sollten sie, falls sie doch kommen, nicht in den Genuss des deutschen Sozialsystems kommen. Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen sind völlig zufälliger Art. Ja, also es ist keine Ruhmesgeschichte, sondern es ist ambivalent und höchst widersprüchlich. Gut ist das Ende der deutsch französischen Erbfeindschaft, aber andere Komponenten sind eben nicht die unbefleckte Empfängnis.

Die nächste Etappe beginnt dann 1993 mit dem Binnenmarkt mit der einzigen da ist der Euro ist dann 2000 erst eingeführt worden und dann die Osterweiterung, die in mehreren Wellen damals begonnen hat. Davor waren nur Dänemark, Griechenland, Großbritannien und noch 2, 3 andere eingetreten, Spanien und Portugal. Und es war die Phase des sogenannten neoliberalen Konstitutionalismus, also die verfassungs- quasi verfassungsmäßige Verankerung des Neoliberalismus, von dem Hayek geschwärmt hat, in den Verträgen von Maastricht.
Und die EU hat dann auch in ihrer praktischen Politik bis 2008 diese Politik als Vorreiter in Handelsverträgen mit anderen Ländern oder Ländergruppen mit dem globalen Süden durchgesetzt.  
Allerdings von nun an ging es bergab. Es gab der Finanzcrash 2008, darauf die Eurokrise, der Brexit, Corona, Aufstieg der Neuen Rechten und die immer stärker sichtbar währende internationale Wettbewerbsschwäche. Also ein Krisenzusammenhang, der bis heute nicht aufgehört hat.

Von Masstricht nach Lissabon


 Das heißt, und das war auch der Titel des Buches, das ich mit Thomas Sablowski herausgegeben habe, “Europäische Integration in der multiplen Krise.“ (VSA Verlag)

dass die EU in multiplen Krisen drinsteckt und bisher nicht herausgekommen ist. Das ist diese Epoche gewesen und wäre das, was ich jetzt gesagt habe für typische Meckerer, Kritiker Linker usw. hält, möchte ich an dieser Stelle ein paar völlig unverdächtige Zeugen für diese Aussagen zitieren.
 „Lassen Sie uns eine ganz ehrliche Diagnose stellen.
Unsere Europäische Union befindet sich – zumindest teilweise – in einer existenziellen Krise. Jean--Claude Juncker,
Rede zur Lage der Union Sept. 2016 Vorgänger von Uschi von der Leyen. Das war so am Höhepunkt der Eurokrise. Das ist die Kommission der letzten Chance, war ein geflügeltes Wort von Juncker aus dieser Zeit über die Perspektiven der Krise. Aber er ist nicht der Einzige.  Ich habe Zitate von mindestens 20 solcher Zeugen, die ganz bestimmt nicht links sind.
„Wir müssen heute zugeben, dass der Traum von einem gemeinsamen europäischen Staat mit einem gemeinsamen Interesse, mit einer gemeinsamen Zukunft, Vorstellung einer gemeinsamen Nation eine Illusion war.“  Das war der Donald Tusk. Der war zu jener Zeit, 2016, Ratspräsident, Präsident der EG des EU- Rates. Der ist heute Ministerpräsident in Polen.
Also man sieht, dass das Krisenbewusstsein jetzt keine linke Nummer ist, Show, Propaganda oder sonst etwas, sondern dass das auch von den Vertretern der EU selbst so gesehen wird.

Sehnsucht nach Großmacht

Wir kommen jetzt in die aktuelle Zeit hinein. Zeitenwende Ist auch etwas, was die EU betreibt. Das ist nicht nur eine Sache von dem Scholz und da steht an erster Stelle die Sehnsucht nach Großmacht. Und auch hier. Ein Zitat Das ist vom EU- Parlament 2016, also 6 Jahre vor Beginn des Ukrainekriegs. Also für alle, die der Meinung sind, dass die Notwendigkeit einer Großmacht Rolle der EU am 24. Februar 2022 begonnen hat, müssen das jetzt mal zur Kenntnis nehmen.

„Das Europäische Parlament betont, dass die EU ihre Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten stärken muss, die sie ihr, da sie ihr volles Potenzial als Weltmacht nur nutzen kann, wenn sie ihre einzigartige Soft Power im Rahmen eines umfassenden EU -Ansatzes mit Hard Power kombiniert.
EP- Resolution, 14.12.2016


Der französische Finanzminister, der uns jetzt gerade besucht, Bruno Le Maire drückt es folgendermaßen aus:

„Europa muss ein Empire werden, ich rede von einem friedlichen Empire, das ein Rechtsstaat ist. Ich benutze den Begriff, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es in der Welt von morgen um Macht gehen wird.

Macht wird den Unterschied ausmachen: Technologische Macht, wirtschaftliche, finanzielle, monetäre, kulturelle Macht werden entscheidend sein.

Europa darf nicht länger davor zurückschrecken, seine Macht auszuspielen und ein Empire des Friedens zu sein.“                                                             

Es war und es ist schon immer um Macht gegangen. Aber weil ja, die offizielle Erzählung Friedenspolitik, Friedensmacht Europa ist, muss natürlich die öffentliche Meinung jetzt auf die harten, knallharten Tatsachen eingestellt werden.  Bruno le Maire wird auch als denkbarer Nachfolger, zumindest in der Kandidatur für Macron bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Also hier die Sehnsucht nach Großmacht, nach Weltmacht, nach Supermachtstatus regelrecht. Oder noch mal Ursula von der Leyen „Europa muss auch die Sprache der Macht lernen.“

 Um das in etwa zusammenzufassen, hier ein Zitat aus dem strategischen Kompass der EU: „Es geht darum, die volle Bandbreite der EU-Politik und ihre Hebel als Machtinstrument zu nutzen“.
 Also, dass Bruno Le Maire gesagt hat, Finanzpolitik, Wirtschaftspolitik, Handelspolitik usw. und sofort als Machtinstrumente zu nutzen.

Und wie soll das laufen?  Dazu anbei der Artikel 52, der einschlägig ist aus dem EU- Vertrag.

 Artikel 52 EU-Vertrag

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit.
Das wissen die wenigsten Leute, steht seit 20 Jahren oder mehr im Lissabon-Vertrag. Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates schulden die anderen Mitgliedsstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Artikel 51 der Charta demnach. Das ist eine Beistandsklausel, die im Grunde verbal zumindest schärfer als Artikel 5 der NATO ist. Bei Artikel 5 der NATO kommt nämlich erst eine Vorstufe. Man muss sich konsultieren und beraten, und so weiter.  Beim EU-Vertrag geht es gleich zur Solidarität in dem Sinne, wie sie hier verstanden wird. Der Rat kann zur Wahrung usw. eine Mission, also einzelne Mitgliedsstaaten zu einer Mission im Rahmen der Union beauftragen. Das war der Fall jetzt mit der Fregatte Hessen, die ins Rote Meer geschickt worden ist. Es war sozusagen ein Auftrag der EU, und man könnte sich solche Missionen in vielfältiger Form auch zukünftig vorstellen. Es ist nicht die EU, also Brüssel selbst, sondern diese beauftragt dann Frankreich, Deutschland, Italien oder Malta zu einer Militäroperation und solche, die anspruchsvollere Kriterien erfüllen, also Panzer, Kampfflugzeuge oder womöglich Atombomben herstellen.
Diese Mitgliedstaaten sollen sich zusammenschließen für solche Projekte in der sogenannten Permanenten Strukturierten Zusammenarbeit. PESCO ist die englische Abkürzung.  2 sehr bekannte Projekte in diesem Rahmen sind das deutsch- französische und spanische Kampfflugzeug der nächsten Generation und ein Kampfpanzer, bei dem Frankreich und Deutschland und noch ein dritter Partner beteiligt werden soll.  Das heißt, es werden nicht alle 27 Mitgliedsstaaten beteiligt, sondern solche, die wollen und können. Das ist integrationspolitisch hoch interessant.  Bei anderen Themen ist das ja nicht erlaubt, dass 2 oder 3 machen können, was sie wollen, wenn sie wollen, sondern die müssen das machen, was sozusagen von oben vorgegeben ist. Allerdings ist einschränkend dazu zu sagen, dass dies nicht gut klappt.  Die Polen machen da nicht mit. Die beziehen ihre Kampfflugzeuge aus USA, aus Südkorea und Italien, kooperieren sogar mit Großbritannien, das nicht EU- Mitglied ist und mit Japan ebenfalls. Solche Rüstungsprojekte also macht jeder nach eigenem Gusto. Und weiterhin heißt es dann, dass ein sehr wichtiger Absatz in diesem Artikel 42 Die Verpflichtung und die Zusammenarbeit in diesem Bereich bleiben im Einklang mit den im Rahmen des Nordatlantikvertrags Organisation die NATO also eingegangenen Verpflichtungen, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und das Instrument für deren Verwirklichung ist.

 

Also hier zeigt sich, ein grundsätzliches Problem, nämlich das Verhältnis der EU als Militär- Macht und der NATO. Auf dieser Grundlage wurden sogenannte Battle Groups gegründet mit 1.500 Hanseln, vor denen der Chinese um der Russe bestimmt nicht zittert. Eine Eingreiftruppe von 5000, womit ich das nicht gerechtfertigt haben wollte. Ein Oberkommando wollen sie machen und die genannten Kampfflugzeug-, Panzerprojekte Interoperable Fähigkeiten der nächsten Generation Zusammenarbeit, Weltraum und Kommunikationstechnik Cyberspace.
Das heißt, wenn man genau hinschaut. Supranational ist die EU- Kampfkraft unter Brüsseler Kommando militärisch bedeutungslos.

 

Relevanter ist aber die Entwicklung einer EU-Rüstungsindustrie. Da wird sehr stark die Kooperation gefordert. Und natürlich das ökonomische Potenzial der EU ist sehr relevant. Ökonomisch ist die EU eine Weltmacht. Das muss man klar so festhalten und das sieht man jetzt an der Politik der Sanktionen, wie sie dieses Potenzial ausspielt und nutzt, unterhalb der Schwelle von Schießerei und Toten, oder zumindest direkten Toten.
Das Ganze ist jetzt nicht nur eine Frage militärischer Hardware, sondern es hat auch noch bestimmte Begleiterscheinungen. Was hier an Militarisierung gefordert wird, gehorcht der Logik Kanonen statt Butter. Das heißt also, die sozialen und Verteilungsaspekte von Rüstung und Krieg werden in den nächsten Jahren dramatisch spürbar sein. Das ist der eine Aspekt, den viele wahrscheinlich als Problem kennen. Ich komme zu einem zweiten, der nicht so häufig erwähnt wird, aber sehr wichtig ist. Das ist ein Superprioritätsdenken, zugegeben jetzt ein bisschen vornehm ausgedrückt. Vorhin hatten wir deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein, also dass das eigene besser ist als das der anderen.

Da haben wir hier unsere Soft Power, nochmal die Soft Power, die beste der Welt. Doch die Idee, dass Europa eine ausschließlich zivile Macht ist, wird der sich abzeichnenden Realität nicht gerecht.

2016, die damalige Außenbeauftragte, also die Vorgängerin von Borrell und ehemalige Juso-Vorsitzende Italiens. Mogherini, oder Martin Schulz „Die EU - das größte Zivilisationsprojekt der Menschheitsgeschichte.“

Und daraus ergibt sich dann auch, was gerade für die Deutschen wichtig ist. Die Franzosen sind französisch patriotisch und die Italiener italienisch patriotisch und erst recht die Polen. Aber die Deutschen brauchen, nach ihrer Geschichte, den Euro-Patriotismus. Patriotismus muss europäisch sein, laut Robert Habeck, oder „Es geht heute nicht mehr um eine deutsche Leitkultur, sondern um eine europäische Leitkultur. „, Manfred Weber von der CSU.
Also hier sieht man diese Begleiterscheinung von Militarisierung Großmacht. Dazu gehört auch der ideologische Überbau. Aber, das sind alles Vorstellungen, die zum Teil in der Mache sind. Aber ich werfe jetzt mal die Frage auf, was davon realistisch ist. Und da gibt es einige Hindernisse. Die erste ist, die EU ist kein Staat.

Man muss es immer wieder sagen, auch zum fünf hundertsten Mal, auch wenn es einem wie Asche im Munde vorkommt. Aber die meisten Leute vergleichen die EU mit China, mit Russland, mit Nigeria, mit Brasilien. Und das ist grundfalsch, staatstheoretisch. Und das hat viele Konsequenzen.
Die EU ist kein Staat, sondern eine Hybridkonstruktion, und zwar eine Allianz von Nationalstaaten, kombiniert mit Elementen von Supranationalität.  Allianzen gibt es viele, wie z.B. die NATO oder Mercosur oder ASEAN. Das sind alles Allianzen von Nationalstaaten. Die EU ist aber insofern einmalig, als da noch obendrauf Elemente von supranationalem Charakter obendrauf kommen wie der Binnenmarkt, wie der Europäische Gerichtshof, die EZB und anderes, die EZB, zumindest für die Eurozone, nicht aber für die Nicht -Eurozonenmitglieder. Das ist also sehr wichtig, und daraus folgt, dass die Handlungsfähigkeit dieses Spielers EU viel geringer ist als die der USA, Chinas, Russlands, Nigerias, El Salvador oder Brasiliens.
Und als zweites Element kommt dazu, dass diese ohnehin komplizierte Konstruktion jetzt belastet ist durch eine Überdehnung. Diese 27 Mitgliedsstaaten sind einfach so heterogen, dass es sehr schwer ist, ein Konsens zu finden.

Und wer derzeit in die Zeitung schaut, sieht am Beispiel Gaza, Rafah Politik, dass die EU-Staaten im Augenblick sozusagen bis aufs Messer gegeneinandergestellt sind.
 Das ist also das erste Element, die Konstruktion und das staatstheoretische Konstrukt.
Der EU ist einmalig, besonders und eben besonders handlungsunfähig.
Das zweite Element. Und da ist da noch die NATO. Ich habe das schon angedeutet, wie die beiden miteinander harmonieren. Und da muss man auch das etwas, was ich bei jedem Vortrag zu dem Thema immer wiederholen muss:
 Die NATO ist kein eigenständiger Akteur, sondern die NATO ist eine Veranstaltung der USA.

Und dann ist da noch die NATO



Und auch das ist kein links-radikales Postulat, sondern ich zitiere eine autoritative Quelle. Der wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses bringt immer nach Neuwahlen ein Paper heraus mit laufenden updates. Für die neuen Abgeordneten, in denen erklärt wird, auf 12 bis 15 Seiten, wie die Außenpolitik der USA funktioniert. Und hier wird deutlich:  Während traditionelle Beschreibungen der traditionellen US-Rolle in der Welt seit Ende des Zweiten Weltkriegs in ihren spezifischen Zügen sich unterscheiden, kann sie aber aus 4 Schlüsselelementen bestehend in allgemeinen Begriffen beschrieben werden.
 Man kann sich dieses übrigens aus dem Internet runterladen. Ich empfehle das jedem, der sich damit befasst. Man spart sich dabei halbe Bibliotheken über die US- Außenpolitik, wenn man das Ding kennt.
Erstens Global Leadership, also globale Führung, deren Anspruch,
zweitens Verteidigung und Förderung der internationalen liberalen Ordnung, vulgo Verteidigung und Förderung des Kapitalismus, drittens Verteidigung und Förderung von freedom and democracy, so wie sie das verstehen. Und die sind alle relativ, auch unter Linken, gängig und bekannt. Aber das vierte ist relativ unbekannt, nämlich die Verhinderung der Entstehung eines regionalen Hegemons in Eurasien. Das ist das vierte Prinzip und das wird dann erläutert an Beispielen US-Aktionen, die in diesem Sinne verstanden werden können, um einen regionalen Hegemon in Eurasien zu verhindern, umfasst unter anderem, wenn auch nicht nur, die US Teilnahme im Ersten Weltkrieg, die US- Teilnahme im Zweiten Weltkrieg, Koreakrieg, Vietnamkrieg. Also das da ging's nicht um Faschismus, Demokratie oder sonst etwas, sondern es war, wie sie selbst darstellen, die Verhinderung eines Hegemons in Eurasien. Das war zeitweise die Sowjetunion, Deutschland stand in der Nazizeit unter Verdacht, was ja auch der erklärte Versuch war und insofern die Verhinderung auch moralisch durchaus im Bereich des Legitimen liegt. Es ist nicht alles böse, was sie gemacht haben, es zeigt aber das Selbstverständnis ihrer Außenpolitik.

Und dann kommen wir zum Thema NATO als Instrumente:  US- Sicherheits- Allianzen, Bündnisse und Partnerschaften einschließlich der NATO, die zum großen Teil etabliert worden ist, um die Sowjetunion abzuschrecken und heute Russland und damit die Entstehung eines Hegemons in Europa zu verhindern.
Also das ist das Selbstverständnis, was die NATO ist , und das muss man, wenn man über die spricht, immer im Kopf haben.
Mit anderen Worten, solange die NATO so ist, wie sie jetzt ist, wird aus einer militärischen Großmacht EU nichts werden.
Aber da ist nicht nur das Problem mit der NATO und Washington, da gibt es andere.

 

Auch innerhalb der EU gibt es ein Haufen Länder, die transatlantisch orientiert sind, den Deutschen und oder den Franzosen nicht trauen. Darunter gehören Polen, Estland, Lettland, Litauen. Die verlassen sich lieber auf die USA als auf Deutschland oder Frankreich.
Dann gibt es als Problem, dass die EU auch Mitglieder noch hat, die noch nicht in der NATO sind. Österreich, Irland, Zypern, Malta, Finnland und Schweden sind ja jetzt beigetreten. Also auch das ist ein Problem.
Und dann kommt als großes Problem, das im Augenblick heiß diskutiert wird, dass Frankreich zwar strategische Autonomie predigt, d.h. EU als weltpolitischer Groß Machtfaktor betont, aber hinter dem Begriff strategische Autonomie steckt, und wer die französische Außenpolitik kennt, weiß, das heißt immer auch unter französischer Führung. Und bei Macron ist das so klar wie möglich. Und damit hängt nämlich die Nuklearfrage zusammen. Frankreich ist die einzige Nuklearmacht, und die wird nicht europäisiert werden. Die wird französisch bleiben unter französischem Kommando.
Das Maximale, was vorstellbar ist, ist ähnlich wie die sogenannte nukleare Teilhabe zwischen USA und Deutschland und ein paar anderen. Das heißt, in Büchel sind Kampfbomber stationiert, die US-Atombomben auf Moskau oder so weiter schmeißen können, aber unter US-Kommando und unter dem Code der USA. Das heißt mit anderen Worten, aus der Idee, Weltmacht zu werden, wird so schnell nichts.


Das bedeutet nicht, dass man sich nicht gegen Militarisierung und gegen Großmachtwenden muss, sondern es bedeutet nur, dass man realistischerweise die Perspektiven dieser Politik. klar aufzeigen muss und auch als Argument für uns benutzen kann.


Warum ist das alles so, woher kommt das? Sind die jetzt plötzlich alle midas-mäßig großmachtsüchtig geworden? Das hat natürlich Hintergründe, und zwar grundlegende tektonische Verschiebungen in der Welt.
Die Anteile der Weltbevölkerung 2015 und 2050 im Vergleich.

Hier sehen wir die EU hat im Jahre 2015 7 % Anteil an der Weltbevölkerung.
Und jetzt fragt man sich, wieso müssen 7 % Großmacht und Supermacht sein? Indien hat viel mehr. Oder China. Es ist eine Frage, die man stellen kann, aber es wird noch besser. Im Jahre 2050 wird das geschmolzen sein auf 4,5 %. Also wir Europäer sind, wenn man es mal ein bisschen überspitzt formuliert, eine Minderheit auf dem Planeten.
 Und das ist im Besonderen interessant Im Jahre 1900 betrug der Anteil Europas an der Weltbevölkerung 1/4, fast 25 %. Das muss man sich mal vorstellen. Also hier gibt es historische Prozesse, die man mal sich in den Kopf tun muss, auch wenn es unserem Selbstwertgefühl nicht sehr schmeichelt und erst recht nicht dem Selbstwertgefühl schmeichelt der politischen Eliten.
Also das übrigens, warum Europa da 1900 so bevölkerungsreich war, hängt natürlich damit zusammen, dass durch den technologischen Fortschritt, Gesundheitswesen, Medizin usw. die Lebenserwartung damals sehr hoch im Vergleich im Vergleich zu Asien oder Afrika war. Aber immerhin, das ist ein wichtiges Faktum. Mindestens genauso wichtig ist die ökonomische Seite. Hier sehen wir eine Prognose von PricewaterhouseCoopers, derzufolge wird Chinas Anteil, wenn das nicht vorher zum Krieg oder sonst irgendwo im großen Knall kommt, von 18 % auf 20 anwachsen. Der Anteil der USA wird sinken auf 12 und der der EU sogar auf 9 % runtergehen und der Indiens von 7 auf 15, also mehr als sich verdoppeln.

Also das sind alles Dinge, die der Otto- Normalverbraucher und die Anita Normalverbraucher ihn hier nicht im Kopfe haben. Aber unsere politischen Strategen wissen das natürlich und planen auf solche Verhältnisse hinaus. Also es ist der relative Abstieg Europas und generell des Westens. Die Verlagerung des Schwerpunktes der Weltwirtschaft steht fast heute überall in der Zeitung, weg vom transatlantischen Raum, hin nach Asien. Und das gilt übrigens auch im Verhältnis zu den USA. Auch da wird die EU inzwischen abgehängt. Wir haben hier die Zahlen aus 2008, da war das EU-Bruttoinlandsprodukt größer als das der EU, der USA und 14 Jahre später. Umgekehrt ist das der USA deutlich größer als das der EU. 25 Billionen gegen 19,8 Billionen. Also auch hier ein abgehängt werden usw. Mit anderen Worten aus europäischer oder E-U Sicht, besser gesagt erleben wir so etwas wie eine Entwestlichung der Welt, einen historischen Umbruch und das ist die eigentliche Zeitenwende, finde ich, dass die eigentliche Zeitenwende. Nach 500 Jahren Dominanz Europas und seines nordamerikanischen Ablegers über den Rest der Welt dazu gehört.

Ncht nur, aber auch der Aufstieg Chinas, die Renaissance Russlands als Großmacht, der Aufstieg Indiens, der Aufstieg der Schwellenländer, BRICS usw. sehen wir gerade. An dem Gaza oder Nahostkrieg wie die USA nicht in der Lage sind, Israel so zu zügeln, wie sie es gerne hätten und in der dann im Rest der Welt außer in Deutschland und noch ein paar umliegenden EU- Staaten ist das genauso oder wird das nicht gesehen oder es wird verdrängt und man will es nicht wahrhaben, dass diese 7 % die wir jetzt sind, weltweit zum Beispiel beim Thema Gaza inzwischen total isoliert sind und eine kleine radikale Minderheit eine kleine extremistische Minderheit sind. Und das führt zu Abstiegsängsten.
Und ein schönes Zitat von Steinmeier, als er zum Grundgesetz Geburtstag geredet hat:
„Selbstbehauptung ist die Aufgabe unserer Zeit selbst.“  Siehe oben.
Wir müssen uns selbst behaupten, wir sind bedroht. Es geht uns an den Kragen. So die Wahrnehmung von Steinmeier.
Ich will nicht sagen, dass ich das teile.

 

Was wird aus dieser EU in der nächsten Zeit?

Was sind sozusagen alternative emanzipatorische Richtungen, in die man denken und Politik machen könnte? Also, die EU ist in einer Krise. Sie ist im Augenblick nicht dazu in der Lage, die zu lösen, sondern macht ein permanentes Durchwursteln oder postmodern muddling through. Ja, sie wurschteln sich durch, irgendwie im Krisenmanagement. Aber die Krisen kann sie nicht lösen, die Eurokrise nicht, die Probleme des Euros, die Wettbewerbsschwäche, die geschildert worden ist, die Herausforderung durch die technologischen Umbrüche bei der KI, bei Quantencomputer sind inzwischen die Chinesen besser als in der EU usw.
All das sind Dinge, wo dieses Abstiegsmoment spürbar ist.
Und das nach einer Epoche, nach dem 500 Jahre der weiße Mann, und Hallo Annalena, auch die weiße Frau glaubte, sozusagen die Krone der Menschheit zu sein. Eine Lösung gibt es nicht. Wie das ausgeht, hierzu werde ich keine Prognosen trefen. Ich werde nur ein paar Elemente sagen, wie wir als emanzipatorische Akteure darauf reagieren können.


Da ist das erste Element das Wichtigste, was schon für Kant das Wichtigste war, dem Novalis das Wichtigste war, dem Victor Hugo das Wichtigste war und für mich das Wichtigste war und ist,

Die Militarisierung und das Großmachtstreben stoppen.
Das muss das Zentrum der Politik werden beim Thema EU.


Zweitens, strategische Autonomie von USA ja, aber nicht, wie Macron sich das vorstellt, nicht als militärische Großmacht, sondern auf friedenspolitischer Grundlage.
Das heißt, die EU als diplomatische Brücken und Friedensmacht etablieren, und nicht als militärische Großmacht. Und da kann sie sich durchaus von den USA abkoppeln. Und sollte sie sich. Das sollte man tun, und das ist kein Antiamerikanismus.
Drittens Was die Grundfragen der Integration angeht Wir haben die Vereinigten Staaten von Europa als Idee schon bei Kant und bei einigen anderen später auch. Davon muss man sich verabschieden, auch wenn der Tusk nicht zu meinen liebes Lieblingspolitikern gehört. Aber er hat recht, dass das eine Illusion ist. Die Heterogenität, die Widersprüche intern sind zu groß und das muss man sich abschminken und muss damit leben und sollte stattdessen einen dritten Weg integrationspolitisch ins Auge fassen, der weder Nationalismus ist noch in den Euronationalismus a la Habeck oder Weber führt, sondern da gibt es im Jargon einen schönen Begriff differentielle und flexible Integration.
Das Max Planck-Institut für Politikforschung in Köln hat dieses Konzept sehr stark entwickelt und befürwortet es. Es bedeutet im Grunde folgendes: Nicht den Vereinigten Staaten von Europa nachjagen, sondern nach innen flexibilisieren, Sachen machen mit Partnern, wo man was gemeinsam machen kann, was man zum Beispiel friedenspolitisch machen will. Aber mit Macron und seiner Truppenstationierung in der Ukraine macht man nix.
Das ist ja auch so im Augenblick, aber man muss es betonen und klarmachen, dass das nicht antieuropäisch ist, sondern im Gegenteil, also eine variable Geometrie betreibt, dass man auf bestimmten Gebieten miteinander zusammenarbeitet, für mich völlig vernünftig und richtig.
Dass man mit Frankreich, mit Österreich und mit Dänemark bei der Entwicklung der Eisenbahn und der Energiepolitik zusammenarbeitet, ist vollkommen vernünftig, dagegen kann man nicht sein. Aber, ob man dann wieder bei der Außenpolitik und bei bestimmten Handelspolitiken gegenüber Afrika an einem Strang zieht, oder ob man die Politik Macrons in Neukaledonien unterstützt oder nicht unterstützt, das sollte man differenziell machen, so wie es ja jetzt auch geschieht bei Gaza.
Das sollten wir für uns nutzen. Sachen, die wir für grundsätzlich falsch halten, nicht unter dem Vorwand, wir brauchen europäische Zusammenarbeit und Solidarität, zu schlucken, sondern klipp und klar Nein zu sagen.
Und es bedeutet auch eine gewisse Öffnung nach außen. Das heißt: Zusammenarbeit mit umliegenden Ländern und Regionen, natürlich auch mit der Ukraine. Dagegen spricht prinzipiell nach der Logik, die ich hier entwickelt habe, nichts. Ich würde zwar nicht mit ihr militärisch zusammenarbeiten, aber energiepolitisch kann man zusammenarbeiten oder möglicherweise auch auf anderen Gebieten, aber eben auch mit Marokko und mit Algerien und mit Belorussland, und in der Perspektive möglicherweise auch mit Russland selbst.
Also diese Öffnung, diese Flexibilisierung ist ein anderes Konzept als das Starre, zwanghafte meinen, Vereinigte Staaten von Europa machen zu wollen.
Wir haben ja schon Vereinigte Staaten, einmal reicht.


Der Bundeskabinetts-Beschluss zu Kohlendioxid-Speicherung CCS - ein Umwelt-Holzweg.

Do, 30/05/2024 - 06:54

Nach einer Presseerklärung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz hat das  Bundeskabinett die Eckpunkte für eine Carbon Management-Strategie (CMS) und einen darauf basierenden Gesetzentwurf zur Änderung des Kohlendioxid-Speicherungsgesetzes beschlossen.
Aus diesem gegebenen Anlass wiederholen wir einen isw-Beitrag vom 5.4. April 2024, der die  CCS-Pläne als beschleunigten Weg in die Klimakatastrophe begründet.



Für den  aktuell agierenden Wirtschaftsminister Robert Habeck sind die Geplanten Anwendungen von  CCS und CCU sowie der Transport und die Offshore-Speicherung von CO₂  eine Richtungsentscheidung für die Industrie in Deutschland.
 CCS (Carbon Capture and Storage) steht für die Abscheidung und Speicherung von CO₂, CCU (Carbon Capture and Usage) für die Abscheidung und Nutzung von CO₂. Der strategische Fokus für den Einsatz von CCS liege auf schwer oder nicht vermeidbaren Emissionen.

CCS ist ein beschleunigter Weg in die Klimakatastrophe

CCS heißt: Carbon Capture and Storage, also Kohlenstoff einfangen und speichern.

Tatsächlich soll jedoch Kohlendioxid eingefangen und in Deponien endgelagert werden. Es geht also weder um Kohlenstoff noch um Speicher. Mit falschen Begriffen soll einem „weiter so“ der fossilen Energiewirtschaft der Weg geebnet werden.



Mit „CCS“ gehen 50 Jahre Falschinformation der fossilen Energiewirtschaft in die nächste Runde. Wie die aktuelle Gesetzesplanung offenbart, geht es vorrangig bei CCS um die dauerhafte Nutzung von Erdgas. Die Bundesregierung plant, dass die geplanten neuen Gaskraftwerke in Deutschland baulich CCS-Ready gebaut werden sollen, also die Hauptlieferanten für die CO2-Deponien würden. Die Unternehmen, die uns seit 50 Jahren bewusst in die Klimakatastrophe geführt haben, sollen jetzt ein Feigenblatt für die Fortsetzung ihres Geschäftsmodells bekommen und die Erde weiter in den Abgrund der Klimakatastrophe führen.

 

Erdgas besteht aus Methan. Methan ist das zweitwichtigste klimaaktive Gas und für rund ein Drittel der menschengemachten Klimaerwärmung verantwortlich.
Eine, wenn nicht sogar die Hauptquelle des von Menschen emittierten Methans, ist die Öl- und Gasindustrie.[1]
Gerade das Fracking-Erdgas aus den USA, das wir derzeit in steigenden Mengen als LNG (verflüssigtes Erdgas) nach Deutschland importieren, ist deutlich schädlicher für das Klima, als die Nutzung von Steinkohle.[2]
CCS plus LNG bilden eine gefährliche Kombination, die die Klimakatastrophe zusätzlich beschleunigt.

CCS ist eine gescheiterte Technik, die nicht hält, was sie verspricht

Der Europäische Rechnungshof hat 2018 festgestellt, dass alle 12 von der EU geförderten CCS-Projekte die Ziele nicht erreicht haben.[3]

Auch weltweit ist CCS von gescheiterten Projekten gekennzeichnet[4] oder wurde vorrangig genutzt, um noch mehr Öl und Gas zu fördern[5] und die Klimakatastrophe weiter anzuheizen.[6]

                 

 

Während die CO2-Minderungsziele verfehlt wurden, sind die Kosten explodiert.[7]

Die Verbrennung von Müll wird als eine der „unvermeidbaren“ CO2-Quellen angeführt, die CCS unbedingt notwendig machen würden. Fakt ist aber: die Anlage mit der höchsten Abscheiderate einer Müllverbrennungsanlage hat gerade einmal 11% des CO2 eingefangen, also 89% CO2 emittiert.[8] Da die Zusammensetzung von Müll stark schwankt, ist eine Optimierung der CO2-Abscheidung auch kaum möglich. Gerade dort, wo CCS angeblich unverzichtbar ist, ist es technisch bisher gescheitert.

Die CO2-Deponien sind weder sicher, noch wird CO2 dauerhaft gebunden

 Frühere Vermutungen, dass sich Erkenntnisse einzelner CO2-Deponien auf andere übertragen ließen, haben sich nicht bewahrheitet. Eine aktuelle Studie zu den „Vorzeige“-Deponien in Norwegen zeigt die erheblichen Probleme sowie fehlende Vorhersagbarkeit und Übertragbarkeit von Erkenntnissen der Deponieeigenschaften auf.[9]

In den für die Errichtung von CO2-Deponien vorgesehenen Feldern in der Nordsee gibt es wahrscheinlich rund 1.800 undichte Bohrlöcher[10] sowie einzelne Blowouts.

Es findet weder ein systematisches Monitoring statt, noch werden undichte Altbohrungen abgedichtet.

Für eine Abdichtung von Leckagen von CO2-Deponien in der Nordsee gibt es noch keine etablierten Verfahren.

Aus dem Blowout von 1990 vor Schottland treten jedes Jahr zusätzlich 300.000 t Methan aus.[11] Dort lässt sich auch beobachten, welche gravierenden Auswirkungen Leckagen auf die Umwelt und die Artenzusammensetzung haben.

Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die CO2-Deponien dicht sein werden. Das CO2 würde sich durch die Sedimente hindurchbewegen und die dortige Artenzusammensetzung massiv beeinträchtigen,[12] das Meerwasser weiter versauern und teilweise wieder in die Atmosphäre gelangen.

Das Einbringen von Millionen Tonnen CO2 in den Untergrund Jahr für Jahr könnte zu Auftrieb und Erdbeben führen, ähnlich dem Vorfall vom 22. November 2022 in Alberta, Kanada.[13]
Bereits seit 2015 ist aus den USA bekannt, dass das Verpressen von Flüssigkeiten Erdbeben auslöst.[14]
Das gefährdet CO2-Endlager, Windparks, Erdgas- und Erdölplattformen und die Nordsee.

In den Sandsteinformationen der Nordsee und des Norddeutschen Beckens fehlen die Mineralien, die für eine Mineralisierung benötigt würden. Deshalb wandelt sich das CO2 nur zu einem sehr geringen Teil in Gestein um und wird im Untergrund nicht fest verbunden. Das CO2 wird auch nach Jahrtausenden dort weitgehend mobil bleiben.[15]
Damit bleiben CO2-Endlager dauerhaft tickende Zeitbomben für das Klima.
Die Kosten der Überwachung werden aber schon nach wenigen Jahrzehnten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, falls es überhaupt zu einer dauerhaften Überwachung dieser Endlager kommen sollte.

Die einzige CO2-Forschungsdeponie in Deutschland, das Projekt Ketzin, wurde nach Ende der Injektionsphase nur 5 Jahre lang überwacht.[16] Seitdem gibt es keine Erkenntnisse mehr über den Verbleib des CO2. Trotzdem wird dieses Forschungsprojekt in Ermangelung anderer Projekte als „Demonstrations“-Projekt für das Kohlendioxidspeichergesetz herangezogen und als Erfolg bezeichnet.


Wasserprobleme durch CCS

Der Bedarf an Wasser für den geplanten Umfang an CCS könnte etwa dem Wasserverbrauch entsprechen, den das Umweltbundesamt für die gesamte Landwirtschaft in Deutschland angibt.

Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass bei der Verpressung von CO2 durch den dabei ausgeübten Druck Salzwasser aus dem Untergrund weiträumig verdrängt wird. Damit könnten unsere Grundwasservorkommen auch noch in 50-100 km Entfernung gefährdet werden, wie eine Karte der beiden 2009 in Schleswig-Holstein geplanten CO2-Endlager verdeutlicht. In jedem Fall wird die Verdrängung saliner Formationswässer durch CO2 zwangsläufig zu ausgedehnten Versalzungen höherer Süßwasser-Stockwerke führen.[17]

CO2-Pipelines

Für Deutschland ist derzeit ein neu zu errichtendes CO2-Pipelinenetz von rund 4.600 km Länge geplant. Dafür müsste jeweils auf einer Breite von rund 45 Metern eine breite Baustelle entstehen, die anschließend eine deutlich verschlechterte landwirtschaftliche Fläche bzw. zerstörte Umwelt hinterlassen würde.[18]

Die CO2-Pipelines wären eine dauerhafte Gefahr für Mensch und Umwelt, da mit Unfällen zu rechnen wäre. So gab es gerade erst in diesem Jahr einen Unfall mit einer neu gebauten Erdgaspipeline in Stade, bei der 60.000 Kubikmeter Erdgas austraten bzw. abgefackelt werden mussten.[19] Ein vergleichbarer Unfall mit einer CO2-Pipeline in einem besiedelten Gebiet könnte zu tausenden Todesfällen führen, da CO2 die Luft verdrängt und zur Erstickung führen kann.

Erfahrungen mit CO2-Pipelineunfällen gibt es insbesondere aus den USA.[20] Je dichter besiedelt das Gebiet ist, durch das die Pipelines laufen, desto mehr Menschen werden durch Unfälle geschädigt.[21] In Deutschland sind die CO2-Pipelines auch für die am dichtesten besiedelten Gebiete geplant, so dass es nicht eine Frage ist, ob tödliche Unfälle auftreten werden, sondern lediglich, wann, wie oft und mit welchen Folgen. Unfälle mit CO2 sind auch deshalb so gefährlich, weil Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren plötzlich stehen bleiben und Rettungsfahrzeuge dadurch oft gar nicht erst zum Unfallgeschehen vordringen können.[22]

 

CCS würde die Energiekosten dauerhaft erhöhen

Fast alle Technologien werden im Laufe der Anwendung immer preiswerter.

CCS ist hier eine unrühmliche Ausnahme.
Die Kosten pro abgeschiedener und verpresster Tonne CO2 haben sich in den letzten 50 Jahren nicht relevant verringert,[23] sondern bei direkter Abscheidung aus der Luft sogar erhöht. Die Kosten für eine relevante Abscheidung und Deponierung von CO2[24] wären auch in einem reichen Land wie Deutschland nicht aufzubringen. Für die Welt wäre CCS wegen der Kosten erst recht keine Lösung.

Damit zeichnet sich eine politisch induzierte dauerhaft hohe Inflation ab, die vorrangig die Ärmsten treffen wird, sowohl in Deutschland, der EU als auch im Globalen Süden.

Fazit:

Die Energiewende kann nur ohne CCS gelingen. Mit CCS würde die Klimakatastrophe beschleunigt werden und das zu Lasten insbesondere der Ärmsten, von Minderheiten und der Umwelt. 

Zum Autor:

Dr. Reinhard Knof, Bürgerinitiative gegen CO2-Endlager e.V.
https://keinco2endlager.de

 

 

 

 

 

 

 

 

[1]      https://bg.copernicus.org/articles/16/3033/2019/

[2]https://www.research.howarthlab.org/documents/Howarth2022_EM_Magazine_methane.pdf

[3]      https://www.eca.europa.eu/de/publications?did=47082

[4]      https://ieefa.org/resources/carbon-capture-has-long-history-failure

[5]      https://www.desmog.com/2023/09/25/fossil-fuel-companies-made-bold-promises-to-capture-carbon-heres-what-actually-happened/  

[6]      https://energyandpolicy.org/department-of-energy-analysis-says-coal-carbon-capture-project-would-emit-more-greenhouse-gases-than-it-stores/

[7]     https://ieefa.org/wp-content/uploads/2022/03/Gorgon-Carbon-Capture-and-Storage_The-Sting-in-the-Tail_April-2022.pdf

[8]     https://www.biofuelwatch.org.uk/wp-content/uploads/BECCS-report-2022-final.pdf

[9]https://ieefa.org/sites/default/files/2023-06/Norway%E2%80%99s%20Sleipner%20and%20Sn%C3%B8hvit%20CCS-%20Industry%20models%20or%20cautionary%20tales.pdf

[10]     https://www.geomar.de/news/article/neue-studie-bestaetigt-umfangreiche-gasleckagen-in-der-nordsee

[11]   https://de.wikipedia.org/wiki/Erdgasleck_in_der_Nordsee

[12]https://www.mpg.de/11936761/kohlendioxid-ccs

[13]https://phys.org/news/2023-03-oil-industry-triggered-large-alberta.html

[14]https://www.americangeosciences.org/geoscience-currents/induced-seismicity-oil-and-gas-operations

[15]https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rspa.2014.0853

[16]https://www.lbeg.niedersachsen.de/energie_rohstoffe/co2speicherung/co2-speicherung-935.html

[17]https://keinco2endlager.de/geologische-kurzstudie-zu-den-bedingungen-und-moeglichen-auswirkungen-der-dauerhaften-lagerung-von-co2-im-untergrund/

[18]https://api.yooble.com/uploads/703565_1525680274_nCwaj.jpg

[19]https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/LNG-Terminal-Stade-Rund-60000-Kubikmeter-Gas-muessen-verbrannt-werden,aktuelllueneburg10050.html

[20]    https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0950423023001596

[21]https://www.npr.org/2023/05/21/1172679786/carbon-capture-carbon-dioxide-pipeline

[22]https://www.wz.de/nrw/moenchengladbach/gas-unfall-mehr-als-100-verletzte-in-moenchengladbacher-lackfabrik_aid-31503165

[23]https://www.focus.de/earth/news/ccs-technik-retten-co2-staubsauger-unser-klima-ein-realitaetscheck-der-wunderwaffe_id_228126796.html

[24]file:///tmp/mozilla_nutzer0/kostenschaetzung-fuer-ein-ccs-system-fuer-die-schweiz-bis-2050.pdf

 

US - Industriepolitik, Technologie und Zollerhebung

Fr, 24/05/2024 - 10:54

Der seit 2019 geführte Handels- und Technologiekrieg der USA gegen China hat eine weiter Stufe erreicht. Neben einer Vervierfachung des Zollsatzes auf 100 % auf chinesische Elektrofahrzeugimporte kündigt die US-Regierung eine Verdoppelung der Abgabe auf Solarzellen  und eine mehr als dreifache Gebühr auf chinesische Lithium-Ionen-EV-Batterien. 

Diese Zölle entsprechen einem jährlichen Wert chinesischer Waren im Wert von 18 Milliarden Dollar, zusätzlich zu den bereits unter Trump verhängten Zöllen im Wert von 300 Milliarden Dollar.

Die neuen Zölle zielen speziell auf "grüne Waren" ab, vor allem auf Elektrofahrzeuge, aber auch die Zölle auf Lithium-Ionen-Batterien, kritische Mineralien und Solarzellen werden erheblich erhöht.
Noch in diesem Jahr sollen die Maßnahmen  in Kraft treten (mit Ausnahme von Graphit, bei dem die chinesische Dominanz besonders ausgeprägt ist und die Zölle erst 2026 in Kraft treten).

China ist weltweit führend in der Produktion und Innovation von Elektrofahrzeugen.  Chinesische Elektrofahrzeuge sind heute besser und billiger als ihre westlichen Pendants. 

„Ich bin nach China gereist und habe ein Dutzend Elektroautos gefahren. Westliche Autohersteller sind überfordert.
Ein Besuch der Beijing Auto Show zeigt, wie fortschrittlich Chinas Elektroautos sind.
Und was tun die sogenannten "ausländischen" Autohersteller dagegen?“
https://insideevs.com/features/719015/china-is-ahead-of-west/

Bidens Absicht ist es, die chinesische Konkurrenz abzuwehren und gleichzeitig das inländische Angebot an Elektrofahrzeugen zu fördern.
Alle Waren, auf die diese neuen Zölle erhoben wurden, machen nur etwa 7 % des Handels zwischen den USA und China aus.
Diese Zahlenangabe belegt, dass die US-Regierung bei ihrer Entscheidung wohl davon ausgeht, dass die USA immer noch stark von chinesischen Warenimporten abhängig sind und diese erstmal nicht alle abschaffen können.

Bei dem Zoll- und Technologiekrieg geht es somit gar nicht nur um den Schutz der kränkelnden US-Autoindustrie. 
China ist bei der Herstellung von Elektrofahrzeugen absolut dominant; Hinzu kommt, dass es auch bei der Herstellung von Batterien (Zellen) absolut dominant ist. Und es ist auch bei der Herstellung der Chemikalien, die in diesen Zellen verwendet werden (Kathoden und Anoden), absolut führend.

 

China hat seine umweltfreundlichen Industrien in einer recht kurzen Zeit schnell aufgestockt. Das Land produziert heute fast 80 % der weltweiten PV-Solarmodule, 60 % der Windturbinen und 60 % der Elektrofahrzeuge und Batterien. Allein im Jahr 2023 wird die chinesische Solarkapazität um mehr als die gesamte installierte Kapazität in den USA wachsen (offizielle Zahlen liegendazu noch nicht vor).

Um den Auswirkungen früherer US-Maßnahmen zu entgehen, haben chinesische Unternehmen ihre Lieferketten über Drittländer mit bereits bestehenden Freihandelsabkommen mit den USA umgeleitet, darunter vor allem Marokko, Mexiko und Korea. Dies hat den Zugang zum amerikanischen Markt durch die Hintertür" ermöglicht. Mehr als 80 % der in die USA importierten Solarzellen werden heute über Vietnam, Malaysia, Thailand und Kambodscha eingeführt.

Nun versuchen die USA, diese Hintertür zu schließen.  Mit ihrer Entscheidung "Foreign Entity of Concern" können US-Automobilhersteller keine staatlichen Steuergutschriften mehr erhalten, wenn ein Unternehmen in ihrer Batterielieferkette zu 25 % oder mehr am Kapital, an den Stimmrechten oder an den Sitzen im Vorstand beteiligt ist, das einer mit der chinesischen Regierung verbundenen Firma gehört.

 Es stellt sich aber schon die Frage, ob diese protektionistischen Maßnahmen greifen.
Die früheren Zollmaßnahmen haben zwar die Zahl der chinesischen Solarpaneele, die in die USA geliefert werden, verringert (um 86 % im Zeitraum 2012-2020), aber die milliardenschweren Subventionen, zunächst von Obama und dann von Biden, haben die US-Solarindustrie nicht wiederbelebt.  Im Gegenteil, der amerikanische Weltmarktanteil an der Solarindustrie ist seit der Einführung der ursprünglichen Zölle erheblich zurückgegangen - von 9 % im Jahr 2010 auf heute 2 %.
In der Zwischenzeit ist der Anteil Chinas an der Branche von 59 % auf 78 % gestiegen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die jüngste Zollerhöhung diesen Trend umkehren wird. Noch weniger besteht die Hoffnung, dass sie dazu beitragen werden, die heimische Elektroautoindustrie zu fördern.

Industriepolitik zur Regelung der „freien Märkte“

Die neue Politik vieler Regierungen des globalen Nordens, so auch die neue alte Politik der USA, ist die so genannte "Industriepolitik".
Es wird nicht den "freien Märkten" überlassen, die Wettbewerbsbedingungen zu ihren Vorteilen zu regeln, sondern die Regierungen müssen nun subventionierend und finanzierend eingreifen und Vorschriften erlassen, um Schlüsselindustrien anzukurbeln und die Auswirkungen der ausländischen Konkurrenz zu verringern. 
Der Inflation Reduction Act (IRA) unter  Joseph Biden ist ein Beispiel dafür.  Der IRA umfasst Subventionen in Höhe von fast 400 Milliarden Dollar (in Form von Zuschüssen, Darlehen und Steuergutschriften), mit denen der US-amerikanische "Cleantech"-Sektor Anreize schaffen und gefördert werden soll. 

Die USA versuchen, China als Schurkenstaat darzustellen, der "nicht marktwirtschaftliche Praktiken" anwendet, um "das System zu manipulieren".  US-Finanzministerin Janet Yellen hat China besucht und behauptet, dass "China sich wirklich nicht an die Regeln hält, da es enorme Subventionen in kritischen Bereichen der fortgeschrittenen Produktion hat" und "[Biden] möchte sicherstellen, dass die Anreize, die durch das Inflationsbekämpfungsgesetz bereitgestellt werden, diese Industrien unterstützen".
Es habe den Anschein, dass die chinesische Industriepolitik mit ihren Subventionen "das System ausnutzt", während die US-Industriepolitik mit ähnlichen Subventionen die US-Industrie lediglich "schützt". Dieses Argument wird von der schlichten Behauptung begleitet, dass China seine Waren auf dem Weltmarkt unter den Kosten dumpt, weil es "Überkapazitäten" hat.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen der "Industriepolitik" in China und in den USA.  Einer unveröffentlichten Studie der OECD zufolge sind die chinesischen staatlichen Beihilfen für chinesische Unternehmen neunmal so hoch wie die staatlichen Beihilfen in den OECD-Ländern.  Chinesische Unternehmen erhalten im Durchschnitt staatliche Subventionen in Höhe von 3,7 % ihrer Einnahmen. Im Vergleich dazu belaufen sich die durchschnittlichen staatlichen Beihilfen in den Ländern der "reichen Welt" auf nur 0,4 % der Einnahmen.

Diese Hilfe kann in Form von direkten Zuschüssen der Regierungen erfolgen, um ein Unternehmen zu unterstützen oder ihm beim Bau einer Anlage zu helfen, oder in Form von besonders niedrigen Steuern für bestimmte Unternehmen oder Sektoren sowie in Form von niedrigeren als den marktüblichen Zinssätzen für Kredite.

Hierbei gibt es zwei Dinge zu beachten:

Erstens handelt es sich bei den staatlichen Beihilfen in China hauptsächlich um günstige Kredite für die Industrie, während es sich in der OECD hauptsächlich um Steuererleichterungen handelt.  Das ist wichtig, denn im Falle Chinas können die staatlichen Banken die Mittel lenken und die Kontrolle über die Zuteilung behalten; im Falle der OECD überlassen Steuervergünstigungen dem Privatsektor einfach, was er tun will.

Zweitens zielen Chinas staatliche Beihilfen auf die Förderung des verarbeitenden Gewerbes und des Exportsektors ab, nicht auf den Schutz schwacher und angeschlagener Industrien vor ausländischer Konkurrenz. 
Im Falle der USA zielen industriepolitische Maßnahmen wie Zölle und die IRA auf das Gegenteil ab. 
Eine aktuelle Studie der IWF-Ökonomen Cherif und Hasanov kommt zu dem Ergebnis, dass der letztgenannte Ansatz der "Importsubstitution" das Wachstum langfristig untergräbt, da er "übermäßig verwöhnte, ineffiziente Industrien" schafft.

Es ist daher keine Überraschung, dass die US-Regierung versucht, chinesische E-Fahrzeug-Importe mit Zöllen zu blockieren, während US-Firmen versuchen, den E-Fahrzeug-Markt zurückzuerobern, indem sie die überlegene Technologie führender chinesischer Firmen lizenzieren!  Ford (in Michigan) und Tesla (in Nevada) arbeiten mit dem chinesischen Unternehmen CATL zusammen, um Batterien herzustellen.
CATL sagt, dass es seine Lizenzvereinbarung mit Ford so strukturiert hat, dass sie mit den Vorschriften für ausländische Unternehmen in Einklang steht.
Tesla verwendet beispielsweise in Deutschland bereits chinesische BYD-Zellen, Ford und GM nutzen BYD-Batterien.
Selbst einem Donald Trump gefällt die Idee einer "großen Mauer" gegen chinesische Direktinvestitionen in Amerika nicht. Bei einer Kundgebung in Ohio im März signalisierte er Offenheit gegenüber chinesischen Firmen, die Werke "in Michigan, in Ohio, in South Carolina" bauen - solange sie bereit sind, amerikanische Arbeiter zu beschäftigen.

Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die von Trump und Biden verhängten Zölle die Einführung emissionsarmer Technologien durch amerikanische Unternehmen und Verbraucher behindern.  Viele Wirtschaftszweige in den USA befürchten nicht nur, dass die von der Regierung gesetzten Klimaziele verfehlt werden (obwohl sie es faktisch sind), sondern auch, dass die Inputkosten infolge  steigender Importpreise für wichtige Komponenten steigen werden.  Das wird die Rentabilität schmälern.  Und die Kostensteigerungen könnten an die Verbraucher weitergegeben werden, was zu einem weiteren Anstieg der Inflation für die Amerikaner führen würde, ohne dass es eine Garantie dafür gibt, dass die amerikanische Industrie angekurbelt wird. 
Das US- Institute for Supply Management geht davon aus, dass es für die Unternehmen einen erheblichen Kostenanstieg bedeuten würde, wenn sie nicht mehr aus China beziehen würden. "Wenn die Industrie vor 25 bis 30 Jahren nicht diese großen Schritte unternommen hätte, wäre die Lebensqualität in den Vereinigten Staaten heute nicht so hoch", sagt das  ISM und gibt eine Schätzung ab,  dass viele Produktinputs bis zu 30-40 % mehr kosten könnten. "Dadurch wären die Güter des täglichen Bedarfs für die Amerikaner sehr viel teurer geworden."

Und das führt zu einem größeren Bild:  Die US-Produktion hat seit 17 Jahren kein Produktivitätswachstum mehr erlebt.  Das macht es für die USA zunehmend unmöglich, in Schlüsselbereichen wettbewerbsfähig zu sein; Bidens "Industriepolitik" wird nicht greifen, wenn sie diese Stagnation nicht beenden kann.  Das verarbeitende Gewerbe Chinas ist heute die dominierende Kraft in der Weltproduktion und im Welthandel.  Seine Produktion übertrifft die der neun nächstgrößeren Hersteller zusammen.

 

Lücken bei digitalen Schlüsseltechnologien schließen sich

Gleichzeitig wird der Vorsprung der USA im Bereich der digitalen Schlüsseltechnologien von China immer mehr eingeholt und neutralisiert.  Hinter dem Handelskrieg um Zölle steht der Chipkrieg. Der Chip-Krieg begann 2018, als der damalige Präsident Trump US-Behörden verbot, Systeme, Geräte und Dienstleistungen des chinesischen Telekommunikationsriesen Huawei zu nutzen.  Im Jahr 2020 wurde dann chinesischen Beamten und ihren unmittelbaren Familienangehörigen die Einreise in die USA untersagt.  Außerdem verbot Trump allen institutionellen und privaten Anlegern in den USA, in chinesische Unternehmen zu investieren oder von ihnen zu kaufen, und verhängte Sanktionen gegen mehrere Unternehmen in China, die russische Militärnetzwerke beliefert hatten.  Im Jahr 2022 kündigte die Regierung Biden Beschränkungen für den Verkauf neuer Halbleiter an China an.

Mikrochips sind das neue Öl - die knappe Ressource, von der die moderne Welt abhängt. Militärische, wirtschaftliche und geopolitische Macht beruht heute auf einem Fundament aus Computerchips. Praktisch alles, von Raketen über Mikrowellen und Smartphones bis hin zur Börse, läuft über Chips.  Bis vor kurzem hat Amerika die schnellsten Chips entwickelt und gebaut, um seinen Vorsprung als Supermacht zu halten.  Doch im 21. Jahrhundert wurde Amerikas Vorsprung durch Konkurrenten aus Taiwan, Korea, Europa und vor allem China untergraben.  Jetzt gibt China jedes Jahr mehr Geld für den Import von Chips aus als für den Import von Öl und investiert Milliarden in eine Chip-Bau-Initiative, um zu den USA aufzuschließen.

 

Unter Biden führte die US-Regierung den Chips Act als Teil einer Reihe von Maßnahmen ein, mit denen Chinas technologische Fähigkeiten und sein globaler Einfluss geschwächt werden sollten.  Das Hauptziel war die Bereitstellung von 52 Milliarden Dollar an Produktionszuschüssen und Forschungsinvestitionen sowie die Einführung einer Steuergutschrift von 25 % für Chiphersteller in den USA.  Allen Unternehmen, die CHIPS-Mittel in Anspruch nehmen, ist es jedoch untersagt, sich an bedeutenden Transaktionen zu beteiligen, die eine wesentliche Ausweitung der Halbleiterproduktionskapazitäten in China beinhalten".  Die USA planen weitere Sanktionen, darunter ein Exportverbot für Halbleiterfertigungsanlagen für NAND-Speicherchips mit mehr als 128 Schichten. Durch das Verbot von Chinas größtem NAND-Unternehmen und von Speicherchip-Fabriken in ausländischem Besitz auf dem chinesischen Festland sollen ausländische Speicherchip-Hersteller gezwungen werden, sich außerhalb Chinas anzusiedeln, wie es der weltweit führende Anbieter TSMC jetzt tut. 

China ist immer noch eine Generation hinter den aktuellen, hochmodernen 3nm-Chips zurück.  Aber die technologische Lücke schließt sich.  Die von AUKUS durchgeführte Säule-2-Forschung zeigt, dass China in 19 der 23 Technologien führend in der Spitzenforschung ist und bei der Hyperschalltechnik, der elektronischen Kriegsführung und bei wichtigen Unterwasserfähigkeiten einen deutlichen Vorsprung hat.

Die Hegemonie der USA über Produktion, Handel und Technologie wird schwächer.  Der Anteil des imperialistischen Blocks der G7-plus-Nationen am weltweiten BIP ist heute nur noch doppelt so groß wie der Chinas, verglichen mit dem 300-fachen des Jahres 1970.



Wir können die relative Veränderung der wirtschaftlichen Positionen der USA und Chinas in den letzten 40 Jahren wertmäßig messen. 
Die marxistische Wirtschaftstheorie betrachtet zunächst die technische Zusammensetzung des Kapitals (TCC), um dieses Verhältnis zu erkennen.  Die technische Zusammensetzung des Kapitals misst die Menge des Anlagevermögens (Maschinen, Bauten usw.) in Geld pro beschäftigten Arbeitnehmer. 
Anfang der 1990er Jahre betrug die technische Zusammensetzung des Kapitals in China nicht mehr als 3 % derjenigen der US-Wirtschaft.  Nach meinen letzten Schätzungen liegt sie jetzt bei über 38 %.  Das ist immer noch nicht annähernd gleich viel, aber bei den derzeitigen Raten würde China die Lücke in höchstens 20 Jahren schließen.




Die USA haben ein großes Defizit im Warenhandel mit China, weil sie so viele chinesische Waren zu wettbewerbsfähigen Preisen importieren.

 



Wenn eine Volkswirtschaft in ihren Branchen einen großen technologischen Vorsprung gegenüber einer anderen hat, kann sie nach der marxistischen Wirtschaftstheorie im Welthandel einen Werttransfer von Ländern mit niedrigerer Technologie (TCC) erzielen.  Angesichts der internationalen Preise für den Welthandel können Volkswirtschaften mit einem technologischen Vorsprung von einem ungleichen Werttausch (UE) profitieren.  

Für den US-Kapitalismus war dies jedoch bisher kein Problem, da er trotz des Handelsdefizits einen Nettotransfer von Mehrwert (UE) aus China erhält. Anhand von weltweiten Input-Output-Tabellen haben Rémy Herrera, Zhiming Long, Zhixuan Feng und Bangxi Li herausgefunden, dass "im Zeitraum zwischen 1995 und 2014 im Handel zwischen den USA und China Ungleichheit herrschte. Insgesamt fanden die internationalen Werttransfers weitgehend zugunsten der Vereinigten Staaten statt. In laufenden Dollars ausgedrückt, belief sich diese "Umverteilung" am Ende des Zeitraums auf annähernd 100 Milliarden Dollar oder fast 0,5 Prozent der Wertschöpfung in den USA."

Als sich jedoch Chinas "technologisches Defizit" gegenüber den USA im 21. Jahrhundert zu verringern begann, begannen die Gewinne der Vereinigten Staaten zu schwinden. "China ist es in der Tat gelungen, die Bedeutung dieses ungleichen Austauschs deutlich zu verringern, wobei sich sein Nachteil beim Transfer von Wohlstand allmählich verringerte: Der Anteil dieses ungünstigen Transfers an der chinesischen Wertschöpfung fiel zwischen 1995 und 2014 von -3,7 Prozent auf -0,9 Prozent.
Tatsächlich musste China 1995 fünfzig Stunden chinesischer Arbeit gegen eine Stunde amerikanischer Arbeit eintauschen, 2014 aber nur noch sieben."

 

Die Studie von Herrera et al. basierte auf "statischen" Input-Output-Daten und reicht nur bis 2014.  Im Jahr 2021 führten G. Carchedi und ich (Michael Roberts) eine ähnliche Studie durch. Wir verwendeten dabei  ein "dynamisches" Modell der UE , das bis zum Jahr 2019 reicht.  Wir stellten einen ähnlichen Rückgang des negativen Transfers von Mehrwert von China in die USA fest, als sich die Technologielücke verringerte.  In den Jahren nach der Großen Rezession sank der Wertverlust Chinas bei den UE im Verhältnis zum chinesischen BIP um 40 %.
Dieser schnell schwindende Gewinn aus dem Handel mit China ist der eigentliche Grund für den Angriff der USA auf die chinesische Wirtschaft, ihre Exporte und die Halbleiterindustrie.  Die USA verlieren ihre imperialistischen Profite aus dem Handel mit China und werden zunehmend durch chinesische Waren von den Weltmärkten verdrängt.

Der Niedergang der US-amerikanischen Hegemonie in Handel und Produktion wiederholt, was mit der britischen Hegemonie im 19.  Friedrich Engels wies 1885 darauf hin, dass eine kapitalistische Wirtschaft, die weltweit dominiert, den "Freihandel" befürwortet, wie es Großbritannien in den 1840er bis 1870er Jahren tat.  Aber Freihandel erzeugt Konkurrenten, und nach den Erfahrungen der Depression der 1880er Jahre änderte sich die britische Politik vom "Freihandel" zu protektionistischen Maßnahmen für sein Kolonialreich.  Engels erkannte scharfsinnig, dass es die Depression der 1880er Jahre war, die die britische Hegemonie brach.  "Englands Monopol auf dem Weltmarkt wird durch die Teilnahme Frankreichs, Deutschlands und vor allem Amerikas am Welthandel immer mehr erschüttert, eine neue Form des Ausgleichs scheint in Kraft zu treten."  (Siehe mein Buch, Engels 200).

Engels wies auch darauf hin, dass, selbst wenn Großbritannien seine Hegemonie im 19. Jahrhundert aufrechterhalten würde, dies kein Ausweg für den britischen Kapitalismus wäre.  "Die Handelskrisen würden sich fortsetzen und immer heftiger, immer schrecklicher werden. Dies ist auch eine Lektion für die Gegenwart. Selbst wenn es den USA gelänge, den Aufstieg ihrer großen wirtschaftlichen Konkurrenten zu schwächen und zu bremsen, würden die Krisen in ihrer kapitalistischen Wirtschaft weiter anhalten.

Im aufstrebenden amerikanischen Kapitalismus des späten 19. Jahrhunderts gab es einen Grund für den Schutz, meinte Engels. "Er ist auch das einzig Gute am Protektionismus - jedenfalls im Falle der meisten kontinentalen Länder und Amerikas."  Andererseits war der Schutz nicht gut, wenn er eine Wirtschaft daran hinderte, auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig zu werden.  Und in der Tat kam es in Zeiten kapitalistischen Wachstums zu einer Beschleunigung der Globalisierung des Handels (und der Kapitalströme), wie in der Zeit von 1850-70 und später ab Mitte der 1890er Jahre und natürlich ab den 1980er Jahren.  Doch in Zeiten der Depression wird der Ruf nach Protektionismus laut, vor allem wenn die Hegemonialmacht bedroht ist, wie in Großbritannien in den 1890er Jahren oder in den USA heute.

Die jüngsten Zollmaßnahmen werden nicht die letzten sein.  Die US-Elite ist entschlossen, die chinesische Wirtschaft zu strangulieren, nicht nur, um ihre schwächelnden Industriesektoren zu "schützen", sondern auch, um schließlich einen "Regimewechsel" in China selbst herbeizuführen.  Die USA rechnen damit, dass sie noch Zeit haben, da China und die so genannten BRICS-Staaten noch weit hinter der wirtschaftlichen und finanziellen Macht des von den USA geführten imperialistischen Blocks zurückliegen. 

Aber die Kosten für die US-Wirtschaft und die Rentabilität der US-Industrie werden beträchtlich sein, und noch mehr für die Realeinkommen der Amerikaner.

 

Fragmentierung der Weltwirtschaft

Die internationalen Agenturen wie der IWF und die Welthandelsorganisation machen sich Sorgen um die Zukunft der großen kapitalistischen Volkswirtschaften.  Die Ökonomen des IWF gehen davon aus, dass eine "schwerwiegende Fragmentierung der Weltwirtschaft nach Jahrzehnten zunehmender wirtschaftlicher Integration die globale Wirtschaftsleistung um bis zu 7 % verringern könnte", was in heutigen Dollar etwa 7,4 Billionen Dollar entspricht. Das entspricht der Größe der französischen und der deutschen Volkswirtschaft zusammengenommen und dem Dreifachen der jährlichen Wirtschaftsleistung der afrikanischen Länder südlich der Sahara. Die Verluste könnten in einigen Ländern 8-12 % erreichen, wenn auch die Technologie entkoppelt wird.  Selbst eine begrenzte Fragmentierung könnte das globale BIP um 0,2 %
verringern.



Aber Amerikas herrschende Elite sieht diese Kosten als lohnend an, wenn sie China in die Knie zwingt.  Der Kampf zwischen den aufstrebenden imperialistischen Mächten im späten 19. Jahrhundert endete in zwei Weltkriegen im 20.  Der Versuch des US-Imperialismus, die aufstrebende wirtschaftliche und politische Macht Chinas zu zerstören, birgt das gleiche Risiko.

Zusätzliche Literaturhinweise

Willy Sabautzki: 100 % Schutzzölle – Ein Rückfall, https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5244-100-schutzzoelle-ein-rueckfall
WolfgWolfgang Müller: Warum die westlichen Sanktionen im Chipkrieg gegen China scheitern. Zwischenbilanz im US-Chipkrieg gegen China https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5235-warum-die-westlichen-sanktionen-im-chipkrieg-gegen-china-scheitern-zwischenbilanz-im-us-chipkrieg-gegen-china

 

"Eine neue Etappe der Repression“

Do, 23/05/2024 - 06:36

Am 75. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes ist Deutschland auf dem Weg in eine autoritäre Formierung: Die Kriege in der Ukraine und in Gaza bringen in der Bundesrepublik zunehmend Ausgrenzung und Repression hervor.

 

Am 75. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes (23. Mai 1949) befindet sich Deutschland in einer Phase einer rasch zunehmenden autoritären Formierung. Während etwa Bundeskanzler Olaf Scholz die „Freiheits- und Werteordnung“ des Grundgesetzes lobt und in offiziellen Stellungnahmen von „75 Jahren Freiheit“ die Rede ist, werden außenpolitisch missliebige Meinungen zunehmend unterdrückt und ihre Anhänger ausgegrenzt. Ein erster Schub in diese Richtung war mit dem Beginn des Ukraine-Krieges einhergegangen; damals waren russische Medien verboten, russische Künstler boykottiert und sogar Werke russischer Komponisten aus Programmen genommen worden. Seit dem Beginn des Gaza-Kriegs werden Palästinensern und ihren Unterstützern Literaturpreise entzogen, Kulturzentren genommen und Bankkonten gekündigt, Letzteres auch dann, wenn es sich um jüdische Organisationen handelt. Bundesminister beginnen, Hochschuldozenten, die sich für das Recht auf Protest aussprechen, offiziell zu disziplinieren, während Berlin Einreiseverbote gegen Kritiker verhängt, darunter ein ehemaliger griechischer Minister. Aus dem westlichen Ausland sind zunehmend entsetzte Reaktionen zu vernehmen.

Sendeverbote

Ein starker Schub in Richtung auf eine autoritäre Formierung der deutschen Öffentlichkeit war zu Beginn des Ukraine-Kriegs zu verzeichnen. War schon zuvor, ab 2014 und vermittelt nicht zuletzt über die Leitmedien, massiver Druck auf all diejenigen ausgeübt worden, die sich einem offen antirussischen Grundkonsens verweigerten („Putin-Versteher“), so ging die Bundesrepublik nun unter anderem zur Ausschaltung russischer Medien über – entweder, indem die deutschen Behörden ihnen Sendelizenzen verweigerten, oder durch ein Verbot auf EU-Ebene. Sender wie RT oder Sputnik sind seitdem in Deutschland nicht mehr erlaubt. Deutsch-russische Kooperationsprojekte auf den Feldern von Wissenschaft und Kultur, die vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) oder der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) betrieben wurden, wurden nun umgehend auf Eis gelegt; die Frankfurter Buchmesse schloss Russlands Nationalstand aus – und wies darauf hin, Repräsentanten russischer Verlage könnten aufgrund der Russland-Sanktionen ohnehin kaum zu der Veranstaltung anreisen.[1] Boykotte russische Künstler, zuweilen gar der Werke längst verstorbener russischer Komponisten wie auch Forderungen, die Bücher russischer Autoren – sogar klassischer Schriftsteller – zu verbieten, spitzten die antirussische Formierung zu.

Geschichtsrevision

Diese dauert bis heute an, greift immer weiter aus und beeinträchtigt mittlerweile sogar die Erinnerung an die Befreiung Deutschlands und Europas von der NS-Herrschaft. So waren bei den Befreiungsfeierlichkeiten am 9. Mai am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow nicht nur russische Fahnen und Symbole verboten, sondern auch die Flagge der Sowjetunion, die die Hauptlast bei der Niederwerfung des NS-Reichs getragen hatte. Überaus schikanöse Einlasskontrollen am Ehrenmal sorgten für recht lange Wartezeiten und schreckten von der Teilnahme an dem Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus ab. Verboten wurde sogar das Mitführen einer Tageszeitung, die auf ihrer Titelseite ein berühmtes historisches Foto von der Einnahme des Reichstags durch sowjetische Soldaten zeigte: Weil auf ihm eine sowjetische Flagge zu sehen ist, die die Soldaten gerade über dem Reichstag schwenken, musste, wer sich dem Gedenken anschließen wollte, die Zeitung im Müll entsorgen.[2] Das Foto ist aus zahlreichen Geschichtsbüchern bekannt. Ukrainische Flaggen hingegen waren erlaubt – und dies, obwohl die Organisationen der ukrainischen Faschisten, die 1941 einen ukrainischen Staat zu gründen versucht hatten, mit den Nazis kollaboriert sowie den Massenmord an den europäischen Juden aktiv unterstützt hatten.[3]

Ausgegrenzt

Ein weiterer massiver Schub in Richtung auf eine autoritäre Formierung erfolgt seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem Beginn des Gaza-Kriegs; er richtet sich pauschal gegen palästinensische Organisationen, gegen ihre Unterstützer und gegen alle, die Sympathie mit ihren Anliegen zu erkennen geben. So wurde beispielsweise die Vergabe diverser Literaturpreise, deren ursprünglich vorgesehene Empfänger sich mit Kritik an der israelischen Politik hervorgetan hatten oder auch nur palästinensischer Herkunft waren, unbestimmt verschoben oder vollständig abgesagt, so etwa eine offiziöse Auszeichnung, die auf der Frankfurter Buchmesse vergeben wird.[4] Die Berliner Behörden strichen einem bekannten Kulturzentrum in der Hauptstadt, das für palästinensische Anliegen offen ist, alle Fördermittel und verlangten die Räumung seines Gebäudes. Die Exempel wirken: In ganz Deutschland berichten Organisationen, die palästinensische Anliegen unterstützen, sie seien kaum noch in der Lage, Räumlichkeiten für Treffen und Veranstaltungen zu finden. Der Repression durch deutsche Stellen ausgesetzt ist mit der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost auch eine jüdische Vereinigung; ihr sperrte die Berliner Sparkasse bereits im März das Bankkonto.[5]

Ausgesperrt

Mittlerweile beginnt die Bundesregierung, Hochschuldozenten öffentlich zu disziplinieren, greift zu Reiseverboten und setzt sie EU-weit durch. Vor zwei Wochen hatten nach der Räumung eines Protestcamps an der Freien Universität Berlin durch die Polizei ungefähr 300 Lehrkräfte in einem Protestschreiben erklärt, sie verteidigten – unabhängig von ihrer Haltung zu den Forderungen des Protestcamps – das „Recht auf friedlichen Protest“.[6] Daraufhin äußerte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, die Stellungnahme mache sie „fassungslos“. Die öffentliche Verurteilung durch die Ministerin schädigt die Unterzeichner des Protestschreibens und schreckt andere davon ab, sich der Kritik anzuschließen. Zuvor hatten die deutschen Behörden zwei Referenten eines Palästina-Kongresses an der Teilnahme an der Veranstaltung gehindert. Gegen den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis hatte Berlin ein politisches Betätigungsverbot verhängt.[7] Den palästinensischen Arzt und Rektor der University of Glasgow, Ghassan Abu-Sittah, hatte sie mit einem Einreiseverbot belegt, und zwar für den gesamten Schengen-Raum. Abu-Sittah konnte daher Anfang Mai auch an einer Veranstaltung des französischen Senats nicht teilnehmen. Das Verwaltungsgericht Potsdam hat das Einreiseverbot inzwischen für rechtswidrig erklärt.[8]

„Gegen ethnische Minderheiten“

Aus dem westlichen Ausland sind zunehmend entsetzte Reaktionen zu vernehmen. Bereits im Dezember konstatierte die New York Times, Deutschland drohe seinen „Ruf als Zufluchtsort für künstlerische Freiheit“ zu verlieren [9], während die Washingtoner Onlinezeitung The Hill notierte: „Nahezu jede größere Einrichtung in Deutschland ist an einer Welle der Repression gegen ethnische Minderheiten beteiligt gewesen“ – gegen „Palästinenser, andere Nichtweiße und jüdische Antizionisten gleichermaßen“, und dies „in einem Ausmaß und einer Intensität, die in der deutschen Nachkriegsgeschichte beispiellos ist“ [10]. Im April zitierte der britische, gewöhnlich deutschlandfreundliche Guardian konsterniert die Aussage einer in Nordafrika geborenen und heute in Berlin lebenden Aktivistin, „Demokratie und Meinungsfreiheit“ seien in der Bundesrepublik offenbar nur noch „Fassade“.[11] Im Mai äußerte die französische Senatorin Raymonde Poncet Monge (Europe Écologie – Les Verts), die Ghassan Abu-Sittah zu der Veranstaltung des Senats eingeladen hatte, zu der auf Berliner Betreiben verfügten Einreisesperre: „Das ist grauenhaft! Das ist eine neue Etappe der Repression“.[12]

Der dritte Schub

Dabei hat längst ein dritter Schub in Richtung auf eine autoritäre Formierung begonnen, der sich gegen den stärksten Rivalen der Bundesrepublik richtet – gegen China. Schon vor Jahren ergab eine wissenschaftliche Untersuchung, die deutsche China-Berichterstattung sei „von teil noch aus kolonialen Zeiten herrührenden Klischees und Stereotypen geprägt“.[13] Seither hat auch der staatliche Druck auf in Deutschland lebende Chinesen, ihre Unterstützer und ihre Kooperationspartner zugenommen. So dürfen Chinesen, die bestimmte staatliche Stipendien erhalten, an manchen deutschen Hochschulen nicht mehr studieren. Deutsche Hochschulen stellen zunehmend ihre bisherige Kooperation mit chinesischen Kulturinstituten (Konfuzius-Institute) ein. Mit der Verschärfung des Konflikts mit der Volksrepublik steht – ähnlich wie zuvor gegen Russland und aktuell gegen Palästinenser – eine Verschärfung der inneren Frontbildung gegen China und gegen Chinesen bevor.

 

[1] S. dazu Die dritte Front.

[2] Nico Popp: Antifaschistische Zeitenwende. junge Welt 08.05.2024.

[3] S. dazu Von Tätern, Opfern und Kollaborateuren (II).

[4] S. dazu „Zum Schweigen gebracht“.

[5] Berliner Sparkasse sperrt Konto der Jüdischen Stimme. juedische-stimme.de 27.03.2024.

[6] Stark-Watzinger „fassungslos“ über Brief von Uni-Lehrkräften – Kritik auch vom Senat. rbb24.de 10.05.2024.

[7] Daniel Bax: „Betätigungsverbot“ für Varoufakis? taz.de 13.04.2024.

[8] Ronen Steinke: Einreiseverbot war rechtswidrig. sueddeutsche.de 15.05.2024.

[9] Alex Marshall: German Cultural Scene Navigates a Clampdown on Criticism of Israel. nytimes.com 07.12.2023.

[10] Kumars Salehi: Germany’s unprecedented crackdown on pro-Palestinian speech. thehill.com 17.12.2023.

[11] Philip Oltermann: ‘Free speech is a façade’: how Gaza war has deepened divisions in German arts world. theguardian.com 25.03.2024.

[12] Benjamin Barthe: Le médecin palestinien Ghassan Abu Sitta, témoin de l’enfer de Gaza, interdit d’entrée sur le territoire français. lemonde.fr 04.05.2024.

[13] Jia Changbao, Mechthild Leutner, Xiao Minxing: Die China-Berichterstattung in deutschen Medien im Kontext der Corona-Krise. Studien der Rosa-Luxemburg-Stiftung 12/2021. Berlin 2021. S. dazu Feindbild China.

 

Stärke und Bedeutung der Arbeit - ein neuer Frühling?

Fr, 17/05/2024 - 09:16

Der 1. Mai wird traditionell als Internationaler Tag der Arbeit begangen, an dem die Menschen mobilisieren, um die Stärke und Bedeutung der Arbeit in ihrem fortwährenden Kampf gegen das Kapital in der Gesellschaft zu unterstützen.  Neben der Teilnahme an Märschen und Demonstrationen auf der ganzen Welt ist er auch Anlaß darüber nachzudenken, wie gut es den Organisationen der Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert ergeht.

 

Zunächst eine wenig positive Nachricht.  Seit den 1980er Jahren, als die Politik des Neoliberalismus von den Regierungen in allen großen Volkswirtschaften durchgesetzt und oft auch im Rest der Welt nachgeahmt wurde, ist der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen in den meisten Ländern gesunken.

Dies war das Ergebnis mehrerer Faktoren.  In den 1960er und 1970er Jahren ging die Rentabilität des Kapitals weltweit drastisch zurück.  Das Kapital konnte es sich nicht mehr leisten, Zugeständnisse bei Löhnen, Sozialleistungen und öffentlichen Diensten zu machen.  Jetzt waren Privatisierungen, die Schwächung der Gewerkschaften und der Arbeitnehmerrechte, Steuersenkungen für die Reichen und der Abbau von Arbeitsplätzen durch die Verlagerung der Industrie in die billigeren Teile der Welt an der Tagesordnung.

Die Ausbeutung der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz nahm zu.  Und jede Steigerung der Arbeitsproduktivität durch eine höhere Arbeitsintensität, die Deregulierung der Arbeitnehmerrechte und eine stärkere Automatisierung ging größtenteils in Gewinne für die Unternehmenseigentümer ein.  Der Rückgang des Anteils der Arbeit wurde auch durch eine Reihe von Einbrüchen in der kapitalistischen Produktion vorangetrieben, die die Macht der Arbeitnehmer bei Lohn- und Beschäftigungsverhandlungen schwächten.  Unternehmen in den reichen Volkswirtschaften Nordamerikas, Europas und Japans verlagerten ihre Produktion in den armen "Globalen Süden", um ihre Rentabilität zu steigern. 


„Globalisierung“

Die so genannte Globalisierung hatte zur Folge, dass die Löhne und Sozialleistungen in den großen Volkswirtschaften nicht mit den im Ausland erzielten Gewinnen mithalten konnten, und in den ärmeren Volkswirtschaften wurden die Löhne der Arbeitnehmer gedrückt, während ausländische Unternehmen die neueste Technologie zur Steigerung der Produktion einsetzten.  Die kapitalistische Produktion in den großen Volkswirtschaften verlagerte sich zunehmend von den traditionellen Sektoren wie Schwermaschinenbau, Stahl, Autos usw. auf den Handels- und Finanzsektor.  Die Rentabilität stieg weltweit, und der Anteil der Arbeit am Einkommen ging zurück.

Rückgang der gewerkschaftlichen Organisationen

Ein weiterer Schlüsselfaktor für den Rückgang des Anteils der Arbeitnehmer am Welteinkommen war der Rückgang der gewerkschaftlichen Organisationen.  Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im Verhältnis zu den Beschäftigten hat sich in den entwickelten Volkswirtschaften von 33,9 % im Jahr 1970 auf nur noch 13,2 % im Jahr 2019 mehr als halbiert, wie Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen.

Betrachtet man die Entwicklung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads in 30 Industrieländern in den letzten 130 Jahren des Kapitalismus, so lässt sich eine Art umgekehrte U-Kurve beobachten, mit den Spitzenwerten der maximalen Expansion der gewerkschaftlichen Organisation zwischen 1950 und 1980.

Ein Blick auf die aktuellen Zahlen lassen erkennen, dass die Zeit der Gewerkschaften als Kraft der Arbeit vorbei ist.  Große Unternehmen und Produktionsstätten, die im vergangenen Jahrhundert die Grundlage für die Gewerkschaftsbewegung bildeten, wurden geschlossen oder durch die Auslagerung von Aufgaben und Arbeitsplätzen verkleinert. Das Wachstum der kommerziellen Dienstleistungen mit durchschnittlich kleineren Betrieben hat die Herausforderung für die Gewerkschaften erhöht, als lebensfähige Organisationen bestehen zu bleiben.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad nimmt mit der Unternehmensgröße zu, und dies ist zumindest seit den 1930er Jahren der Fall, als es den Gewerkschaften beispielsweise in den USA gelang, die großen Unternehmen in der Stahl-, Öl-, Automobil- und Schiffbauindustrie sowie in verwandten Bereichen zu organisieren.  Aber die Verlagerung von der verarbeitenden Industrie in den fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften zu den so genannten "Dienstleistungen" hat die Beschäftigungszahlen der meisten Unternehmen verringert.

 In der gesamten OECD sind 63 % aller Gewerkschaftsmitglieder in Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten beschäftigt, während nur 7 % in kleinen Unternehmen mit
1-9 Beschäftigten arbeiten (Daten für 2015).

Von den Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern
arbeiten 37 % in Unternehmen mit 100 und mehr Beschäftigten und
27 % in kleinen Unternehmen.

 Im Jahr 2019 arbeiteten 45 % aller Gewerkschaftsmitglieder in der OECD im öffentlichen Sektor, 1980 waren es noch 33 %. Doch in diesen 40 Jahren ist der Anteil der öffentlichen Beschäftigung - öffentliche Verwaltung und Sicherheit, Sozialversicherung, Bildung, Gesundheit und Sozialhilfe - an der Gesamtbeschäftigung kaum gestiegen, lediglich von 19 % auf 21 %. 
Die gewerkschaftliche Organisierung im öffentlichen Sektor kann also den Verlust der Gewerkschaften im privaten Sektor nicht kompensieren.

In weiten Teilen des "globalen Südens" haben die meisten Arbeitnehmer nicht einmal einen festen Arbeitsplatz.  

Weltweit sind 58 % der Beschäftigten in der so genannten "informellen Beschäftigung" tätig, d. h. rund 2 Milliarden Arbeitnehmer in prekären Arbeitsverhältnissen, die keinerlei organisierten Schutz ihrer Rechte am Arbeitsplatz und ihrer Arbeitsbedingungen durch Arbeitnehmerorganisationen haben.

In vielen Volkswirtschaften erleben junge Menschen zunehmend ein hohes Maß an Unsicherheit im Zusammenhang mit befristeten Verträgen, Arbeitslosigkeit und unterbrochenen Karrierewegen. Die Gewerkschaften erscheinen ihnen als alt und ineffektiv.

Kein Wunder also, dass nur etwa 2-3 % der jungen Arbeitnehmer unter 25 Jahren einer Gewerkschaft beitreten. 
Der durchschnittliche gewerkschaftliche Organisationsgrad von Arbeitnehmern unter 25 Jahren in der OECD hat sich in etwas mehr als einem Jahrzehnt fast halbiert, von 11 % im Jahr 2002 auf 6 % im Jahr 2014, womit sich ein Prozess fortsetzt, der vor Jahrzehnten begann. In allen Ländern, auch in Ländern mit hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad wie Schweden und Dänemark, ist der Anteil der jungen Menschen, die einer Gewerkschaft beitreten, deutlich zurückgegangen. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 5,5 %, gegenüber geschätzten 18 % im Jahr 1990.
Derzeit ist die Altersgruppe der Gewerkschaftsmitglieder, die kurz vor dem Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt steht, d. h. die über 55-Jährigen, viermal so groß wie die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen, die in die Gewerkschaften eintritt.  Die Gewerkschaften haben also einen schweren Stand, wenn es darum geht, austretende Mitglieder durch neu eintretende Arbeitnehmer zu ersetzen.

Infolge der Schwächung der kollektiven Arbeitnehmerorganisationen sind auch die Möglichkeiten der Arbeitnehmer, ihre Rechte am Arbeitsplatz zu verteidigen und bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu erreichen, zurückgegangen.
 Die Zahl der Arbeitskonflikte ist drastisch zurückgegangen.  Vor dem pandemischen Einbruch im Jahr 2020 waren die jährlichen Ausfalltage aufgrund von Arbeitskonflikten in den großen "reichen" Volkswirtschaften auf einem Rekordtief.

In vielen Teilen des globalen Südens sind Gewerkschaften und kollektive Organisationen verboten.  Nach Angaben des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) ist der Nahe Osten die Region, in der die Unterdrückung von Gewerkschaften am schlimmsten ist.
 Es gibt keine Rechte an den Arbeitsplätzen, unabhängige Gewerkschaften werden zerschlagen und Gewerkschaftsführer wegen Streiks eingesperrt.  Das Kafala-System (System zur regulierung von Migranten-Arbeitskräften) ist in mehreren Golfstaaten nach wie vor in Kraft, und Wanderarbeitnehmer, die die überwältigende Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung in der Region darstellen, sind nach wie vor schweren Menschenrechts-verletzungen ausgesetzt. In Tunesien fürchteten die Gewerkschaften um die Demokratie und die bürgerlichen Freiheiten, da Präsident Kais Saied seine autokratischen Machtbefugnisse weiter festigte, während in Algerien und Ägypten unabhängige Gewerkschaften immer noch Schwierigkeiten hatten, von den feindlich gesinnten Behörden ihre Zulassung zu erhalten und daher nicht ordnungsgemäß arbeiten konnten.  Im Libanon war es üblich, dass sich die Arbeitgeber in die Sozialwahlen einmischten, unter anderem durch Streichung von Namen aus den Kandidatenlisten.

Das sind die schlechten Nachrichten.  Aber es gibt auch gute Nachrichten, die die schlechten übertreffen.  Millionen Menschen starben unnötigerweise an der COVID-Pandemie, und weitere Millionen verloren in der darauffolgenden Wirtschaftskrise und der anschließenden Inflationsspirale ihre Existenz.  Aber die Pandemie hat auch das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital verändert.

Der Schwarze Tod und die Seuchen des 14. Jahrhunderts reduzierten die Bevölkerung Europas so stark, dass die Arbeitskräfte so knapp wurden, dass die Feudalherren gezwungen waren, ihren Leibeigenen Zugeständnisse zu machen, die es ihnen ermöglichten, Lohn zu verdienen, weniger Stunden für den Herrn zu arbeiten und sogar die Freiheit zu erlangen, unabhängige Bauern zu werden.  Aus diesem schrecklichen Elend wurde eine Periode der Verbesserung der Lebensumstände.

Es scheint, dass sich in diesem Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nach der Pandemie eine ähnliche Entwicklung vollzieht.  Die Jahre, in denen sich die Arbeitsmärkte weltweit schnell ausdehnten, wie in China und Osteuropa,  sind zu Ende, da die Bevölkerung altert und schrumpft. Dieser demografische Wandel führt zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital.


Gewerkschaftliches Engagement nimmt wieder zu

Angesichts angespannter Arbeitsmärkte und steigender Lebenshaltungskosten hat die Kampfbereitschaft der Arbeitnehmer wieder zugenommen, und die Bedingungen für ein erneutes Wachstum der Gewerkschaften sind wesentlich günstiger.
In den letzten 12 Monaten sind die Gewerkschaften weltweit immer aktiver geworden, indem sie entweder mit Arbeitskampfmaßnahmen gedroht oder diese durchgeführt haben. Zum ersten Mal seit etwa 40 Jahren breiten sich die Gewerkschaften auf neue Branchen und Sektoren in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und sogar auf die "informelle" Arbeitswelt des globalen Südens aus.

In den USA haben sich Arbeitnehmer organisiert und sind vermehrt auf Streikposten gegangen, um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu fordern.  Lehrer, Journalisten und Baristas gehören zu den Zehntausenden von Arbeitnehmern, die im letzten Jahr gestreikt haben. Es bedurfte sogar eines Gesetzes im US-Kongress, um zu verhindern, dass 115.000 Eisenbahner ebenfalls die Arbeit niederlegten. Die Beschäftigten von Starbucks, Amazon, Apple und Dutzenden anderer Unternehmen haben im Laufe des Jahres über 2.000 Anträge auf die Gründung von Gewerkschaften gestellt - so viele wie seit 2015 nicht mehr. Die Beschäftigten gewannen 76 % der 1.363 Wahlen, die abgehalten wurden. Im Jahr 2023 kam es zu 33 größeren Arbeitsniederlegungen, der größten Zahl in diesem Jahrhundert.

Anderswo auf der Welt können wir etwas Ähnliches beobachten. In Sri Lanka streikten im März 2023 Beschäftigte von 40 Gewerkschaften, die unter anderem die Bereiche Gesundheit, Energie, Finanzdienstleistungen und Hafenbetriebe vertraten, gegen die Ausgabenpläne der Regierung, obwohl den Beschäftigten der Verlust ihres Arbeitsplatzes drohte, wenn sie sich der Proklamation des Präsidenten widersetzten. 

Die südafrikanische Gewerkschaft National Education, Health and Allied Workers Union (NEHAWU) streikte trotz eines gerichtlichen Verbots von Arbeitskampfmaßnahmen wegen der Löhne. In Indien führten vorgeschlagene Änderungen der Arbeitsgesetze des Landes - einschließlich Klauseln, die eine 14-tägige Ankündigungsfrist für Streiks vorschreiben - zu Streiks.

Und selbst im Nahen Osten gab es einige Erfolge zu verzeichnen.  Die Beschäftigten der größten ägyptischen Textilfabrik in Mahalla errangen einen wichtigen Sieg für Zehntausende Beschäftigte in den staatlichen Betrieben Ägyptens, indem sie die Regierung zwangen, einer Erhöhung des Mindestlohns auf 6.000 ägyptische Pfund zuzustimmen, nachdem sich Tausende an einem Streik beteiligt hatten, der die Fabrik fast eine Woche lang lahmlegte.

In der Vergangenheit wurde die organisierte Arbeitnehmerschaft von großen, zentralen Gewerkschaften gesteuert, die die gewerkschaftlichen Organisierungsbemühungen koordinierten, die Forderungen der Mitglieder diktierten und die Leistungen verteilten.
Im Gegensatz dazu handelt es sich bei dieser neuen Welle von Arbeitnehmerorganisationen um kleine Basisgewerkschaften in unberührten Sektoren, die oft auf ein bestimmtes Unternehmen zugeschnitten sind, wie die Amazon Labor Union und Starbucks Workers United.  Außerdem steigt die Unterstützung der Amerikaner für Gewerkschaften.  Eine Gallup-Umfrage vom August 2023 ergab, dass zwei von drei Amerikanern Gewerkschaften unterstützen:

Die Gewerkschaften genießen in den USA nach wie vor große Unterstützung: 67 % der Amerikaner befürworten sie, was in etwa dem hohen Niveau der letzten Jahre entspricht, nachdem die Unterstützung mehr als ein Jahrzehnt lang gestiegen war. Dieser Trend spiegelt sich auch darin wider, dass die Amerikaner heute eher als noch vor einem Jahrzehnt eine Stärkung des Einflusses der Gewerkschaften wünschen und glauben, dass die Gewerkschaften für verschiedene Aspekte der Unternehmen und der Wirtschaft von Vorteil sind.

https://news.gallup.com/poll/510281/unions-strengthening.aspx

Verteidigung von Arbeitsplätzen gegen KI

Und der Kampf um die Verteidigung von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen gegen die Auswirkungen der neuen KI-Technologien hat begonnen. Ein Beispiel dafür ist die kürzlich von der Writers Guild of America in Hollywood unterzeichnete Vereinbarung, die sich mit den Bedenken der Arbeitgeber in der Unterhaltungsindustrie hinsichtlich der Einführung von KI befasst.

Eine Wiederbelebung der Gewerkschaften wird stattfinden, wenn sie sich sowohl für hochqualifizierte Arbeitnehmer als auch für Solo-Selbstständige (die oft von zu Hause aus arbeiten) relevant machen und ihre Präsenz unter den wachsenden Heerscharen von meist jungen Plattformarbeitern, Migranten und Beschäftigten mit Teilzeit- und befristeten Verträgen ausbauen. 
Dazu sind neue Methoden erforderlich, um wieder mit jungen Menschen in Kontakt zu treten.  Immer mehr Gewerkschaften experimentieren mit interaktiven Websites und sozialen Medien und mit einem Modell der Mitgliedschaft oder Beteiligung, das einfach und billig ist, mit geringen Eintritts- oder Austrittskosten.

Im Mai 2024 könnten wir also am Beginn eines Paradigmenwechsels in der Arbeitsorganisation stehen.  Aber Gewerkschaften reichen nicht aus, um das Machtgleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital zu verändern.  Dazu ist auch politisches Handeln erforderlich.  In Europa wurden die Gewerkschaften im späten 19. Jahrhundert von sozialistischen Parteien gegründet; im Vereinigten Königreich gründeten die Gewerkschaften die Labour Party, um die Arbeitnehmer auf der politischen Bühne zu vertreten.  Der Kampf am Arbeitsplatz kann nur dann erfolgreich sein, wenn er mit dem politischen Kampf zur Veränderung des gesamten Machtsystems kombiniert wird.

Im 19. Jahrhundert war der Kampf für den Achtstundentag ein zentrales Element der Maidemonstrationen in den USA und Europa.  Erst im 20. Jahrhundert wurde der Achtstundentag schließlich durch eine Kombination aus gewerkschaftlichen Aktionen und politischer Gesetzgebung erreicht.  Im 21. Jahrhundert wird der Kampf um die Automatisierung durch künstliche Intelligenz geführt, die im nächsten Jahrzehnt weltweit bis zu 300 Millionen Arbeitsplätze bedroht.  Die Antwort der Arbeitnehmer muss eine Vier-Tage-Woche, soziale Unterstützung und Umschulung für diejenigen sein, die durch die neue Technologie arbeitslos werden.  Dies erfordert eine Kombination aus neuen starken Gewerkschaften und politischen Parteien, die sich dem Kampf der Arbeit gegen das Kapital verschrieben haben.

 

Anmerkung

Dieser Beitrag wurde erstmals am 1. Mai in der libanesischen Zeitschrift Project Zero in arabischer Sprache veröffentlicht. https://alsifr.org/new-era-labourer

100% Schutzzölle - ein Rückfall

Do, 16/05/2024 - 07:02

Der US-amerikanische Präsident hat in dieser Woche die Entscheidung einer Vervierfachung der Schutzzölle auf chinesische Importe von Elektrofahrzeugen (EV) und die Einführung hoher Zölle auf Schlüsselindustrien wie Solarzellen, Halbleitern, Lithium-Ionen-Batterien, Hafenkränen und Medizinartikeln verkündet.

Bei dieser Strafmaßnahme übertrumpft Joe Biden mit seiner 100% Zollanhebung auf chinesische Automobile im laufenden US-Wahlkampf die Ankündigung von Donald Trump einer Zollerhöhung auf 60%.  Joe Biden will damit offensichtlich signalisieren, gegenüber Asiens größter Volkswirtschaft nicht nachsichtig zu sein und nationale Industrieinteressen im US-Wahlkampf hervorzuheben.
Ob ihm das die Wähler, die amerikanischen Verbraucher, lange danken werden, ist zumindest in der Frage der individuellen Produktentscheidung `ich kaufe, was ich mir leisten kann und was ich will` und in der Frage der anteiligen Begrenzung der Erderwärmung mehr als zweifelhaft. Für den US-amerikanischen Verbraucher, für den sich das Angebot an erschwinglichen Elektro-Fahrzeugen dadurch zunächst nicht erhöhen wird und überwiegend auf heimische TESLA-Produkte begrenzt bleibt, bekommt von Seiten der Regierung vorgeführt, was er für die individuelle Mobilität zu konsumieren hat.

Protektionismus

Der Protektionismus war im Zeitalter der Industriellen Revolution und Industrialisierung im 19. Jahrhundert weit verbreitet und zeigte in dieser Zeit durchaus positive Wirkungen. Viele Industriestaaten und Nationalstaaten ergriffen protektionistische, defensive Maßnahmen wie Schutzzölle und Einfuhrkontingente, um ihre heimischen Industrien vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Diese Schutzmaßnahmen sind ein umstrittenes Instrument der Handelspolitik. Einerseits ist ihre Intention, die heimische Wirtschaft vor unlauterem Wettbewerb wie Dumping oder Subventionen aus dem Ausland schützen, andererseits führen sie zu höheren Preisen für Verbraucher und Unternehmen und sind die Ausgangssituation für Handelskonflikte.

Karl Marx kritisierte den Protektionismus als eine Maßnahme zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiterklasse. Er sah den Protektionismus als Instrument der herrschenden Klasse, um ihre Profite auf Kosten der Arbeiter zu sichern. Indem ausländische Konkurrenz durch Zölle und Handelsbeschränkungen ferngehalten wird, können die Kapitalisten höhere Preise verlangen und die Löhne niedrig halten. Gleichzeitig erkannte Marx, dass der Protektionismus dem Kapitalismus innewohnt und eine Folge des Konzentrations- und Zentralisationsprozesses des Kapitals ist. Insgesamt betrachtete Marx den Protektionismus als Ausdruck der Widersprüche und Krisen des Kapitalismus.[1]

Selbst der Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI), weit entfernt von einer Zustimmung zu Marx, betont, dass Protektionismus der nationalen Wirtschaft schadet:

Protektionismus ist auf dem Vormarsch. Dazu gehören neben Import- und Exportzöllen auch Zusatzabgaben, quantitative Einfuhrbeschränkungen, unnötig komplizierte technische Standards und Subventionen.
Dies gefährdet Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze weltweit. Gerade die deutsche exportorientierte Wirtschaft leidet unter dem weltweiten Abschottungstrend.

Die Politik greift zu solchen Mitteln, um einheimische Unternehmen besser zu stellen, Produktion und Weiterverarbeitung im eigenen Land zu fördern sowie Arbeitsplätze zu schaffen.
Für lokale Unternehmen und Konsumenten endet Marktabschottung aber oftmals in einer sinkenden internationalen Wettbewerbsfähigkeit, in einer geringeren Angebotsvielfalt und in überteuerten Preisen.[2]

In jüngster Zeit sind es insbesondere rechts-populistische Bewegungen, die sich auf den Protektionismus besinnen: sie fordern verstärkt Handelsbeschränkungen zum Schutz heimischer Industrien. Und auch in die Zeit der zurückliegenden Amtszeit von Donald Trump als US-Präsident fallen beispielsweise die Schutzzölle etwa auf Stahl und Aluminium.[3]
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, und das ist jetzt nichts erschreckend Neues, dass auch in den USA -Autos subventioniert werden. Der Neukauf von E-Autos wird in den USA mit 7.500 US-Dollar gefördert, solange es ein US-amerikanisches Modell ist oder zumindest Teile im Inland produziert wurden. [4]
Weil die Autos dennoch nicht konkurrenzfähig sind, setzt die Regierung von Joseph Biden auf Protektionismus.

Historische Erfahrungen zeigen, dass Protektionismus langfristig der eigenen Wirtschaft schadet durch Vergeltungsmaßnahmen, Preisanstiege und Fehlallokation von Ressourcen. Allerdings ist im aktuellen Fall der „100 % -Strafzoll-Maßnahme“ unklar, ob diese Regierungs-Entscheidung überhaupt etwas bewirken wird.
Zunächst ist davon auszugehen, daß die Zahl der derzeit angebotenen chinesischen Automobile in den USA gegen Null geht.[5], d.h.  die aktuellen Zulassungen chinesischer Fahrzeuge auf dem US-Markt bewegen sich noch auf äußerst geringen Stückzahlen.
Somit deutet sich aber an, dass die beschlossenen Strafzölle aufgrund der extrem geringen Durchdringung des US-Marktes mit chinesischen Elektroautos nur minimale kurzfristige wirtschaftliche Auswirkungen haben werden.
Der amtierende US-Präsident scheint ein Wirtschaftssystem schützen zu wollen, das aufgrund der internationalen Verknüpfung über Lieferketten und bilateralen Wirtschaftsvereinbarungen eigentlich gar nicht mehr existiert.  Ökonomen sprechen von "wirtschaftlicher Symbolik", einzelne Repräsentanten der US-amerikanischen Automobil-Gilde wie Elon Musk besänftigen sollen, als daß Chinas Wirtschaftswachstum insbesondere in international wettbewerbsfähigen Wirtschaftsbereichen wirkungsvoll einschränkbar wäre.  
Seine eigenen Profitziele im Hinterkopf hat Tesla-Boss Elon Musk vermutlich zu der Aussage veranlaßt, daß chinesische Autohersteller ohne hohe Zölle die globale Konkurrenz "demolieren" werden.[6]

Konkurrenzfähigkeit

Die lehrbuchhafte Betonung der Aufrechterhaltung der Konkurrenzfähigkeit im freien Spiel der Marktkräfte ist im Falle dieser, dem US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf geschuldeten Zoll-Entscheidung mehr als grenzwertig anzusehen, zumal in diesem Fall die chinesischen Konkurrenzfähigkeit von Elektro-Automobilen die weitaus besseren Parameter vorweisen kann.

In Sachen Konkurrenzfähigkeit chinesischer Elektro-Automobile sei an dieser Stelle auf einen Artikel verwiesen, der die grundsätzlich anders ausgelegte Automobil-Produktions-Politik in China beschreibt und ihre Konkurrenzfähigkeit nachvollziehbar darstellt: Ein-chinesischer-Traum , der sich längst realisiert.

Auch US-amerikanische Wirtschaftsexperten gehen bei der Einschätzung der Biden-Zoll-Entscheidung davon aus, daß die Auswirkungen der höheren Zölle auf das Bruttoinlandsprodukt wahrscheinlich negativ sein werden, da die Auswirkungen auf das Realeinkommen und die Verbraucherausgaben aufgrund höherer Preise höher sein werden als der Rückgang des Handelsdefizits.
Nach zahlreichen Studien werden die Zölle die ohnehin schon hohen Verbraucherpreise in den USA noch weiter in die Höhe treiben. Somit dürfte klar sein, dass die US-Konsumenten die US-Konsumenten die Zeche für den Wirtschaftskrieg zahlen.[7]
Hinzu kämen auch ungewisse indirekte Auswirkungen, wie z. B. eine Verschlechterung der Stimmung in der Wirtschaft und Störungen in der Lieferkette, die den negativen Effekt noch verstärken dürften.

Chinas Reaktion

Die Regierungsstellen der Volksrepublik China kündigten nach Handelsblatt-Recherchen   Gegenmaßnahmen auf die Zoll-Entscheidung an. Das chinesische Handelsministerium warf den USA „falsche Praktiken“ vor und forderte, die Zölle wieder aufzuheben. China werde „entschlossene Maßnahmen ergreifen, um seine eigenen Rechte und Interessen zu verteidigen“. [8]
Die chinesische Regierung hat in den vergangenen Jahren mit ihrer planerisch- systematischen Wirtschaftspolitik in den Bereichen 5G, Elektrofahrzeuge, Halbleiter, künstliche Intelligenz, erneuerbare Energien und anderen dominanten "Zukunftsindustrien" investiert und in vielen dieser Bereiche zu vormals weltmarktführenden Ökonomien, so auch zu den USA, zumindest aufgeschlossen.
Das Land verfügt heute über genügend Kapazitäten, um die Hälfte der weltweit 80 Millionen Fahrzeuge herzustellen. Bis 2030 könnte Chinas Kapazität laut Global Data auf 75 % des weltweiten Volumens ansteigen.[9] In diesem Jahr wird China 6 Millionen Fahrzeuge in mehr als 140 Länder weltweit exportieren und damit Japan als Weltmarktführer ablösen. Dabei ist die Umstellung auf Elektro-Automobile zur Erreichung der nationalen Ziele zur Begrenzung der Erderwärmung Programm.

Die USA sind weit von ihrem Ziel entfernt, dass bis 2030 jeder zweite verkaufte Neuwagen emissionsfrei sein soll.[10] Eine Vervierfachung der Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge, Batterien, Solarpaneele oder andere Technologien wird vermutlich den Biden-Wahlkämpfern in die Hände spielen und für entsprechende Schlagzeilen im Wahljahr sorgen.  Es scheint u. a. ein wichtiges Signal an relevante Swing-Staaten (Staaten, die nicht entschieden sind zwischen Biden oder Trump), die über den Wahlausgang im November entscheiden. Laut Handelsblatt liegt der Herausforderer Trump In Staaten wie Pennsylvania und Michigan, in denen es viele Fertigungsfabriken gibt, in Umfragen vorne. Teile der US-Wirtschaft hatten auf neue Zölle gegen China gedrängt. So warne etwa die Alliance for American Manufacturing vor einer größeren Schädigung der US-Autoindustrie durch chinesische Import-Fahrzeuge,[11] zumal diese ein ernstzunehmendes nationales Sicherheitsrisiko darstellten.

Der Umgang mit der zweitmächtigsten Wirtschaft durch die Anwendung antiquierter Regelungen wie Vervierfachung von Schutzzöllen auf verfügbare und zukunftsweisende Fahrzeugtechnologie oder Lastkräne wird der größten Volkswirtschaft der Welt eher nicht helfen, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und von sich aus den Abstand durch den Aufbau wirtschaftlicher und innovativer Kräfte im eigenen Land zu verringern.  Zielführender als protektionistische Maßnahmen wären demgegenüber Investitionen zur Steigerung von Produktivität, Innovation, Forschung und internationale Kooperation.

EU und chinesische EV-Zölle

Die Biden-Entscheidung der Erhebung von 100% - Einfuhrzöllen auf chinesische Elektro-Automobile (EV) könnte aus Sicht der Europäischen Union als eine Entscheidungsvorgabe zur Erhebung von gleichgerichteten Schutzzöllen auf chinesische Elektro-Fahrzeuge für den europäischen Markt angesehen werden. Seit geraumer Zeit sind EU-Stellen damit beschäftigt, einem Nachweis der Wettbewerbsverzerrung durch unzulässige Subventionierung chinesischer Elektro-Fahrzeuge zu belegen. In den zurückliegenden acht Monaten, seit diese Untersuchung eingeleitet wurde, haben die verantwortlichen Stellen Chinas mehrere "politische" Angebote an Brüssel gemacht, um den Streit zu beenden. Die Kommission hat stets geantwortet, dass die Untersuchung technischer Natur sei, ausgelöst durch Chinas eigene Subventionen, und daher eine politische Lösung nicht zur Debatte stehe.

Eine Entscheidung darüber, ob vorläufige Zölle auf in China hergestellte Elektrofahrzeuge eingeführt werden sollen, wird kurz vor Ablauf der Frist am 5. Juni erwartet.
Experten sehen Brüssel mittlerweile durchaus im Zugzwang, der Entscheidung der USA für den europäischen Markt der US-Vorgehensweise nachzueifern.[12] Einige EU-Mitgliedsstaaten mit engen Beziehungen zu China im Automobilsektor wehren sich gegen eine Angleichung an die US-Importzölle bzw. gegen die Einführung von Zöllen überhaupt. Auch in diesem Fall warnen kritische Ökonomen davor, dass eine Verteuerung von E-Fahrzeugen die Klimaziele der EU zurückwerfen und sie wirtschaftlich nicht mehr wettbewerbsfähig machen könnte.

Denkbar wäre allerdings, dass bei einer geplanten Realisierung von chinesischen Produktions-Stätten in europäischen Märkten die Zollbeschränkungen für chinesische Fahrzeuge, produziert in Europa, eine ganz andere Bewertung nach sich ziehen würde.

 

 

[1] Marx-Engels-Werke (1972) Vol. 4, 457 f.

[2] https://bdi.eu/themenfelder/aussenwirtschaft/welthandel

[3] https://asiatimes.com/2024/05/biden-trump-china-tariffs-draw-on-old-losing-playbook/?mc_cid=3b4eed1b5d&mc_eid=3d59e5fbff

[4] isw-wirtschaftsinfo 64, Industriestandort Deutschland, Investitionsanreize des Standortes USA, S. 19

[5] https://asiatimes.com/2024/05/biden-trump-china-tariffs-draw-on-old-losing-playbook/?mc_cid=3b4eed1b5d&mc_eid=3d59e5fbff

[6]Ebd.

[7] https://www.jungewelt.de/artikel/475380.joe-the-donald.html  

[8] https://www.handelsblatt.com/politik/international/handelsstreit-biden-erhoeht-us-zoelle-fuer-elektroautos-aus-china-auf-100-prozent/100037587.html

[9] https://www.just-auto.com/analyst-comment/the-polarisation-of-chinas-automobile-production-capacity

[10] A.a.O. https://www.handelsblatt.com/politik/international/handelsstreit-biden-erhoeht-us-zoelle-fuer-elektroautos-aus-china-auf-100-prozent/100037587.html

[11] Ebd.

[12] https://www.scmp.com/news/china/article/3262731/eu-feels-heat-all-sides-decision-chinese-ev-duties-looms

 

Weiterführende Literatur

Chinas "unfaire Überkapazitäten" : https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5226-chinas-unfaire-ueberkapazitaeten

 

 

Medial ist Ostdeutschland vor allem arbeitslos, nörgelnd und rechts

Mi, 15/05/2024 - 10:35

Die Einseitigkeit des Blicks nervt.  
Positiv-Beispiele kommen im Rest Deutschlands zu wenig an. Seit Jahren belegen Inhaltsstudien deutscher Medien: Medial ist  Ostdeutschland vor allem arbeitslos, nörgelnd und rechts.  


Kürzlich gab ich ein Interview im deutschlandfunk (DLF). „Stellen Medien ‚den Osten‘ zu düster dar?“, war die Frage der Sendung.
„Ja, das tun sie“, war meine Antwort. Das ist keine Meinung, sondern wissenschaftlich erwiesen. Denn seit Jahren belegen Inhaltsstudien deutscher Medien: Medial ist Ostdeutschland vor allem arbeitslos, nörgelnd und rechts. Auf einer Skala von eins bis zehn lebenswerter Orte in Deutschland, wäre „der Osten“ wohl eine Null.
Natürlich gibt es aber weder „den Osten“, noch „die Medien“.
Denn  Thüringen ist nicht gleich Mecklenburg-Vorpommern,  und der Spiegel ist nicht gleich die „Tagesschau“.
Die Berichterstattung unterscheidet sich, die Schwerpunkte variieren. Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten und Muster.
Zum Beispiel erscheint Ostdeutschland oft als eine in sich geschlossene Zone. Das heißt, in überregionalen Medien fehlen oft regionale Unterscheidungen.
Außerdem scheinen ostdeutsche Geschichte, Traditionen und Kulturen bis heute vor allem geprägt durch DDR, Stasi und Spione. Auch deshalb lädt „die Zone“ weiter zur Ausreise ein.

Diese Einseitigkeit kann nerven, und so beschwerte sich ein Hörer beim DLF. Den Stein des Anstoßes bot die ZDF-Sendung „Übers Land“ – laut Sender eine „Dokuserie über das Leben in Brandenburg“. Laut Hörer eine klischeehafte Mischung aus Alltagssorgen, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus. Viel mehr scheint Brandenburg medial nicht zu bieten.
Seit der DLF-Sendung erreichen mich aber auch andere Negativbeispiele aus Radio, Film und Fernsehen. Wieder sticht eine ZDF-Produktion hervor. Die sechsteilige Serie „Mandat für Mai“ zeigt das Leben einer Berliner Anwältin im Vogtland. Laut ZDF-Pressemappe sei die Serie eine „Entdeckungsreise ins sehenswerte Vogtland“; die Menschen vor Ort seien „eigenwillig, aber herzlich“. Viele VogtländerInen aber sind „entsetzt“, berichtete die Ostthüringer Zeitung (OTZ). Denn die Serie biete „als Hinterwäldler dargestellte Einheimische“. Dadurch werde „ein höchst merkwürdiges Bild der Vogtländer vermittelt“, schrieb OTZ-Redakteur Ingo Eckardt.
Es folgte eine Welle der Empörung, die sozialen Medien explodierten, und das Vogtland probte den Aufstand. Zu Recht.

Aber auch andere Regionen Ostdeutschlands erscheinen in den überregionalen Medien oft eindimensional, wie Thüringen oder Sachsen.
Beide Bundesländer stehen fast schon synonym für die AfD. Aus gutem Grund.
Allerdings fallen lokale Gegenbewegungen so aus dem Blick.
Gleichzeitig werden Entwicklungen anderer Regionen Deutschlands ignoriert.
Beispiel Bayern: In der letzten Landtagswahl erzielten die AfD und die rechtskonservativen Freien Wähler zusammen über 30 Prozent. Die erzkonservative CSU schaffte es auf 37 Prozent. Diese Ergebnisse scheinen diskutierenswert. Medial stehen sie aber im Schatten ostdeutscher AfD-Hochburgen.
So wird „die Rechte“ zum „Ossi-Problem“, auch wenn der Rechtsruck durch ganz Deutschland geht.

Wäre ich nicht ostdeutsch, glaubte wohl auch ich an einen nörgelnd rechten Osten. Denn Positiv-Beispiele, wie Kultur- oder Wirtschaftsinitiativen, kommen im Rest Deutschlands kaum an.
Das ist schade, denn „der Osten“ hat für ganz Deutschland einiges zu bieten: Mut, Innovationsgeist und Transformationserfahrung zum Beispiel.
Auf einer Skala von eins bis zehn positiver Qualitäten stünden sie wohl ganz oben.

 

Erstveröffentlichung berliner-zeitung

 

Rüstungskonzern Rheinmetall: „Worldwide Player“

Di, 14/05/2024 - 07:05

Rheinmetall boomt und will zum „Worldwide Player“ in der Rüstungsbranche werden.
Der Rüstungskonzern kündigt anlässlich  seiner diesjährigen Hauptversammlung an, er wolle zum „Worldwide Player“ in der Rüstungsindustrie aufsteigen. Konzernchef Papperger erklärt, ein „europäisches Systemhaus“ könne zu den drei größten US-Rüstungsriesen aufschließen.

Grundlage ist ein rasanter Anstieg der Produktion von Waffen und Munition, der durch den Ukraine-Krieg ausgelöst wurde und Umsatz sowie Profit der Düsseldorfer Waffenschmiede in die Höhe schnellen lässt.
Deren Rüstungssparte konnte ihren Umsatz im vergangenen Jahr auf 5,69 Milliarden Euro steigern und dabei einen Gewinn von 828 Millionen Euro erzielen – erheblich mehr als noch 2021 (491 Millionen Euro). Das Geschäft scheint mit einem Auftragsbestand, der bis Jahresende 60 Milliarden Euro erreichen könnte, auf Jahre gesichert. Die Aufträge gehen zum guten Teil auf das 100 Milliarden Euro schwere „Sondervermögen“ zurück, von dem Rheinmetall voraussichtlich rund ein Drittel erhält. Konzernchef Armin Papperger plädiert zudem dafür, „ein europäisches Systemhaus“ zu gründen, das einen Jahresumsatz von 30 bis 35 Milliarden Euro erzielen und damit zu US-Branchenriesen wie etwa Northrop Grumman oder Raytheon aufschließen könnte. Parallel nimmt die Bedeutung der Rüstungsbranche für Politik und Gesellschaft zu.

Munitionsproduktion verzehnfacht

Rheinmetall befindet sich seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs in einem fast beispiellosen Wachstumsprozess. Der Konzern hat etwa die Herstellung von Artilleriemunition, die im Jahr 2021 noch bei ungefähr 70.000 Schuss lag, drastisch gesteigert und will bis Ende 2024 eine Jahresproduktion von 700.000 Schuss erreichen. Auf lange Sicht sind sogar 1,1 Millionen Schuss pro Jahr geplant. Allein die Produktion von Panzermunition, die vor dem Krieg bei 20.000 bis 30.000 Schuss pro Jahr lag, könne auf 150.000 bis 200.000 Schuss aufgestockt werden, teilt Konzernchef Armin Papperger mit.[1] Möglich wird dies nicht zuletzt durch den Bau neuer Fabriken etwa in Unterlüß oder in Litauen; als litauischer Standort wurde zuletzt Radviliškis unweit Šiauliai genannt. Auch im ungarischen Várpalota südwestlich von Budapest errichtet Rheinmetall eine neue Munitionsfabrik; zudem hat das Unternehmen Ende 2022 den spanischen Munitionshersteller Expal übernommen.[2] Noch weitere neue Werke sind in Planung; so entsteht in Weeze am Niederrhein eine Fabrik, in der ab kommendem Jahr Rumpfteile für den US-Kampfjet F-35 hergestellt werden sollen. In den schon bestehenden Fabriken wird die Produktion zusätzlich nach Kräften hochgefahren.

Auftragsbestand verdoppelt

Die rapide in die Höhe schnellende Produktion schlägt sich unmittelbar in rasant steigenden Umsatzzahlen nieder. War der Umsatz von Rheinmetall von 2019 bis 2021 noch geschrumpft – von 6,26 auf 5,66 Milliarden Euro –, so lag er 2023 bereits bei 7,2 Milliarden Euro; dieses Jahr wird er laut Schätzung von Papperger annähernd zehn Milliarden Euro erreichen.[3] Für 2026 ist von einem Umsatz von 13 bis 14 Milliarden Euro die Rede, vielleicht auch mehr. Grundlage sind stets neu eingehende Aufträge, die den Auftragsbestand des Konzerns schnell wachsen lassen. Gegenwärtig ist von Aufträgen im Wert von mehr als 32 Milliarden Euro die Rede; allein Munitionsbestellungen belaufen sich Berichten zufolge auf einen Wert von gut 7,1 Milliarden Euro. In diesem Jahr könnten Papperger zufolge weitere Aufträge im Wert von bis zu 30 Milliarden Euro hinzukommen.[4] „Ich erwarte, dass wir Ende des Jahres etwa 60 Milliarden Euro Auftragsbestand haben“, teilte der Konzernchef kürzlich mit.[5] Dazu tragen nicht zuletzt die Bestellungen der Bundeswehr bei, die zum guten Teil aus dem sogenannten Sondervermögen von 100 Milliarden Euro finanziert werden. Papperger zufolge wird der Konzern zwischen 30 und 40 Milliarden davon kassieren [6], mehr als jedes andere Rüstungsunternehmen.

Auf Augenhöhe mit den Branchenriesen

Darauf aufbauend strebt Rheinmetall den raschen Aufstieg in die erste Liga der globalen Rüstungskonzerne an. Im Jahr 2022 hatte das Unternehmen auf der SIPRI-Rangliste der 100 größten Rüstungsfirmen weltweit mit einem Rüstungsumsatz von 4,55 Milliarden US-Dollar auf Platz 28 gelegen.[7] Bereits 2023 ist es dem Konzern nun aber gelungen, seinen Rüstungsumsatz – Rheinmetall besitzt auch eine kleinere, schnell an Bedeutung verlierende zivile Sparte – auf ein Volumen von 5,69 Milliarden Euro zu steigern. Damit ist das Unternehmen zwar noch meilenweit von den US-Branchenspitzen entfernt, die im Jahr 2022 Rüstungsumsätze von 32,3 Milliarden US-Dollar (Northrop Grumman), 39,6 Milliarden US-Dollar (Raytheon) oder gar 59,4 Milliarden US-Dollar (Lockheed Martin) erzielten. Ein Aufschließen zu den kontinentaleuropäischen Spitzenkonzernen Thales (Frankreich, 9,4 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz 2022) und Leonardo (Italien, 12,5 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz 2022) scheint aber nicht mehr ausgeschlossen. Papperger schlug kürzlich vor, auf EU-Ebene einen Zusammenschluss vorzubereiten bzw. „ein europäisches Systemhaus zu gründen“. Mit einem Jahresumsatz in Höhe von 30 bis 35 Milliarden Euro könne es auf Augenhöhe mit den US-Marktführern operieren.[8]

Hoffnungsmarkt USA

Rheinmetall setzt in wachsendem Maß auch auf den US-amerikanischen Absatzmarkt – den größten Rüstungsmarkt der Welt. Da die Aufträge aus dem Berliner „Sondervermögen“ erst mit Verzögerung eintreffen und der Rheinmetall-Umsatz in Deutschland 2023 bei 1,72 Milliarden Euro stagnierte, verdankt der Konzern die Steigerung seines Umsatzes vor allem der Zunahme seines Umsatzes im übrigen Europa um rund 50 Prozent auf 3,40 Milliarden Euro.[9] Der Absatz in Asien, vor allem im Nahen und Mittleren Osten, ging dagegen zurück und lag nur noch ein wenig über 800 Millionen Euro. Der Absatz in den Vereinigten Staaten stieg von knapp 440 Millionen Euro im Jahr 2000 auf fast 600 Millionen Euro 2023 – und könnte dramatisch weiter wachsen. Rheinmetall ist es im vergangenen Jahr gelungen, bei der Bewerbung um die Herstellung eines Nachfolgemodells für den US-Schützenpanzer Bradley in die Endauswahl zu gelangen, wo er bloß noch mit dem US-Konzern General Dynamics konkurriert. Dabei ist inzwischen die Detailplanung angelaufen; anschließend muss die Düsseldorfer Waffenschmiede sieben bis elf Prototypen des Schützenpanzers bauen.[10] Die Entscheidung des Pentagon wird für Ende 2026 erwartet. Das Gesamtvolumen des Auftrags beläuft sich voraussichtlich auf 45 Milliarden US-Dollar.

Der Einfluss der Rüstungsindustrie

Mit dem rasanten Wachstum von Rheinmetall und weiteren deutschen Rüstungskonzernen nimmt die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der deutschen Rüstungsindustrie in hohem Tempo zu. Laut Angaben des Informationsdiensts des Instituts der deutschen Wirtschaft (iwd) aus Köln beschäftigte die Branche im Jahr 2020 gut 55.500 Personen, und sie erwirtschaftete einen Umsatz von knapp 11,3 Milliarden Euro.[11] Dies waren damals ungefähr 0,33 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Allerdings kamen noch Hersteller von Dual Use-Waren sowie Unternehmen, die nichtmilitärische Produkte zur Weiterverarbeitung an Rüstungsfirmen lieferten, hinzu. Mit der Fertigung von Waffen und Munition wie auch von militärischen Kampffahrzeugen waren im Jahr 2020 insgesamt rund 23.000 Personen unmittelbar befasst. Wie stark die Zahl der Beschäftigten in der Rüstungsproduktion zuletzt zugenommen hat, zeigt das Beispiel Rheinmetall: Arbeiteten im Jahr 2013 noch rund 10.100 Personen in der Rüstungssparte des Unternehmens, so lag ihre Zahl im Jahr 2023 schon bei fast 15.600 – und das mit rasch steigender Tendenz.[12]
Diese Entwicklung ist nicht auf Rheinmetall beschränkt. Mit ihr nimmt auch der politische und soziale Einfluss der Rüstungsindustrie zu.

 

Quellen

[1] Björn Finke, Thomas Fromm: „Wir sind keine Kriegsgewinnler“. Süddeutsche Zeitung 11.05.2024.

[2] S. dazu „Wie die USA im Zweiten Weltkrieg“.

[3] Rheinmetall sieht sich auf dem Weg zum „Worldwide Player“. n-tv.de 03.05.2024.

[4] Roman Tyborski, Christoph Schlautmann: Rheinmetall ist auf dem Weg zum europäischen Rüstungsgiganten. handelsblatt.com 13.05.2024.

[5] Rheinmetall sieht sich auf dem Weg zum „Worldwide Player“. n-tv.de 03.05.2024.

[6] Björn Finke, Thomas Fromm: „Wir sind keine Kriegsgewinnler“. Süddeutsche Zeitung 11.05.2024.

[7] The SIPRI Top 100 Arms-Producing and Military Services Companies, 2022. Solna, December 2023. S. auch Vor dem Rüstungssturm.

[8] Rheinmetall sieht sich auf dem Weg zum „Worldwide Player“. n-tv.de 03.05.2024.

[9] Umsatz der Rheinmetall AG nach Regionen von 2013 bis 2023. de.statista.com 14.03.2024.

[10] Milliardenschwerer US-Panzerauftrag: Rheinmetall kommt in Endauswahl. handelsblatt.com 07.08.2023.

[11] Deutsche Rüstungsindustrie: Eine Branche im Umbruch. iwd.de 29.03.2022.

[12] Roman Tyborski, Christoph Schlautmann: Rheinmetall ist auf dem Weg zum europäischen Rüstungsgiganten. handelsblatt.com 13.05.2024.

 

Deutschland und die EU fallen im Außenhandel mit dem Globalen Süden massiv gegenüber China zurück. Politischer Einfluss sinkt..

Di, 07/05/2024 - 07:50

Das zentrale Ergebnis einer aktuellen Analyse aus dem Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW):
Deutschland und die EU verlieren in den Handelsbeziehungen der Länder des Globalen Südens deutlich an Gewicht und sollten deshalb über ihren politischen Einflussverlust „nicht überrascht sein“.



Der IW- Studie zufolge stagniert der Anteil der Bundesrepublik am Handel relativ wirtschaftsstarker Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas; der Anteil der EU geht sogar deutlich zurück, während der Anteil Chinas rasant gestiegen ist und denjenigen sowohl der EU als auch der USA inzwischen in den Schatten stellt. Das sei eine wichtige Ursache dafür, dass auch Deutschlands „geopolitisches Gewicht im Globalen Süden abnimmt“, erklärt das IW. Als Beispiel nennt das Institut Brasilien, das unter dem Präsidenten Luis Inacio Lula da Silva „beim Ukraine-Krieg und im Nahostkonflikt eine dem Westen konträre Haltung einnimmt“; das sei nicht zuletzt „der wirtschaftlichen Bedeutung Chinas und Russlands für Brasilien geschuldet“. Das IW dringt auf entschlossene außenwirtschaftliche Maßnahmen der Bundesregierung zur Förderung des Handels mit dem Globalen Süden.

Europa fällt zurück

China hat in den vergangenen Jahren seinen Handel mit den bedeutendsten Ländern des Globalen Südens massiv ausgeweitet und ist zu deren wichtigstem Handelspartner noch vor den Vereinigten Staaten und der EU aufgestiegen. Dies geht aus einer aktuellen Untersuchung des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hervor.[1] Demnach hat die Volksrepublik ihren Handel mit 25 Ländern des Südens, die zum Teil erhebliches ökonomisches Gewicht besitzen, in den Jahren von 2019 bis 2023 um 47 Prozent steigern können. Damit hält sie jetzt 20 Prozent an deren Außenhandel; 2010 waren es noch knapp 12 Prozent. Die Vereinigten Staaten konnten ihren Anteil von 18 Prozent seit 2010 in etwa stabil halten, während die EU stark verlor und von 18 Prozent im Jahr 2010 auf 14 Prozent im Jahr 2023 zurückfiel. Die Bundesrepublik konnte ihren Anteil bei rund 4 Prozent annähernd halten. Russland wiederum ist es gelungen, seinen Anteil am Außenhandel der wichtigsten Länder des Südens von nur einem Prozent im Jahr 2021 auf 3 Prozent im Jahr 2023 zu steigern. Es ist dabei, Deutschland zu überholen, und kann als größter Gewinner der vergangenen beiden Jahre gelten.

Die Neue Seidenstraße

Dem IW zufolge lässt sich der Anstieg des chinesischen Anteils am Außenhandel des Globalen Südens nicht alleine durch das Wachstum von Chinas Wirtschaft im Allgemeinen und seines Außenhandels im Besonderen erklären.
Beijing habe gezielt den Handel entlang der Neuen Seidenstraße gefördert, konstatiert das Institut [2]; an dieser jedoch beteiligen sich die meisten Länder des Westens nicht, und diejenigen, die es, wie etwa Italien, doch taten, wurden genötigt, sich wieder von ihr loszusagen [3]. Die Neue Seidenstraße hat deshalb dazu beigetragen, Chinas Geschäft auf den Globalen Süden zu fokussieren.
Zudem hat die Volksrepublik zahlreiche Länder des Südens während der Covid-19-Pandemie mit allerlei medizinischem Bedarf und ganz besonders mit Impfstoffen unterstützt, was den Handel noch weiter belebt hat.
Letzteres traf in gewissem Maß auch auf Russland zu, das seit 2022 zudem durch die vom Westen verhängten Sanktionen faktisch gezwungen wurde, das Geschäft mit dem Globalen Süden auszuweiten; das ist ihm gelungen. Zugleich hat die EU es versäumt, eine Reihe großspurig angekündigter Vorhaben, etwa Freihandelsabkommen mit Indien oder mit dem südamerikanischen Mercosur, in die Tat umzusetzen; das hat ihren Rückfall beschleunigt.[4]

Größter Handelspartner

Die Feststellung, die das IW für die 25 wichtigsten Länder des Globalen Südens trifft, lässt sich auch regional bestätigen. So ist China, dessen Anteil am Außenhandel Lateinamerikas im Jahr 2000 noch unbedeutend war, zu dessen größtem Handelspartner aufgestiegen – mit Ausnahme Mexikos, dessen mit riesigem Abstand größter Handelspartner die USA sind, da die Belieferung US-amerikanischer Billiglohnfabriken nahe der Grenze (Maquiladoras) sowie der Rücktransport der weiterverarbeiteten Produkte in die Vereinigten Staaten gewaltige Handelsvolumina kreiert. Für das südostasiatische Bündnis ASEAN ist China ebenfalls der größte Handelspartner vor den USA sowie der EU.[5]
Für Afrika wiederum ist das Land größter Handelspartner auf bilateraler Ebene; nur wenn man die EU zusammenrechnet, liegen deren Mitgliedstaaten gemeinsam in Afrikas Außenhandel vor der Volksrepublik – noch.[6]
Auch bei den Direktinvestitionen im Globalen Süden holt China schnell auf und ist häufig der dynamischste aktuelle Investor; der Investitionsbestand US-amerikanischer oder europäischer Firmen ist allerdings wegen des jahrzehntelangen Vorlaufs meist noch größer als derjenige chinesischer Unternehmen. In Lateinamerika zum Beispiel hält China einen Anteil von 11,3 Prozent am gesamten Bestand ausländischer Investitionen.[7]

„Keine Überraschung“

Mit Blick auf den rasant steigenden Anteil Chinas am Außenhandel des Globalen Südens bei gleichzeitig stagnierendem deutschen und erheblich zurückgehendem EU-Anteil konstatiert das IW:
„Vor diesem Hintergrund sollte Deutschland nicht überrascht sein, dass sein geopolitisches Gewicht im Globalen Süden abnimmt.“[8] „Sichtbar“ werde dies etwa „in der ... Rhetorik des brasilianischen Staatspräsidenten Lula, der beim Ukraine-Krieg und im Nahostkonflikt eine dem Westen konträre Haltung einnimmt“, schreibt das IW weiter; dabei sei „klar“, dass dies nicht zuletzt „der wirtschaftlichen Bedeutung Chinas und Russlands für Brasilien geschuldet“ sei.
Die Entwicklung drohe sich fortzusetzen. So hätten etwa die chinesischen Exporte von Elektroautos in den Jahren 2022 und 2023 um 83 bzw. 41 Prozent zugenommen, die deutschen aber nur um 18 bzw. 39 Prozent.
Da chinesische Produzenten „bereits ein mehr als eineinhalb Mal so großes Exportvolumen“ wie deutsche Hersteller erzielten, „vergrößert sich die bestehende Lücke“ zwischen China und der Bundesrepublik. Ähnliches zeige sich etwa bei bedeutenden Chemikalien.
Damit wachse der Handelseinfluss der Volksrepublik weiter, während derjenige Deutschlands und der EU weiter schrumpfe.

Wirtschaft statt Phrasen

Als Gegenmittel empfiehlt das IW entschlossene außenwirtschaftliche Maßnahmen.
Kanzler Olaf Scholz betone zwar „den Fokus seiner Politik auf den Globalen Süden“ und proklamiere stets eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“. Doch sei sein Erfolg allenfalls beschränkt: Wegen der „verschobenen ökonomischen Gewichte“ könnten „Länder wie Brasilien, Indien und Saudi-Arabien längst ihre eigenen Interessen verfolgen“.[9]
Um Abhilfe zu schaffen, sei „der zeitnahe Abschluss von Handelsabkommen“, so etwa mit dem Mercosur, „drängender denn je“, urteilt des IW. Auch dürfe „die wirtschaftliche Bedeutung von Entwicklungshilfe ... nicht vernachlässigt werden“.
In der Tat haben Kritiker immer wieder darauf hingewiesen, dass die Entwicklungshilfe der Bundesrepublik ganz speziell deutschen Investoren oder deutschen Exporteuren zugute kommt (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Der damalige deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel bestätigte im März 2013, „mit jedem Euro Entwicklungszusammenarbeit“ flössen „durch Wirtschaftskontakte“ auf lange Sicht bestimmt „zwei Euro zurück zu uns“.[11]

 

[1], [2] Simon Gerards Iglesias: Handel mit Globalem Süden: Deutschland stagniert, China und Russland expandieren. IW-Kurzbericht Nr. 25. Köln, 03.05.2024.

[3] Chinas „Neue Seidenstraße“: Italien zieht sich zurück. wiwo.de 06.12.2023.

[4] S. dazu Keine Alternative und Vor dem Scheitern.

[5] Matt Ferchen, Cheng-Chwee Kuik: EU-ASEAN Trade, Investment, and Connectivity Cooperation. carnegieeurope.eu 04.07.2023.

[6] Karoline Eickhoff: Strategische Beziehungen mit Afrika: Konnektivität als Türöffner? megatrends-afrika.de 17.10.2023.

[7] Jörg Kronauer: „Eine Welt ohne Hegemon“. China, der Globale Süden und das Ende der westlichen Vorherrschaft. Hamburg 2024. S. 84.

[8], [9] Simon Gerards Iglesias: Handel mit Globalem Süden: Deutschland stagniert, China und Russland expandieren. IW-Kurzbericht Nr. 25. Köln, 03.05.2024.

[10] S. dazu Eigennützige Entwicklungshilfe.

[11] Niebel-Interview für „Bild/Bild online“. liberale.de 04.03.2013.

 

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