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Aktualisiert: vor 2 Minuten 38 Sekunden

Weltungleichheitsbericht 2026: Die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert sich

Fr, 12/12/2025 - 11:19

Der „Weltungleichheitsreport 2026“ (World Inequality Report, erschienen 2025) ist ein von ForscherInnen um Thomas Piketty, Lucas Chancel und weiteren, regelmäßig erstellter Bericht, der die globale Entwicklung von Einkommens- und Vermögensungleichheit auf der Grundlage umfangreicher historischer und aktueller Daten analysiert. Es handelt sich nicht um ein einzelnes Dokument, sondern bezieht sich auf wichtige Berichte, die Ende 2024/Anfang 2025 veröffentlicht wurden. Der Bericht zeigt, dass die globale ökonomische Ungleichheit weiterhin stark zunimmt, sowohl bei Einkommen als auch bei Vermögen. Die wichtigsten empirischen Befunde lassen sich in mehrere Kernbereiche unterteilen: die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung, regionale Unterschiede, die Rolle von Kapitalrenditen. Erstmalig sind Angaben von Einkommensentwicklung und Klima- und Geschlechterungleichheit mit einbezogen.

Empirische Befunde des Reports: Entwicklung der Einkommen

Die zentralen Daten des Reports 2025 bestätigen eine beispiellose Konzentration: Das oberste Dezil, d. h. die obersten 10 %, die Reichsten einer Gesellschaft, ein wichtiges Maß für die Einkommens- und Vermögensungleichheit, hält weltweit über 75% des Vermögens; das oberste 1 % umfasst nahezu 50% der Einkommen. Trotz eines leichten Rückgangs der weltweiten Einkommensungleichheit zwischen Ländern hat sich die Konzentration von Einkommen und vor allem Vermögen innerhalb vieler Staaten verschärft. Seit rund vier Jahrzehnten wächst der Einkommensanteil der obersten 1 bis 10 %. Die Einkommen der globalen Spitzengruppen ergeben sich zunehmend aus Kapitalerträgen, was die Kopplung von Einkommens- und Vermögensungleichheit verstärkt. Der Bericht betont, dass vor allem die reichsten 1 % einen unverhältnismäßig großen Teil des Zuwachses an Einkommen und vor allem Vermögen seit der Jahrtausendwende abschöpfen, während die untere Hälfte der Weltbevölkerung nur einen sehr geringen Anteil erhält. So ist beispielsweise In den USA der Anteil des obersten 1% von 10% auf über 20% angestiegen, während der Einkommensanteil der unteren 50% von 21% im Jahr 1980 auf 13% im Jahr 2025 gefallen ist. Ähnliche Entwicklungen sind in Europa, Asien und Lateinamerika zu beobachten, wobei die Geschwindigkeit der Zunahme regional variiert.

Das folgende Schaubild zeigt den Anteil der obersten 1% je Nationaleinkommen:

Entwicklung der Vermögensverteilung

Die Vermögenskonzentration ist extrem: Die reichsten 10% der Weltbevölkerung besitzen 76% des globalen Vermögens. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung verfügt über weniger als 5% des globalen Vermögens; in keinem Land ist dieser Anteil höher. Die obersten 0,1% der Vermögensbesitzer sollen ihren Anteil von rund 20% im Jahr 2022 auf über 30% bis zum Jahr 2100 ausbauen, was auf hohe Kapitalrenditen und bereits bestehende Vermögensberge zurückzuführen ist.

Die Konzentration von Reichtum und Macht vor allem in den Händen weniger Monopole und Konzerne hat sich weiter verschärft. Eine kleine Zahl von immer größeren Konzernen übt außergewöhnlichen Einfluss auf Wirtschaft und Politik aus, drückt Löhne, übervorteilt Verbraucher und privatisiert öffentliche Güter. Die Weltbevölkerung in ärmlichen und fragilen Ländern wächst stetig, wobei allein in Subsahara-Afrika bis 2030 etwa die Hälfte der globalen Bevölkerung in extremer Armut leben wird.

Die Hauptursache für die wachsende Ungleichheit ist laut Thomas Piketty die ungleiche Verteilung von Kapital. Die Rendite aus Kapital übersteigt regelmäßig das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Einkommen, was bedeutet, dass Vermögen schneller wächst als die Arbeitseinkommen. Dies führt der Berichts-Analyse zufolge dazu, dass die Schere zwischen Vermögenden und Normalbevölkerung immer weiter auseinandergeht. Besonders die reichsten 10 % profitieren von diesem Trend: Sie erhalten 52 % des weltweiten Einkommens, während die ärmste Hälfte nur 8 % erhält. Die Studie betont, dass die Ungleichheit zwischen Ländern seit der Jahrtausendwende leicht zurückgegangen ist, während die Ungleichheit innerhalb der Länder weiter steigt. Besonders in Regionen wie Lateinamerika und dem Nahen Osten sind die Unterschiede extrem: Dort erhalten die reichsten 10 Prozent bis zu 55 bis 58 Prozent des Nationaleinkommens, während die ärmsten 50 Prozent nur 9 bis 10 Prozent erhalten. Thomas Piketty zeigt, dass diese Entwicklungen keine naturgegebenen Gesetze sind, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen, wie Steuersysteme, Bildungspolitik und die Machtverhältnisse im Kapitalismus.

Eine Erklärung zur sich verändernden Vermögensstruktur

Thomas Piketty prognostiziert, dass sich die Vermögensanteile der Top 0,1%, der mittleren 40% und der unteren 50% von heute 43% auf etwa 68% im Jahr 2100 erhöhen, während der Anteil der Top 10% ohne die Top 0,1% von 57% auf 32% sinkt. Dies deutet auf eine De-Konzentration des Vermögens hin, also eine Verringerung der Konzentration im oberen Mittelfeld. Eine ergänzende Recherche ergibt, dass die prognostizierte De-Konzentration im Vermögen kein Zeichen für eine Angleichung ist, sondern ein Beleg für eine Verschiebung der Ungleichheit: Das Vermögen wandert von der breiten Oberschicht zu den Superreichen und zur Mitte/Unten, was die gesamte Vermögensstruktur verändert.

Die De-Konzentration bedeutet demnach, dass sich das Vermögen nicht mehr so stark bei der oberen Mittelschicht (Top 10% ohne Top 0,1%) ballt, sondern zunehmend bei den Superreichen (Top 0,1%), der Mitte und den unteren Schichten konzentriert. Dieser Trend entsteht, weil die Vermögen der Superreichen durch Kapitalrenditen viel schneller wachsen als die Vermögen der breiten Bevölkerung. Gleichzeitig profitieren die mittleren und unteren Schichten – etwa durch Umverteilung, steigende Vermögen oder politische Maßnahmen – relativ stärker als die oberen 10% ohne die Top 0,1%. Thomas Piketty erklärt diese Entwicklung mit seiner "Weltformel" r > g: Die Rendite auf Vermögen (r) ist höher als das Wirtschaftswachstum (g), wodurch sich die Vermögen der Superreichen exponentiell vermehren. Dies führt dazu, dass die Vermögenskonzentration bei den Superreichen immer stärker zunimmt, während die breite Oberschicht (Top 10% ohne Top 0,1%) relativ an Bedeutung verliert. Die De-Konzentration ist also eine Folge der extremen Wachstumsraten bei den Allerreichsten und einer relativen Angleichung zwischen Mitte und unten.

Regionale Unterschiede der Einkommensentwicklung

Für das Jahr 2023 zeigt die World Inequality Database, dass die Einkommensungleichheit zwischen den Regionen erheblich variiert. In Europa besitzen die obersten 10% etwa 37% des Gesamteinkommens, im Nahen Osten vergleichsweise sogar 61%. In Ländern wie Brasilien verdienen die oberen 10 % bis zu 29-mal mehr als die unteren 50 %, in Frankreich ist das Verhältnis 7 zu 1. Die Entwicklung ist in Schwellenländern besonders dynamisch, da dort die Deregulierung der Märkte und die Öffnung für globale Kapitalströme die Ungleichheit verstärkt haben. Zwischenstaatlich ist ein gewisser Aufholprozess großer Schwellenländer – etwa in Ostasien – erkennbar, was zur Abnahme der globalen Einkommensungleichheit zwischen Ländern beiträgt. Allerdings bleiben insbesondere Subsahara-Afrika und Teile Südasiens deutlich zurück, sodass die Einkommensschere im Weltsystem strukturell bestehen bleibt und künftige Verringerungen der Ungleichheit stark von der Entwicklung dieser Regionen abhängen. Im folgenden Schaubild sind die Anteile am Nationaleinkommen nach 6 Weltregionen und nach Einkommensgruppen dargestellt.

Klimaungleichheit

Neu im Fokus des Weltungleichheitsberichts 2025 steht die Verbindung mit Klimaungleichheit. Der Bericht widmet erstmals ein eigenes Kapitel der Ungleichheit der CO2-Emissionen. Dem Climate Inequality-Report ist zu entnehmen, dass die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung nur 12% der Emissionen verursacht, trägt aber voraussichtlich 75% der relativen Einkommensverluste durch Klimaschäden. Der UN-Global Multidimensional Poverty Index (MPI) 2025 zeigt, dass weltweit 1,1 Milliarden Menschen (18,3% der untersuchten Bevölkerung) in akuter multidimensionaler Armut leben, wobei die Betroffenen vor allem in Subsahara-Afrika (49,2%) und Südasien (34,1%) konzentriert sind. Die Armut ist dabei nicht nur einkommensbasiert, sondern umfasst Defizite in Bildung, Gesundheit und Lebensstandard wie fehlende Zugänge zu sauberer Kochenergie, sanitären Einrichtungen, Elektrizität oder angemessener Ernährung. Parallel dazu weist der globale Index für mehrdimensionale Armut 2025 darauf hin, dass die in multidimensionaler Armut Lebenden erheblichen Klimarisiken ausgesetzt sind, was die sozial‑ökologische Dimension von Ungleichheit weiter verschärft.

Der Weltungleichheitsbericht macht sichtbar, wie extrem sich Einkommen und Vermögen seit 1980 zugunsten des obersten Prozents verschoben haben; aus marxistischer Sicht bestätigt er damit empirisch zentrale Thesen über Klassenspaltung, Kapitalakkumulation und die strukturelle Tendenz zur Polarisierung im Kapitalismus. Problematisch ist aus marxistischer Perspektive jedoch, dass der Bericht Ungleichheit vor allem als Verteilungsproblem behandelt und mit steuer- und regulierungspolitischen Reformvorschlägen im Rahmen des bestehenden Systems beantworten will, statt die kapitalistische Produktionsweise selbst in Frage zu stellen.

Geschlechterungleichheit

Der Bericht widmet erstmals auch ein eigenes Kapitel der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Frauen leisten weltweit einen entscheidenden Beitrag zu bezahlter wie unbezahlter Arbeit, erhalten dafür aber deutlich geringere wirtschaftliche Anerkennung. Unter Berücksichtigung der Hausarbeit arbeiten Frauen oft länger als Männer, erzielen jedoch weniger Einkommen, besitzen weniger Vermögen und bekleiden seltener Führungspositionen. Selbst steigende Bildungs- und Erwerbsquoten haben die Einkommenslücke kaum verringert. Frauen erzielen heute etwa 35 Prozent des globalen Arbeitseinkommens; in einem geschlechtergerechten System wären es 50 Prozent. In vielen Regionen zeigen sich niedrigere Erwerbsquoten und geringere Stundenlöhne, gepaart mit einem hohen Anteil an prekären, schlechter bezahlten Tätigkeiten; eine Folge der zumeist vorherrschenden kapitalistischen Produktionsstrukturen. Dem Weltungleichheitsbericht zu Folge hat sich global betrachtet die formale Wochenarbeitszeit grob auf etwa 30 bis 40 Stunden eingependelt, Regionale Unterschiede bleiben jedoch groß, nachdem in vielen Ländern des globalen Südens die tatsächlichen Wochenarbeitszeiten deutlich über denen Europas liegen. Die formalen Arbeitszeiten verschleiern, dass Frauen täglich deutlich mehr unbezahlte Sorge- und Hausarbeit leisten und dadurch im Jahresverlauf um Wochen bis Monate mehr arbeiten als Männer. Prognosen zeigen, dass Frauen auch 2050 noch spürbar mehr unbezahlte Arbeit leisten werden, sofern sich die sozial-ökonomischen Rahmenbedingungen und geschlechtsspezifische Normen nicht grundlegend ändern. Die Daten des Berichts zeigen auf, dass eine Gleichheit bei Bildung und Arbeitsmarktzugang zwischen den Geschlechtern nicht besteht.

„Die Welt ist noch weit davon entfernt, die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen.“ Thomas Piketty

Die nicht erreichte Gleichstellung ist Ausdruck tief verankerter sozialer und ökonomischer Strukturen. Unbezahlte Arbeit bleibt weitgehend außerhalb der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen und entzieht sich damit der politischen Steuerung, obwohl sie zentrale gesellschaftliche Funktionen erfüllt.

Forderungen der Autoren

Die Kernthese von Thomas Piketty lautet: Ohne gezielte politische Maßnahmen – insbesondere eine stärkere Steuerprogression, ein internationales Finanzregister und Investitionen in Bildung – wird die globale Ungleichheit weiterhin dramatisch zunehmen. Der Bericht fordert politische Maßnahmen, um die Ungleichheit zu begrenzen: Dazu gehören ein hoher Spitzensteuersatz, ein internationales Finanzregister zur Transparenz von Vermögen, Investitionen in Bildung und eine gerechtere Besteuerung von Kapital. Piketty betont, dass die wachsende Ungleichheit die Demokratie gefährdet und soziale Stabilität untergräbt. Nur durch gezielte Umverteilung und politische Reformen könne eine gerechtere, nachhaltigere Gesellschaft entstehen.

Der Weltungleichheitsreport 2025 bilanziert globale Einkommens- und Vermögensverteilung anhand umfassender Daten der World Inequality Database (WID). Ergänzt durch den Climate Inequality Report 2025 desselben Labors, verknüpft er ökonomische mit klimapolitischen Ungleichheiten. Theoretisch bestimmt der Report Ungleichheit als eine ungleich Verteilungsthematik: Das ungleiche Verhältnis von den obersten 10% gegenüber den unteren 50%“ scheint eine marxistische Klassenanalyse von Kapital vs. Lohnarbeit mit einem entsprechendem Klassenstandpunkt für politische Konsequenzen zu umgehen.  Stattdessen gehen die Autoren davon aus, dass progressive Steuersysteme die Ungleichheit wirksam reduzieren könnten. Allerdings ist in diesem Kontext darauf hinzuweisen, dass die Steuerprogression in den reichen Ländern und vielen Schwellenländern seit Beginn der Phase des neoliberalen Kapitalismus (1970) eine gegenteilige Entwicklung nahmen, indem progressive Erbschaftssteuern ausblieben und ein reformistischer Ausbau von Sozialstaats– Maßnahmen, die den Kapitalismus „effizienter und gerechter“ machen sollten, theoretisch blieben und die soziale Ungleichheitsentwicklung nicht aufgehalten haben.

Doch welche gesellschaftliche Funktion erfüllt dieser Report? Aus marxistischer Perspektive stellt sich die Frage nicht nur nach deskriptiver Genauigkeit seiner Daten – die zweifellos imposant sind –, sondern primär nach ihrer strategischen Implikation: Dient der Weltungleichheitsreport 2025 der Stabilisierung eines regulierten, „grünen“ Kapitalismus, indem er extreme Ungleichheiten als korrigierbares Verteilungsdefizit darstellt? Oder eröffnen seine empirischen Befunde Spielräume für eine Analyse jenseits kapitalistischer Vergesellschaftung, die auf Vergesellschaftung der Produktionsmittel abzielt?

Der Weltungleichheitsreport 2025 positioniert sich als eine kritische Kompetenz im Lager eines „regulierten, grünen Kapitalismus“: Er kritisiert extreme Ungleichheit, stellt aber Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz und Profitlogik nicht zur Disposition.

Die dokumentierte Konzentration folgt der Dynamik von Mehrwertaneignung, fallender Profitrate und Überakkumulation, die der Report nicht thematisiert. Besonders anzumerken ist der neu hinzugekommene Bezug zur Klimaentwicklung. Die Krise resultiert nicht primär aus individuellem Fehlverhalten einzelner Emittenten, sondern aus fossiler Kapitalverwertung – Energieinfrastruktur, Rohstoffrendite, Finanzialisierung von „grünen“ Assets. Die Finanzialisierung von „grünen“ Assets beschreibt den Prozess, bei dem nachhaltige Vermögenswerte wie ökologische Investitionen, grüne Anleihen oder nachhaltig finanzierte Projekte zunehmend als Finanzprodukte gehandelt und in das Finanzsystem integriert werden. Damit werden Umweltziele mit Kapitalströmen verknüpft, um gezielt in Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu investieren und gleichzeitig finanzielle Renditen zu erzielen. Der Report schlägt Bepreisung (CO₂-Steuern) und Kompensation vor, was den Kapitalismus lediglich „vergrünt“, ohne die Eigentumsfrage zu stellen.

Ein Fazit

Der Bericht ist ein enorm wichtiges Programm, dass außergewöhnlich viele international erhobene Daten methodisch sauber aufbereitet. Anzuzweifeln ist jedoch, ob der Report der redlichen Wissenschaftler das Wesen der Ungleichheit adäquat erfasst: Ungleichheit ist nach meinem Verständnis kein Verteilungsfehler, sondern notwendiges Resultat kapitalistischer Produktionsverhältnisse: Mehrwertaneignung, fallende Profitrate und Überakkumulation, die der Report nicht thematisiert. Und somit wird die wachsende Ungleichheit nicht als systemimmanentes Ergebnis des Kapitalismus, eher als individualisiertes Ergebnis des existierenden Wirtschaftssystems gesehen. Die Ausbeutung von Arbeit durch Kapital führt systematisch zu einer Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen der besitzenden und herrschenden Klasse. Die kapitalistische Produktionsweise produziert massive Ungleichheit, Reichtum in den Händen weniger, Armut für eine zunehmende Mehrheit. Reformansätze, wofür der Weltungleichheitsbericht plädiert, wie etwa höhere Steuern oder Regulierung von Konzernen greifen zu kurz, weil sie die grundlegenden Klassenverhältnisse nicht verändern.

Die empirisch belegte Vermögenskonzentration rechtfertigt die Vergesellschaftung zentraler Sektoren: Energie, Finanzwesen, Plattformen, Industrie (z. B. Auto-, Tech-Konzerne). Emissionsdaten fordern demokratisch geplante Investitionen: Öffentliche Energie- und Verkehrswende statt einem marktbasiertem Green New Deal.

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Quellen:

https://wid.world/news-article/world-inequality-report-2026-coming-out-soon/?ref=surplusmagazin.de

World Inequality Lab: World Inequality Report 2022

World Inequality Database, Report 2025: https://wid.world/

Oxfam: „Takers not Makers“ – Weltungleichheitsbericht 2025, deutschsprachige Adaption „Milliardärsmacht beschränken, Demokratie schützen“.

https://wid.world/www-site/uploads/2025/10/Climate_Inequality_Report_2025_Final.pdf

Surplusmagazin: Pikettys Weltungleichheitsbericht, 2025.

UNDP: Global Multidimensional Poverty Index 2025: https://hdr.undp.org/content/2025-global-multidimensional-poverty-index-mpi#/indicies/MPI

World Bank: Poverty and Inequality Update – Fall 2025.

2030 Agenda: World Inequality Report 2022.

Spiegel: Was im neuen Report von Thomas Piketty steht, 2025

COP30 in Belém: Fossile Lobby setzt sich durch. Es braucht eine grundsätzlich andere Verhandlungs-Methode.

Mo, 01/12/2025 - 10:50

Nach den Klimakonferenzen der letzten beiden Jahre in den Ölstaaten Aserbaidschan (Baku 2024, COP 29) und in den Vereinigten Arabischen Emiraten (Dubai 2023, COP 28) (1) und davor in Ägypten (Sharm El-Sheikh 2022, COP 27) (2) bin ich schon froh, dass die Weltklimakonferenz COP 30 diesmal zumindest in einem Land wie Brasilien stattfand, dessen Präsident, Luiz Inácio Lula da Silva, immerhin mehr Ambitionen hatte, ein vernünftiges Ergebnis für die weltweite Klimapolitik zu erzielen als absurderweise Ölscheichs, deren obszöner Reichtum genau darauf gründet, dass fossile Rohstoffe gefördert und weltweit verkauft und verfeuert werden.

Lula da Silva hat gleich zu Beginn der Konferenz davon gesprochen, dass dies eine „Konferenz der Wahrheit“ werde. Leider müssen wir nun, am Ende der Konferenz feststellen, dass die Wahrheit der internationalen Klimapolitik darin besteht, dass trotz der höheren Dringlichkeit durch weitere in 2024 gestiegene Treibhausgas-Emissionen noch nicht einmal eine minimale Einigung in wesentlichen Punkten einer internationalen Klimapolitik gegen den drohenden Klimawandel erreicht wurde.

Keine „Road-Map“ zur Konkretisierung des Ausstiegs aus Kohle, Öl und Gas

Obwohl Lula da Silva schon zu Beginn der Konferenz seine ganze persönliche Autorität in die Waagschale gelegt hatte und eine solche Roadmap vorgeschlagen und darum geworben hatte, dass es einer solchen Konkretisierung und Bekräftigung des Ausstiegs aus Kohle, Öl und Gas bedürfe und obwohl 14 Tage lang darum gerungen und diskutiert wurde, gab es am Ende noch nicht einmal eine verbale Erwähnung der Worte Kohle, Öl und Gas als Hauptverantwortliche des vom Menschen verursachten Treibhauseffektes in der Atmosphäre und damit der bedrohlich sich permanent verschlimmernden globalen Klimaerwärmung.

Etliche Staaten engagierten sich nicht genug dafür und andere Staaten, vor allem die Golfstaaten, an erster Stelle Saudi-Arabien, kämpften mit ganzer Kraft dagegen. Immerhin gehörte Deutschland zu den Staaten, die sich für Lulas Plan einsetzten. Auch Umweltminister Carsten Schneider (SPD) war lt. SZ enttäuscht. Er stellte fest: „Wir waren konfrontiert mit einer sehr stark auftretenden Petroindustrie“. (3) Dass sich jedoch auch schon Mitglieder der Ampel-Regierung vor Ölscheichs verbeugt haben (s. Robert Habeck am 21.3.2021 vor Katars Handelsminister Scheich Mohammed bin Hamad Al Thani) (4) zeigt die Widersprüchlichkeit auch von grüner Partei und SPD in heutigen Zeiten.

Die fossile Industrie war nicht nur anwesend, sondern überproportional präsent, bestens organisiert und gezielt darauf vorbereitet, klare Formulierungen zu verhindern, die langfristig ihre Geschäftsmodelle infrage stellen könnten. Gleichzeitig waren viele Delegationen aus besonders bedrohten Regionen – Inselstaaten, afrikanischen Ländern, Teilen Asiens – finanziell und logistisch deutlich schwächer aufgestellt.

Der Klimagipfel in Belém war also kein Schritt in Richtung fossilfreie Zukunft, sondern ein deutliches Zeichen dafür, wie hart die Auseinandersetzung um die Klimazukunft geworden ist. Die fossile Lobby hat diesen Gipfel mitbestimmt – aber das darf sich nicht in die Zukunft fortsetzen.

Auch die bei vielen COPs schon aufgeworfenen Finanzierungsfragen wurden lange diskutiert, aber fast nichts wurde sinnvoll entschieden.

Die schon 2009 in Kopenhagen von den reichen Industrieländern versprochenen 100 Mrd. Dollar/Jahr ab 2020 für einen Klimafonds zur Bekämpfung des Klimawandels auch im globalen Süden sind bis heute bei weitem nicht eingelöst. So ist das Vertrauen zwischen dem globalen Süden in Versprechungen des globalen Nordens schon seit längerem gründlich verspielt.

Bei der COP29 in Baku im Jahr 2024 wurden wieder einmal Versprechungen von den reichen Ländern gemacht: Bis 2035 kündigten sie an, die Hilfen auf 300 Mrd Dollar/Jahr anwachsen zu lassen, allerdings auch wieder nicht nur öffentliche Mittel als Zuschüsse, sondern überwiegend Kredite, insbesondere auch private.

In der Finanzdiskussion in Belem wurde vor allem auch das Thema Hilfsgelder für Anpassungsmaßnahmen angesprochen. Also Hilfen für ärmere Staaten um sich überhaupt etwas besser auf Überschwemmungen, Dürren, steigende Meeresspiegel oder Extremwetter-Katastrophen vorbereiten und evtl. daran anpassen zu können.

Die merkwürdige „Einigung“ sah so aus, dass sich die Mittel dafür verdreifachen sollen, es wurde aber nicht gesagt in welchem Zeitraum und in Bezug auf welche Basissumme diese Aussage gilt. Außerdem sollen die Gelder aus dem selben Finanzrahmen kommen, der in Baku für Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels versprochen wurde. Das Geld wurde also nicht aufgestockt, sondern nur anders verteilt, d.h. wenn mehr Geld in Anpassungsmaßnahmen fließen soll, dann gibt es weniger für den Umstieg auf klimafreundliche Technologien. Dies sind keine vernünftigen Beschlüsse, sondern lediglich ein Verschieben von einem Unterthema zu einem anderen.

Notwendigkeit einer grundsätzlich neuen Methodik bei zukünftigen internationalen Klimaver­handlungen

Aus dem eben gesagten folgt, dass es inzwischen unabdingbar notwendig ist, zu einer grundsätzlich neuen Methodik bei zukünftigen internationalen Klimaverhandlungen zu kommen, um die Klimakrise noch zu bewältigen.

Die ergebnisnegierenden und oft relativ unverbindlichen Diskussionen bei den bisherigen COPs müssen beendet werden und durch mehr verbindliche Beschlüsse in Richtung Bekämpfung des Klimawandels und Verbesserung der Adaptation ersetzt werden, am Ende auch mit Strafbewehrung bei Nichteinhalten der Beschlüsse. Die z.T. sogar direkt kontraproduktiven Diskussionen von eindeutig fossilistischen Lobbyisten müssen verboten werden.

Eine derartige Forderung wurde im isw schon vor vier Jahren, nach der Klimakonferenz COP26 von Glasgow erhoben. (5) Inzwischen hat sich aber die Situation des Klimawandels derart weiter verschlimmert, andererseits haben ausgesprochene Leugner bzw. Skeptiker des menschengemach­ten Klimawandels ganze Regierungen von großen Staaten übernommen, so dass die fossilistische Ideologie auf großer Front auf dem Vormarsch ist und ein regelrechtes „Roll Back“ veranstalten kann.

Die oft allgemeinen und unverbindlichen Diskussionen müssen ersetzt werden durch konkrete Vereinbarungen auf der Grundlage von transparenten Berechnungen für Finanztransfers von Staaten, die ihr zustehendes CO2-Budget schon seit Jahren überzogen haben.

Um solche Berechnungen gerecht durchzuführen, liegen alle Fakten transparent auf dem Tisch:

  • Zum einen aus der Klima-Wissenschaft: Das sich für den ganzen Planeten ergebende CO2-Restbudget ab 1990, das noch vereinbar war mit dem 1,5°C-Ziel von Paris (Das Jahr 1990 ist hier bewusst gesetzt, weil in diesem Jahr der 1. IPCC-Bericht erschienen ist. Er sagt, dass die drohende Erd-Erwärmung eindeutig auf anthropogene Ursachen zurückgeht).
  • Zum anderen die bekannten CO2-Emissionen der einzelnen Staaten seit 1990 bis zum Jahr der Überschreitung des jedem einzelnen Staat zustehenden CO2-Budgets durch ihre konkreten, jeweiligen CO2-Emissionen.

Ab diesem leicht zu ermittelnden Zeitpunkt emittiert jeder dieser Staaten jede Tonne CO2 komplett auf Kosten all der großen Mehrzahl der anderen Staaten, die ihr CO2-Budget noch nicht ausgeschöpft haben. D.h. solche Staaten sollten als Klimaschuldner geführt werden. Ihre Klimaschulden in Gigatonnen (Gt) CO2 sind mit einem gemeinsam zu vereinbarenden internationalen CO2-Ausgleichspreis sofort direkt umrechenbar in Klimaschulden in Dollar.

Bis heute werden bei den Klima-Konferenzen solche verbindlichen Berechnungen durch die reichen kapitalistischen Industrie-Länder und durch die Ölstaaten schon im Ansatz abgeblockt und komplett verhindert.

Leider verhalten sich auch die ärmeren Staaten des globalen Südens viel zu oft zu ängstlich, zu ruhig und unorganisiert, um solche Diskussionen und faktenbasierte Finanzberechnungsmethoden auf die Tagesordnung zu setzen und um überhaupt eine andere Art bzw. Methode der Konferenzen mit mehr Verbindlichkeit und Mehrheitsentscheidungen durchzusetzen.

Es wäre also nötig, diese Fakten gemäß der Wissenschaft anzuerkennen. Es sollte aber dann nicht nur bei wortreichen blumigen Erklärungen bleiben, indem z.B. die Überziehungsländer großmütig zugeben, in der Vergangenheit gesündigt zu haben, nun aber Verantwortung durch freiwillige milde finanzielle Gaben bei evtl. Klimakatastrophen und Hilfsaktionen übernehmen wollen und ihre Finanzmärkte mit den internationalen Finanzinstituten und Versicherungen ermuntern wollen, nun in „grüne“ Geschäfte einzusteigen.

Übrigens war die Zahl der Lobbyisten der globalen fossilen und Finanz-Industrie wieder die stärkste Gruppe auf der COP30, stärker als die größte Regierungsdelegation (außer Brasilien selbst).

Es sollte also eine Methode vereinbart werden, wie sich aus diesen Klimafakten transparent nachvollziehbare Berechnungen von Klimaschulden ergeben. Nach der Vereinbarung eines internationalen -Ausgleichspreises (z.B. 60 Dollar pro t CO2) sollten solche transparent nachvollziehbaren Reparationszahlungen wie sonstige Schulden völkerrechtlich verbindlich geregelt werden. D.h. die Zahlungen wären dann in Zukunft keine kleine, freiwillige milde Gabe, sondern eine aus der vergangenen und immer noch laufenden Überziehung des CO2-Budgets resultierende verbindliche Klima-Schuld-Verpflichtung. (6)

Für diese Zahlungen wäre ein UN-Klimafonds zu schaffen, der in demokratischer, völkerrechtlich korrekter und transparenter Weise über die Verteilung der Finanzen an arme Länder des globalen Südens für konkrete Transformations-, Anpassungs- und Reparatur-Projekte (Loss and Damage) wacht.

Die bis 2020 berechneten Daten sehen folgendermaßen aus:

  • So hätten die USA eine bis 2020 akkumulierte Klimaschuld von insgesamt ca. 7 Bill. Dollar und eine jährliche Klimaschuld von ca. 270 Mrd. Dollar zu begleichen.
  • Die entsprechenden Werte für Deutschland lauten: seit 2005 bis 2020 akkumuliert: ca. 790 Mrd. Dollar und jährlich ca. 38 Mrd. Dollar.
  • Insgesamt in Summe für alle Schuldnerländer würde das Volumen eines solcherart gefüllten Klima-Reparations-Fonds akkumuliert ca. 16 Bill. Dollar und jährlich ca. 900 Mrd. Dollar umfassen.

Ein anderer Kritikpunkt an der Methode der Klimaverhandlungen ist das Prinzip der Freiwilligkeit und Unverbindlichkeit. Angesichts der Klima-Notstandsituation auf der Erde sollte es nicht mehr zulässig sein, dass nach dem Einstimmigkeitsprinzip ein Staat einen vernünftigen Mehrheitsbeschluss blockieren kann. Inzwischen sollte es darum gehen, dass effektive Klima-Maßnahmen mit Mehrheit global durchgesetzt und nicht durch einige wenige Staaten (z.B. die Ölstaaten) blockiert werden können.

Die COP30 ist ein Spiegel der globalen Kräfteverhältnisse: Die Welt steuert auf eine sehr gefährliche Erwärmung zu – und gleichzeitig schafft es die sog. “Staatengemeinschaft“ nicht, die Industrie zur Verantwortung zu ziehen, die historisch und aktuell am stärksten zur Krise beiträgt.

Das Ergebnis in Belém zeigt, wie dringend sofort neue Governance-Strukturen, klare Regeln für Lobby-Transparenz/-Beschränkung und stärkere Stimmen der Zivilgesellschaft sind. Am Ende ist wohl nur nach der Überwindung des globalen kapitalistischen Systems eine wirkliche Lösung des Klimaproblems und generell der Umweltkrise zu erreichen.

Regenwaldfonds, Tropical Forests Forever Facility (TFFF), wurde von Präsident Lula vorge­schlagen und gefördert.

Die Tropical Forests Forever Facility (TFFF) soll den Schutz von Wäldern in ein dauerhaftes “Geschäftsmodell“ überführen: Länder, die ihre Wälder erhalten, sollen dafür bezahlt werden. Länder, deren Wälder verschwinden, sollen in den Fonds Strafe zahlen.

Für diesen Fonds sollen lt. Brasiliens Wunsch am Ende rund 125 Milliarden Dollar Gesamtkapital zusammenkommen – aus öffentlichen wie privaten Geldern, die am Finanzmarkt angelegt werden. Der Fonds soll mit 25 Milliarden Dollar starten. Einige Länder, u.a. Brasilien, Indonesien und Norwegen, auch Deutschland, haben bislang fast sieben Milliarden Euro für den Fonds zugesagt. Dieses Geld dient als Sicherheit. Es soll mögliche Verluste abfangen und Vertrauen schaffen. Auf dieser Grundlage will Brasilien weitere 100 Milliarden Dollar von privaten Investoren gewinnen, zum Beispiel von Pensionsfonds, Banken oder großen Unternehmen. Auch Strafzahlungen von Staaten sollen in den Fonds einfließen, Zahlungen sollen daraus finanziert werden; zur Kontrolle sollen Satellitenbilder eingesetzt werden.

Die Weltbank soll als Treuhänderin fungieren und das vorläufige Sekretariat des Fonds beherbergen. Für viele tropische Länder wäre der Fonds eine neue Einnahmequelle. Gerade die sehr waldreichen Länder Brasilien, Indonesien und die Demokratische Republik Kongo könnten zumindest theoretisch jeweils Hunderte Millionen Dollar jährlich aus dem Fonds erhalten, wenn sie die Waldzerstörung vollständig stoppen.

Teilnahmeberechtigt sollen 74 Länder in Afrika, Asien und Südamerika sein, die gemeinsam über eine Milliarde Hektar tropischer und subtropischer Wälder umfassen. Nur Länder mit einer Entwaldungsrate von unter 0,5 Prozent sollen profitieren. Außerdem müssen sie 20 Prozent der Mittel an indigene und traditionelle Gemeinschaften weitergeben – jene Gruppen, die nachweislich den geringsten Anteil an der Abholzung haben.

Ein zentrales Versprechen des TFFF lautet: Geld für den Waldschutz darf nicht am Ende doch in fossile Projekte fließen. Doch genau das muss der Fonds erst noch absichern. Zwar soll es eine sogenannte „Exclusion List“ geben – eine Liste von Branchen und Firmen, in die nicht investiert werden darf, etwa Kohle, Öl, Gas oder Unternehmen, die direkt zur Abholzung beitragen. Aber bislang existierten nur Grundsätze, keine detaillierten Ausschlussregeln.

Kritische Aspekte kommen z.B. von der Global Forest Coalition (GFC), einem internationalen Bündnis von Umweltorganisationen, indigenen Gruppen und Basisinitiativen: Wälder könnten zu “Finanzprodukten“ gemacht werden, die nach Rendite statt nach ökologischen Zielen bewertet werden. Der Fonds biete außerdem indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften nur eine symbolische Rolle, während Regierungen und Finanzinstitutionen die Kontrolle behalten würden. Die GFC fordert stattdessen direkte Finanzhilfen für indigene Gemeinschaften, verbindliche Schutzmechanismen und ein Ende der „Finanzialisierung der Natur“. Positive Stimmen betonen die Chance, dass durch den Fonds die Abholzung ernsthaft beenden werden kann.

Weitere Bemerkugen zur Klimakonferenz:

Einen konkreten allgemeinen «Waldaktionsplan», um die Zerstörung von Wald einzudämmen, beschloss die Konferenz nicht. Es wurde lediglich an einen früheren Beschluss erinnert, die Entwaldung bis 2030 zu stoppen.

Immerhin wurde im Rahmen der regionalen „Kongobecken-Waldpartnerschaft“ der "Belém Call to Action for the Congo Basin Forests" verabschiedet. Darin verpflichten sich die Länder des Kongowaldbeckens, gemeinsam mit internationalen Partnern (auch Deutschland) bis 2030 eine Umkehr der Entwaldungstrends ihrer Region sicherzustellen.

Korea, der Staat mit dem siebtgrößten Kohlekraftwerkspark der Welt, ist auf der COP30 der Powering Past Coal Alliance (PPCA) beigetreten und hat verkündet, zwei Drittel der bestehenden Kohlekraftwerke bis 2040 stillzulegen und für die übrigen im kommenden Jahr einen Ausstiegsfahrplan festzulegen.

Weltweit nimmt die Bepreisung von klimaschädlichem CO2 zu. So gibt es inzwischen mindestens 38 Länder mit Emissionshandelssystemen, weitere 20 Länder bereiten deren Einführung vor. Brasilien kündigte die Gründung einer "Open Coalition for Compliance Carbon Markets" an und unterstreicht damit die Rolle von CO2-Bepreisung als ein Instrument für die globale Dekarbonisierung.

China ist für ca. 30% der globalen fossilen CO2-Emissionen verantwortlich, liegt jedoch beim Pro-Kopf-Verbrauch an fossilen CO2-Emissionen etwa gleichauf mit Japan bei ca. 8 t CO2/Jahr pro Kopf und bei ca. 58% des Wertes der USA, aber über dem Wert der EU.  Die absoluten CO2-Emissionen stagnieren immerhin seit 18 Monaten oder fallen. 2025 könnte das erste Jahr sein, in dem die CO2-Emissionen zurückgehen, trotz Wirtschaftswachstum und steigender Stromnachfrage. Der Präsident der COP30, André Corrêa do Lago lobte China für seine Fortschritte im Bereich grüner Technologien: "China entwickelt Lösungen, die für alle gelten, nicht nur für China". Chinas Investitionen in Solar- und Windkraft treiben die Energiewende weltweit an.

Ein genereller Kritikpunkt – wie bei jeder COP-Klimakonferenz bisher: Das Militär wurde wie immer aus der Konferenz ausgeklammert.

Immerhin hat Präsident Lula das Thema Militarisierung bei der Eröffnung angesprochen: "Wenn wir doppelt so viel für Waffen ausgeben wie für Klimaschutzmaßnahmen, ebnen wir den Weg für die Klimaapokalypse." Aber in der Konferenz wurde das Thema wie immer nicht behandelt. Dabei stehen sich natürlich Rüstung und Klimaschutz im doppelten Sinn diametral gegenüber:

  • Zum einen sind die Militärausgaben – sie erreichten in 2024 weltweit den absurden Wert von 2,7 Bill. Dollar – selbst schon eine irrsinnige Verschwendung, die natürlich an jeder anderen Stelle fehlt. Wenn diese Unsummen in Beziehung gesetzt werden zu den o.g. Geldern, die für den Klimaschutz oder Anpassung diskutiert werden, dann erkennt man, dass für Rüstung unglaublich viel mehr Geld ausgegeben wird als für den Kampf gegen die globale Umweltzerstörung und Klimaerwärmung.
  • Zum anderen zerstört Militär nicht nur im Krieg direkt menschliches Leben und die Natur und das Klima, sondern es zerstört auch im sog. „Frieden“ bei Übungen und beim Bau der Waffen und Anlagen das Klima durch seine permanenten Treibhausgasemissionen. Nach groben Schätzungen betragen die gesamten Klima-Emissionen durch das Militär ca. 5-6% aller Treibhausgas-Emissionen auf der Erde.
In Belem spielte die Zivilgesellschaft wieder eine wesentlich größere Rolle als bei den Klimakonferenzen der letzten 3 Jahre.

Anders als bei vorherigen COP-Konferenzen in autoritären Staaten wie Aserbaidschan, Vereinigte Arabische Emirate oder Ägypten regte sich draußen im Zentrum der Millionenstadt Belem viel Protest. Ein Höhepunkt war ein mehrtägiger « Peoples Summit » mit 24.000 Teilnehmern aus über 800 zivilgesellschaftlichen und indigenen Organisationen hauptsächlich aus Brasilien und Lateinamerika auf dem Gelände der UFPA-Uni. (7) Es wurde eine Abschlusserklärung (8) verabschiedet, in der eine viel konsequentere Klimapolitik, Landrechte, historische Reparationszahlungen und eine größere Beteiligung der Zivilgesellschaft und indigener Gruppen bei der offiziellen COP gefordert wurden. Neben dem Kampf für eine gerechte Transformation wurde auch der Kampf gegen rechte Gruppierungen verankert, die sich als Leugner des anthropogenen Klimawandels und Gegner der Demokratie gezeigt haben.

Ein weiterer Höhepunkt war zur Halbzeit der Konferenz ein riesiger, bunter “Marsch fürs Klima“ von Siebzigtausend für mehr effektiven Klimaschutz. Unterschiedliche Karavanen der brasilianischen Bewegungen kamen zu Wasser und auf dem Landweg nach Belém. Indigene und andere Aktivisten belagerten im Kampf um mehr Mitsprache und Landrechte mehrfach das Gelände der Konferenz, einmal stürmten sie sogar die Eingangshalle der eigentlich stark gesicherten COP-Zeltstadt.

Zentrale Themen beim Summit waren die internationale Solidarität gegen Ungleichheit und Umweltrassismus sowie der Kampf gegen Straffreiheit von Unternehmen und falsche Klimalösungen, die eher Lebensgrundlagen zerstören, statt sie zu erhalten. Das Recht auf Nahrung, die Ernährungssouveränität und die aktive Einbeziehung der Betroffenen in die Lösungsfindung sollten zentrale Hebel für wirksamen Klimaschutz und die globalen Nachhaltigkeitsziele sein.

Ein ungezügelter Kapitalismus und die Kommerzialisierung der Natur stehen einer wirksamen Lösung der Klimakrise unversöhnlich gegenüber.

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Quellen:

(1) H. Selinger, 1-2024:  Absurdistan:  Die Weltklimakonferenz COP28 in der Ölhauptstadt Dubai unter der Leitung eines Öl-Managers. Ein ergänzender Kommentar: https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5188-absurdistan-die-weltklimakonferenz-cop28-in-der-oelhauptstadt-dubai-unter-der-leitung-eines-oel-managers-ein-ergaenzender-kommentar?highlight=WyJzZWxpbmdlciJd

(2) H. Selinger, 12-2022: Klimagipfel COP27 in Sharm El-Sheikh: internationale Klimapolitik braucht prinzipielle Neuausrichtung: https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/4970-69klimagipfel-cop27-in-sharm-el-sheikh-internationale-klimapolitik-braucht-prinzipielle-neuausrichtung?highlight=WyJzZWxpbmdlciJd

(3) Süddeutsche Zeitung (SZ) v. 24.11.2025, S. 7

(4) Handelsblatt v. 21.3.2022

(5) H. Selinger 11-2021 „Verlauf von Glasgow-Konferenz zeigt: Völlig andere Art Klimakonferenz nötig für Bewältigung der Klimakrise“: https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/4304-3verlauf-von-glasgow-konferenz-zeigt-voellig-andere-art-klimakonferenz-noetig-fuer-bewaeltigung-der-klimakrise

(6) H.Selinger 2015 Transform! Europe Paying climate debts for global climate justice: https://transform-network.net/blog/article/paying-climate-debts-for-global-climate-justice

(7) https://cupuladospovoscop30.org/en

(8) https://cupuladospovoscop30.org/en/final-declaration

Strukturwandel und Beschäftigungsrückgang in zentralen deutschen Industriebranchen

Mo, 01/12/2025 - 10:20

1. Aktuelle Lage und Entwicklungslinien

Die Beschäftigungssituation im deutschen verarbeitenden Gewerbe hat sich im Jahr 2025 deutlich verschärft. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes, Destatis ist vor allem die Automobilindustrie von einem überdurchschnittlichen Beschäftigungsabbau betroffen.

Zum Ende des dritten Quartals 2025 waren in dieser Branche rund 48.700 Personen weniger beschäftigt als im Vorjahreszeitraum, was einem Rückgang von 6,3 Prozent entspricht. Damit verzeichnet die Branche den stärksten prozentualen Beschäftigtenrückgang innerhalb der großen industriellen Sektoren Deutschlands. Mit insgesamt 721.400 Beschäftigten erreicht die Branche den niedrigsten Stand seit dem zweiten Quartal 2011.

Nach dem Maschinenbau bleibt die Automobilindustrie trotz des Rückgangs weiterhin der zweitgrößte Industriezweig Deutschlands. Der Stellenabbau in der Automobilbranche verweist auf tiefgreifende Transformationsprozesse innerhalb der existierenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

2. Differenzierte Betroffenheit innerhalb der Automobilbranche

Innerhalb der Automobilindustrie zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen Herstellern und Zulieferbetrieben. Nach Branchendaten des Statistischen Bundesamts verringerte sich die Beschäftigtenzahl im Bereich der Herstellung von Kraftwagen und -motoren um 3,8 Prozent auf 446.800 Personen. In den Zulieferbereichen fällt der Rückgang jedoch deutlich stärker aus: Die Produktion von Karosserien, Aufbauten und Anhängern verzeichnet ein Minus von 4,0 Prozent, während im größten Zuliefersegment – der Herstellung von Teilen und Zubehör – der Beschäftigungsrückgang 11,1 Prozent erreichte. Dies entspricht einer Verringerung auf etwa 235.400 Beschäftigte.

Der höhere Beschäftigungsabbau bei Zulieferern ist auf verschiedene Faktoren zurückführen: Zum einen erfolgt die Elektrifizierung der Antriebssysteme mit einer deutlichen Reduktion mechanischer Komponenten, wodurch der Bedarf an traditionellen Teilen (z. B. Verbrennungsmotoren, Getrieben, Abgassystemen) sinkt. Zum anderen stehen viele mittelständische Zulieferunternehmen vor der Herausforderung, ihre Produktportfolios und Produktionsprozesse an neue technologische Anforderungen anzupassen, wofür oft Kapital- und Innovationsressourcen fehlen bzw. aus Gründen der wirtschaftlichen Unsicherheit Investitionen ausbleiben.

3. Ursachen für den Beschäftigungsrückgang

Die Ursachen für die Beschäftigungsverluste in der deutschen Industrie lassen zunächst in einen makroökonomischen, technologischen und standortpolitischen Kontext einordnen:

Technologischer Strukturwandel: Der Übergang von Verbrennungsmotor zu elektrischen und hybriden Antrieben führt zu einer erheblichen Verringerung des Arbeitskräftebedarfs in der Fahrzeugproduktion. Elektrofahrzeuge benötigen weniger Komponenten und erfordern andere Fertigungstechnologien, wodurch bestimmte Qualifikationen obsolet werden. Zum Vergleich: ein Dieselaggregat besteht aus ca.1.400 Teilen, währen ein E-Motor aus ca. 200 Teilen besteht.

Aber die grundsätzliche Ursache des Stellenabbaus ist, dass unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen die Kapitalanhäufung durch die Einführung von technologischem Fortschritt vorangetrieben wird, was prinzipiell zu einer Reduktion der notwendigen Arbeitskräfte führt. Der technologische Wandel in der Automobilindustrie, der durch den Übergang zur Elektromobilität und Digitalisierung geprägt ist, entspricht diesem Prinzip. Die verstärkte Automatisierung und Automatisierungstechnologien führen dazu, dass weniger Arbeiter für die gleiche Produktion benötigt werden, was zwangsläufig zu einem Stellenabbau führt. Der Stellenabbau ist somit als ein Ergebnis der Widersprüche im kapitalistischen Produktionsprozess zu werten. Die systemimmanente und zwangsläufig gewollte Steigerung der Profitabilität und Automatisierung kapitalistischer Unternehmen führen zu einer Überakkumulation an Kapital und zu Überproduktion. Dies erzeugt eine Krise, die sich in Massenarbeitslosigkeit manifestiert, da die Arbeitskraft als Produktionsfaktor immer weiter entwertet wird. Der Stellenabbau ist also kein Zufall, sondern ein notwendiges Ergebnis der systeminternen Dynamiken.

Hinzu kommt, dass die zunehmende Konkurrenz durch chinesische Hersteller, die kostengünstig und technologisch innovativ im Segment der Elektromobilität auftreten, hat die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produzenten empfindlich geschwächt. In den letzten Jahren konnten chinesische Anbieter ihren Marktanteil in Europa signifikant steigern, was insbesondere die Nachfrage nach deutschen Fahrzeugen reduziert hat.

Handelskonflikte, fragile Lieferketten und eine gesunkene Konsumnachfrage in Europa im Zuge der wirtschaftlichen Abkühlung bis hin zur gegebenen Rezession in Deutschland 2024/25 beeinflussen die Industrieproduktion negativ. Gleichzeitig belasten die durch politisches Fehlverhalten gestiegene Energiepreise die Kostenstruktur energieintensiver Industrien in Deutschland, was die führenden Automobil-Unternehmen aus deren Kapital-Sicht zu Einsparungen zwingt.

Vergleich mit anderen Industriebranchen

Im Vergleich zu anderen Industriezweigen ist die Automobilindustrie aufgrund ihrer hohen Verflechtung mit nachgelagerten Branchen von besonderer gesamtwirtschaftlicher Relevanz. Jeder Arbeitsplatz in der Automobilindustrie ist direkt oder indirekt mit etwa sieben weiteren verbunden. Entsprechend zieht der Abbau in diesem Sektor Arbeitsplatzverluste und Strukturanpassungen in angegliederten Bereichen nach sich.

Auch in anderen industriellen Teilsektoren zeigen sich rückläufige Beschäftigungsentwicklungen, allerdings nicht in gleichem Ausmaß. Der Maschinenbau, die chemische Industrie und die Elektrobranche verzeichneten bis zum dritten Quartal 2025 Beschäftigungsrückgänge zwischen 1,5 und 2,5 Prozent. Diese Sektoren sind insbesondere betroffen von dem Nachfragerückgang aus wichtigen Exportmärkten, etwa China und den USA. Besonders stark betroffen ist der Maschinen- und Anlagenbau, der stark exportorientiert ist und empfindlich auf protektionistische Maßnahmen reagiert.

Langfristig könnte eine Stabilisierung der industriellen Beschäftigung in Deutschland durch eine entschlossene Umsetzung der ökologischen und digitalen Transformation erreicht werden. Dazu zählen, beispielhaft erwähnt, eine Diversifizierung der Produktportfolios hin zu Elektromobilitätskomponenten, möglicherweise eine annähernd konkurrenzfähige Batterieproduktion und Softwareintegration; In jedem Fall wären Qualifikationsoffensiven zur Umschulung von Arbeitskräften in Bereichen wie Elektrotechnik, IT und nachhaltiger Produktion; Investitionen in Forschung und Entwicklung zur Stärkung der Innovationskraft kleiner und mittlerer Zulieferbetriebe von wirtschaftlichem Vorteil. Diese Maßnahmen können im Rahmen der existierenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse einen Strukturwandel abfedern, ersetzen jedoch nicht die jetzt wegfallenden Arbeitsplätze.

Fazit

Der aktuelle Stellenabbau in der deutschen Industrie ist kein zufälliges oder rein technisches Phänomen, sondern eine systemimmanente Folge des Kapitalismus. Insbesondere ist der Stellenabbau in der Automobilindustrie Ausdruck struktureller Anpassungsprozesse, die mit der Digitalisierung, Dekarbonisierung und geopolitischen Umbrüchen einhergehen. Er ist Ausdruck der Tendenz zur Automatisierung, des Widerspruchs zwischen der Konzentration von Kapital und der Produktivitätssteigerung sowie der Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems, die durch Überakkumulation und Überproduktion gekennzeichnet ist. Die deutsche Industrie befindet sich in einer Phase der Auswirkungen anhaltender Rezession.  Während kurzfristig Beschäftigungsverluste unvermeidlich erscheinen, bietet eine gezielte Industriepolitik langfristig Chancen für eine nachhaltigere und innovationsorientierte Industriestruktur.  Dazu gehörten grundsätzlicher Art, die Produktion an gesellschaftlichen Bedürfnissen (Wohnen, Gesundheit, Mobilität, ökologische Reproduktion) auszurichten. Zudem sind die zentraler Bereiche Energie, Verkehr, Grundstoffindustrie, digitale Infrastrukturen dem Markt zu entziehen und einer demokratischen Kontrolle durch gesellschaftliche Organisationen zuzuführen. Voraussetzung dafür wäre ein schlüssiges, an den arbeitenden Menschen ausgerichtetes politisch-ökonomisches Rahmenkonzept erforderlich, das Investitionen, Weiterbildung und technologische Entwicklung fördert.

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Quellen

Bardt, H., & Lichtblau, K. (2023). Digitalisierung und industrielle Produktion in Deutschland. Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Köln.

Bratzel, S. (2025). Elektromobilität und globale Konkurrenz: Neue Spielregeln in der Automobilindustrie. Center of Automotive Management, Bergisch Gladbach.

Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) (2025). Transformation der Automobilindustrie: Jahresbericht 2025. Berlin.

https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5384-wirtschaftliche-stagnation-in-deutschland

https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5357-auto-hersteller-und-zulieferer-ruestungsgeschaeft-als-geschaeftserweiterung?highlight=WyJzdGVsbGVuYWJiYXUiXQ==

https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5380-vertrauenskrise-des-kapitalismus-in-deutschland-doch-wem-nuetzt-es

Destatis (2025a). Beschäftigte im Verarbeitenden Gewerbe, 3. Quartal 2025. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden.

Destatis (2025b). Produzierendes Gewerbe: Detaillierte Branchenergebnisse. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden.

ifo Institut (2024). Beschäftigungseffekte in der Automobilindustrie: Input-Output-Analyse. München.

OECD (2025). Economic Outlook 2025/2: Germany. Paris.

https://de.statista.com/infografik/35513/veraenderung-der-anzahl-der-beschaeftigten-in-ausgewaehlten-industriebranchen/?lid=wi9d2gvmlzzz

Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) (2025). Konjunkturbericht Maschinenbau, 3. Quartal 2025. Frankfurt am Main.

Stehen wir politisch am gleichen Punkt wie 1933?

Mo, 01/12/2025 - 10:12

Vortrag in Bayreuth auf den 20. Bayreuther Gesprächen im Wilhelm-Leuschner-Zentrum am 30. September 2025 in Kooperation mit dem DGB-Oberfranken

„Wir lernen aus der Geschichte, dass wir nichts lernen.“

Mit dieser Erfahrung meiner Frau, die mehr als vierzig Jahre an zwei Gymnasien Geschichte unterrichtet hat, will ich nicht provozieren, sondern auf das grundsätzlich fragwürdige von historischen Vergleichen aufmerksam machen. Mit Recht betont der Historiker Martin Sabrow die Ambivalenz jedes historischen Vergleichs: „Er ist ein unentbehrliches Instrument der Geschichtsschreibung, tendiert aber dazu, die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart zu beleuchten und damit zu verengen. Seine Stärke liege in der selbstreflexiven Herausforderung, da die Wahl des Vergleichsfalls, mit dem ein Untersuchungsgegenstand in Beziehung gesetzt wird, immer eine ‚normative Vorentscheidung‘ bedeute.“ (1) Meine eigene „normative Vorentscheidung“ besteht darin, dass ich erstens Antifaschist bin und zweitens, dass ich Ähnlichkeiten zwischen 1933 und 2025 ahne, aber angestrengt darüber nachdenken muss, ob es mehr Ähnlichkeiten oder mehr Differenzen gibt. Sicher aber ist, dass die gegenwärtigen Bedingungen einerseits auf denen der Vergangenheit stehen, andererseits aber auch einem Wandel unterliegen. Gegenwärtig haben wir das Wissen, wie sich Anfang 1933 der deutsche Faschismus kontinuierlich entwickelte – dieses Wissen hatte die deutsche Bevölkerung vor 1933 nicht.

Um das Ergebnis meines Nachdenkens und meines Vortrags vorwegzunehmen: Ich glaube nicht, dass wir 2025 am gleichen Punkt stehen wie Anfang 1933 (2) und ich will das kurz begründen. Mein erstes Argument ist quantitativer Natur, denn viel zu viele Variablen machen die beiden Jahre unvergleichbar. Mein zweites Argument ist qualitativer Natur. Der Faschismus der NSDAP war nicht nur ultrarechts, sondern war eine rechtsterroristische Bewegung, die sich insbesondere gegen die sozialistische Arbeiterbewegung von KPD und SPD richtete. Selbst wenn man den rechtsextremen Gewaltterror der Wehrsportgruppe Hoffmann zwischen 1973 und 1982 (3), den des rechtsextremen NSU zwischen 2000 und 2007 mit zehn Toten, (4) die militärischen Gewaltphantasien der Reichsbürgerbewegung oder das riesige Kriegswaffenarsenals von Rechtsradikalen in Remscheid berücksichtigt, gibt es gegenwärtig keine der SA vergleichbare terroristische Bewegung. Gegenwärtig gibt es auch keine sozialistische Arbeiterbewegung, die einem historischen Faschismus notwendigerweise und definitorisch als Antipode diente. Und ein Vergleich des Parteiprogramms der NSDAP und Hitlers Kampfschrift „Mein Kampf“ mit dem Parteiprogramm der AFD zeigt, dass die AFD „nur“ rechtsextrem ist, mit ihrer Ausländerfeindlichkeit aber nicht die Qualität des extinktistischen Antisemitismus der Nazis erreicht.

Transformation der Demokratie und Amerikanisierung

Eine kritische Analyse des Vergleiches von 1933 mit 2025 übersieht allzu häufig erstens die damaligen und heutigen Kapitalkräfte und zweitens geopolitische Zusammenhänge. Für die Gegenwart kann man von einer unheilvollen Transformation der Demokratie (5) ausgehen. Was meint das? In einer transformierten Demokratie spiegelt das Parlament nicht länger den Volkswillen, sondern hat sich zu einem antidemokratischen Forum entwickelt, deren Parteien Teil des Staates geworden sind und die die Direktiven einer Wirtschaftsoligarchie in die Medien transformieren. Die 5.000 Lobbyisten in Berlin und die 20.000 Lobbyisten in Brüssel sind hierbei nur die kleine sichtbare Spitze eines Eisbergs. Immerhin beläuft sich der Aufwand der Berliner Lobbyindustrie auf rund 1 Mrd. Euro. Mit einem Parlament als Kulisse werden in dieser transformierten Demokratie die Gegensätze von Kapital und Arbeit nur scheinbar harmonisiert und nur äußerlich befriedet; bei weitgehend entpolitisierten Gewerkschaften resultiert diese Befriedung in deren traditioneller Strategie der Sozialpartnerschaft. Scheinbar von der Mehrheit der Bevölkerung getragen, stabilisiert sich in der transformierten Demokratie auf diese Weise die gesamte Herrschaftsordnung. In ihr kann der Gegensatz von Kapital und Arbeit nur noch im Bereich der Kulturarbeit thematisiert werden (z. B. bei Hochhuth, Böll, Schlingensief, Jelinek, Peymann), übernimmt aber als Symbolpolitik häufig nur Ventil- und Alibifunktion.

Mit anderen Worten: Alle demokratischen Parteien haben ihren Burgfrieden mit dem Kapital gemacht, haben es hingenommen, dass abhängig Beschäftigte verarmten, haben linke, sozialistische und antikapitalistische Kräfte zerstört und damit rechten Kräften zugetrieben. In der Weimarer Republik war das ein kurzer Prozess, der nur zehn Jahre dauerte und der sich in der BRD länger hinzog, aber prinzipiell war der politische Prozess derselbe. Dieser Prozess war in der BRD im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern deswegen besonders ausgeprägt, weil die BRD ein „Frontstaat“ war. Die politischen Parteien – in Art. 21 GG Fmit einem besonderen Schutz und der Kraft ausgestattet, die „Willensbildung des Volkes“ mitzugestalten (nicht: zu gestalten) – haben sich inzwischen zu staatsnahen Kartellparteien transformiert. (6) Diese Staatsparteien mit ihrer parlamentarischen Fraktionsdisziplin, ihren Parteisoldaten und ihrer Funktionselite haben sich völlig vom Volkswillen (Art. 20 GG) entfernt. CDU-, SPD-, FDP- oder Grünenpolitiker, ob Friedrich Merz, Lars Klingbeil, Christian Lindner oder Omid Nouripour wurden zu austauschbaren und flexibel rotierenden Marionetten in einer nur mit sich selber kommunizierenden sozio-kulturellen Blase.

Diese Transformation ist gegenwärtig ein idealer Nährboden für die AfD.

Der radikaldemokratische Wiederaufbauprozess der BRD nach 1945, auch mit einer CDU, die wie im Ahlener Programm, in ihrem starken christlichen Arbeitnehmerflügel, Ideen einer solidarischen Ökonomie des katholischen Theologen Oswald von Nell-Breuning und dem Konzept einer sozial abgefederten Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard „linke“ Züge aufwies, dauerte nur kurze Zeit an. Nur kurz nach dem Hitler-Faschismus flossen erhebliche Finanzmittel der Firmen Krupp, Flick, Siemens, Oetker und der Deutschen Bank in die CDU, CSU und FDP, nachdem genau diese Unternehmen in der Weimarer Republik zunächst rechte Parteien wie das Zentrum oder die DNVP, und dann die NSDAP finanziert hatten. Nach 1945 unterstützten die westlichen Militärregierungen und die von ihnen lizensierten Medien wie Welt, Spiegel, SZ und Zeit genau diesen politischen Kurs, wobei gerade „Die Zeit“ ein Auffangbecken alter Nazi-Journalisten gewesen war.

Diese Politik in Deutschland ist zweitens geopolitisch einzuordnen. Eine Amerikanisierung der europäischen Politik gilt seit 1918 besonders für Deutschland. Sogar während der Nazi-Zeit waren die folgenden US-Konzerne in Deutschland aktiv: Ford, GM, Remington, DuPont, CocaCola, IBM, ITT, Texaco, United Fruit, John Deere oder Standard Oil. Der Marshallplan brachte den USA nach 1945 eine ungeheuerliche Ausdehnung ihres Kapitals in Deutschland. (7)

Diese Amerikanisierung von Kapital, Börsen, Investmentfonds, Technologie, Militär, Politik, Medien, der Consulting-Branche usw. hat in der BRD und im gesamten westlichen Europa die unheilvolle Transformation der Demokratie befördert. Für die BRD kann man die Jahre 1960 bis 1990 als eine Ausnahmephase ansehen, sozialdemokratisch wurde die Transformation abgepuffert und abgefedert und auf Gewerkschaftsseite gab es nicht nur eine herrschaftskonforme Strategie der Sozialpartnerschaft, sondern auch den Anspruch, Tarife nicht nur durchzusetzen, sondern auch allgemeinpolitisch abzusichern.

Das Ende dieser sozialdemokratischen Phase Anfang der neunziger Jahre fiel nicht zufällig mit weiteren Wechseln und Weichenstellungen zusammen. 1. In der Industrie löste der Postfordismus die veraltete Massenproduktion standardisierter Güter durch flexible Produktionsformen ab. 2. Bei der Zusammensetzung des Bruttoinlandsprodukts wurde der Dienstleistungssektor endgültig größer als der industrielle Sektor. 3. Parallel zur drastischen Abnahme der Staatsquote wurden Güter und Dienstleistungen der allgemeinen Daseinsvorsorge radikal dem privaten Kapital zugeführt. 4. Mit dem Ende der DDR gab es auch ein Ende der Systemkonkurrenz. 5. In Folge der französischen Philosophien von Michel Foucault und Jacques Derrida löste in der Gesellschaftswissenschaft ein sprach- und kulturkritisches Räsonieren die bislang vorherrschende Ideologiekritik und eine politökonomische Analyse ab. Systemkritik mutierte zu wechselnder politischer Kultur. Alle fünf Veränderungen gegenüber der sozialdemokratischen Phase von 1960 bis 1990 schlugen drastisch auf die gesamte Bevölkerung durch.

In einer einst kontroversen und konfliktiven Parteienlandschaft positioniert sich in Deutschland die Sozialdemokratie nicht länger als Arbeiterpartei, sondern als Partei der Mitte, die Gewerkschaften beanspruchen für sich immer weniger einen eigenen politischen Auftrag, handeln größtenteils nicht mehr autonom, sondern Arm in Arm mit der Sozialdemokratie und die politische Linke ist eine historisch zu vernachlässigende Rest- und Randgröße geworden, vergleicht man sie in der Weimarer Republik mit einer revolutionären KPD, die 1932 17% aller Stimmen auf sich vereinen konnte oder der reformistischen SPD mit 37,9% 1919 oder 29,8% 1928.

Geopolitisch vollziehen sich aber gegen die hier vielfach aufgeführten Beispiele einer Amerikanisierung der BRD völlig andere politische Prozesse. Der ungleich größere „Rest“ der Menschen – etwa 7 Mrd. Menschen im globalen Süden gegen 1 Mrd. Menschen im Westen – organisiert sich anders und gegen die USA, wenn auch keineswegs einheitlich. Unter Führung von China blüht, wächst und gedeiht ein immens starker und größer werdender Tiersmondismus. In der Ukrainepolitik unterstützen nur rund 40 von 193 UN-Mitgliedstaaten den US-geführten Minderheiten-Kapitalismus und in der Israelpolitik sind es noch bei weitem weniger Länder. In beiden Fällen befördert diese Politik eine weitere Isolierung des US-geleiteten Westens.

Schon aus reinem Eigeninteresse kann Deutschland seine außenpolitische Isolation nur dadurch aufbrechen, in dem es auf allen Ebenen und Gebieten eine Kooperation mit neuen Partnern jenseits der 40-Länder-Grenze sucht. Vor allem müssten die ökonomisch nur kurzfristig zu erzielenden Gewinne der gegenwärtigen Freihandelsverträge mit einzelnen Ländern der Dritten Welt so verändert werden, dass beide Vertragspartner auf Augenhöhe einen langfristigen Gewinn für sich erzielen könnten. Im Gegensatz zur jetzigen Ausbeutung des Südens müssten dann aber die komparativen Kostenvorteile für beide Seiten gleichmäßig und gerecht verteilt werden.

Gewerkschaften – damals und heute 

Konstant scheint mir die Verantwortung der Gewerkschaften für die Demokratie zu sein und das aus wenigstens zwei Gründen. Auch wenn man trefflich darüber streiten kann, ob es heute noch Arbeiter gebe oder nicht, so produziert der Gegensatz von Kapital und Arbeit nach wie vor abhängig Beschäftigte. (8) Außerdem entziehen sich Gewerkschaften als autonome gesellschaftliche Gruppe den Gefahren in einem parlamentarischen Rahmen transformiert zu werden.

In der Nazizeit haben sich einerseits viele Gewerkschafter – wie in Solingen – freiwillig und von sich aus der faschistischen Deutschen Arbeitsfront (DAF) angeschlossen, waren andererseits aber auch aktiv im antifaschistischen Widerstand und wurden deshalb zu tausenden in Gefängnissen und KZs gefoltert, hingerichtet, getötet und ermordet.

Wilhelm Leuschner war einer der herausragenden sozialdemokratischen antifaschistischen Widerstandskämpfer, der als Mitglied nationalkonservativer Kreise nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 am 29. September 1944 von den Nazis ermordet wurde. Als bedeutender Sozialdemokrat war Leuschner 1928 Innenminister des Volksstaates Hessen (also Hessen-Darmstadt, Rheinhessen und Oberhessen). In einem möglichen Schattenkabinett von Generaloberst Ludwig Beck und dem Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler war Leuschner im Gespräch als Vizekanzler einer zukünftigen neuen deutschen Regierung. Als entschiedener Antifaschist wurde Leuschner im Januar 1933 Vorstandsmitglied im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) und setzte sich dort für eine Einheitsgewerkschaft ein. Wegen seiner Weigerung, mit den Nazis und der DAF zu kooperieren, wurde Leuschner im Mai 1933 verhaftet und war unter den Nazis zwei Jahre in den Zuchthäusern und KZs Börgermoor/Niedersachsen, Rockenberg/Hessen und Lichtenburg in Prettin/Sachsen-Anhalt interniert.

Für seinen andauernden Kampf um eine Einheitsgewerkschaft sind die Memoiren des Kommunisten Wolfgang Langhoff aus dem KZ Börgermoor aufschlussreich. Der Mitautor des Textes des berühmten Liedes „Die Moorsoldaten“ sprach von dem Sozialdemokraten Leuschner in den höchsten Tönen. Es habe zwischen ihm und den kommunistischen Gefangenen „ein durchaus freundschaftlich-kameradschaftliches Verhältnis“ gegeben und Leuschner habe es mit seinem „kameradschaftlichen Verhalten“ verstanden, „mit allen Barackeninsassen im besten Einvernehmen zu sein“. Gleichermaßen positiv hatte er sich schon vor der Veröffentlichung seiner Erinnerungen geäußert, nämlich 1946 im „Neuen Deutschland“: Leuschner sei ein „patenter Kerl“ und „freundlicher Mann“ gewesen, ein kluger Freund der Arbeiterschaft“ und ein „guter Kamerad, der mich das Leben und die Menschen lieben lehrte.“ (9)

Hatten die sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandskämpfer während ihrer gemeinsamen Leidenszeit in den KZs ihre politischen Auseinandersetzungen aus der Weimarer Republik überwinden können, so forderten sie am 19. April 1945 im KZ Buchenwald gemeinsam eine „Volksfront aller antifaschistischen Kräfte“ und die „Bildung von antifaschistischen Einheitsgewerkschaften“. Während ihrer Zeit im KZ hatten sie erkannt, dass die Spaltung der Arbeiterschaft in Sozialdemokraten und Kommunisten der NSDAP zur Macht verholfen hatte. Dementsprechend heißt es noch heute in der Satzung der IG Metall, dass es in dieser Gewerkschaft keinen Platz für „neofaschistische, militaristische und reaktionäre Elemente“ geben könne. (10)

Eine gemeinsame Politik von SPD und KPD zur Verhinderung eines faschistischen Staates scheiterte an strukturellen Versäumnissen und Fehlern auf beiden Seiten. Nach Einschätzung des Marburger Politikwissenschaftlers Wolfgang Abendroth von 1976 hatte die KPD für eine Einheitsfront-Politik keinerlei strategisches Konzept und der SPD ging es vorrangig um eine Stabilisierung der alten Machtverhältnisse. (11) Auch heutige Historiker wie Mark Jones teilen diese Perspektive meines akademischen Lehrers Abendroth: „Für Ebert waren die deutschen Kommunisten die Todfeinde der SPD. Es gab Zeiten, in denen sie sein Leben bedrohten und Zeiten, in denen er seinerseits Soldaten befahl, mit härtester Gewalt gegen kommunistische Aufstände vorzugehen. Für Ebert hatte politische Stabilität oberste Priorität. Er empfand gegenüber der Republik ein Pflichtgefühl, das ihn zu einem vehementen Unterstützer der Großen Koalition Stresemanns machte. Er wünschte, dass die SPD-Kompromisse mit der DVP einging, statt Verbindungen zur KPD zu knüpfen.“ (12)

Auch der Antifaschist Wilhelm Leuschner hatte sich heftig von Kommunisten distanziert. Er ging davon aus, dass die Kommunisten die Weimarer Republik ebenso zerstört hätten wie die Nationalsozialisten und dass eine Sozialdemokratie gegen beide Kräfte gleichermaßen zu kämpfen habe. (13) Diese Einschätzung ist aber empirisch falsch – die militante Gewalt der SA war um ein Mehrfaches zerstörerischer als alle Militanz von kommunistischer Seite. Allein im Reichstagswahlkampf 1932 sorgte die SA mit ihren fast einer halben Millionen Mitgliedern für 300 Tote und mehr als 1.000 Verletzte. Doch hinter Leuschners Gleichsetzung von Kommunisten mit Nazis steht die nach wie vor beliebte Gleichsetzung von Links- mit Rechtsextremismus. Erst kürzlich verstieg sich der CDU-Politiker Roland Koch zu der Behauptung, dass Deutschland linker werden würde, wenn man die AfD wählen würde. (14) Doch diese sogenannte Hufeisentheorie ist – sorry! – aus historischer und sozialwissenschaftlicher Sicht nicht nur Ideologieproduktion, sondern einfach Quatsch.

Selbstverständlich gab es in der Arbeiterbewegung Berührungspunkte zwischen kommunistischen und faschistischen Arbeitern. Doch längst nicht alle Arbeiter waren so kämpferisch und klassenbewusst wie die Arbeiter aus dem Roten Solingen, die bei der Reichstagswahl im November 1932 mit 41,4% zur stärksten Partei geworden waren und mit Hermann Weber sogar einen kommunistischen Bürgermeister hatten (der allerdings vom preußischen Staatsministerium nicht bestätigt wurde). Der Berührungspunkt zwischen kommunistischen und faschistischen Arbeitern war das Kleinbürgertum, dass zwischen beiden Bewegungen hin und her schwankte. Und genau dieses politisch unentschiedene Kleinbürgertum hatte Clara Zetkin in ihrer Rede über die Gefahren des Faschismus 1923 im Blick, als sie sagte: „Der Träger des Faszismus ist nicht nur eine kleine Kaste, sondern es sind breite, soziale Schichten, große Massen, die selbst bis in das Proletariat hineinreichen.“ (15) Eine „Grand Old Dame“ wie Clara Zetkin konnte sich eine solche politische Analyse leisten und damit den klassenbewussten und siegesgewissen Proletarier, wenn auch nicht beerdigen, so aber doch kräftig relativieren.  

Für die Gegenwart ist kaum bekannt, dass das Grundgesetz mit Art. 139 rechtsverbindlich formuliert: „Die zur ‚Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“ Dieser Artikel bezieht sich auf Gesetz Nr. 104 des Länderrates des amerikanischen Besatzungsgebietes, das im Laufe des Jahres 1946 auf alle Besatzungszonen übertragen wurde. Diese sog. Alliierten Vorbehaltsgesetze werden in der juristischen Fachliteratur unterschiedlich bewertet. Eine Position besagt schlicht und einfach, dass Art. 139 GG obsolet sei und eine andere Position sagt, dass man in einer liberal-demokratischen Demokratie nicht einseitig nur eine rechte Weltanschauung verbieten könne; wenn Art. 139 den Faschismus untersage, dann müsse ein solches Verbot auch für den Kommunismus gelten. Doch beide Interpretationen gehen am Wortlaut dieses Grundgesetzartikels vorbei. Art. 139 GG gehört neben anderen Artikeln des Grundgesetzes, besonders 1 und 20, zum Normbestand des Grundgesetzes. (16)

Auch und gerade vor dem Hintergrund von Art. 139 GG, müssen wir erschrocken zur Kenntnis nehmen, dass die AfD in einer Wählerumfrage des Instituts YouGov von Ende September 2025 mit 27% bundesweit zum ersten Mal vor der CDU liegt, (17) dass die SPD bei der Bundestagswahl 2025 720.000 frühere Wähler an die AfD abgegeben hat, dass in dieser Wahl die AfD bei den Zweitstimmen in Gelsenkirchen, einer alten Hochburg der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, mehr Stimmen als die SPD hatte und dass die AfD ihren Stimmenanteil bei der Kommunalwahl in NRW in diesem Jahr auf 29,8% erhöhen konnte. Was für Gelsenkirchen gilt, trifft ähnlich auch auf Solingen zu. Bei der Kommunalwahl NRW vom 13. September 2025 holte „die mit Abstand meisten Stimmen […] die AfD von früheren SPD-Wählern.“ (18) Möglicherweise lässt sich zeigen, dass die heutigen AfD-Wähler Enkel und Kinder unter den Sozialisationsbedingungen ihrer vormaligen NSDAP-Väter und -Großväter aufgewachsen sind. Insider schätzen den AfD-Anteil an Mitgliedern der IG Metall auf rund zehn Prozent und inzwischen gibt es erste Betriebsratsvorsitzende der AfD. Die AfD hat inzwischen die SPD als Arbeiterpartei abgelöst, nicht als proletarische, aber als kleinbürgerliche Kraft, (19) während sich die SPD zu einer Partei des aufstiegsorientierten Mittelstandes der Angestellten verändert hat. Viele Fakten und Analysen sprechen außerdem dafür, dass die extreme Rechte dabei ist, sich in den Mainstream der politischen Kultur zu verwandeln. (20)

Diese soziologischen Bewegungen vom Arbeiter zum Kleinbürger stehen im Mittelpunkt des Buches „Rückkehr nach Reims“ des französischen Soziologen Didier Eribon. Für Nordfrankreich zeigt Eribon dasselbe, was Martin Becker mit seinem Roman „Die Arbeiter“ für den Oberbergischen Kreis schildern kann: Dieser Wechsel kann in ein oder zwei Generationen stattfinden. (21) Bei den Sinus-Milieus gibt es seit längerem kein proletarisches Milieu mehr. (22) Das dort gemessene Milieu der Unterschicht und der unteren Mittelschicht setzt sich aus drei Submilieus zusammen: Das prekäre Milieu beträgt mit 6,4 Mio. Menschen 9%, das traditionelle Milieu umfasst mit 11 Mio. Menschen 11% und das hedonistische Milieu ist mit 10,4 Menschen das stärkste Milieu und ihm entspricht ein Prozentsatz von 15%.

Was tun?

Lenins Frage konnte 1902 mit Kraft, Zuversicht und revolutionärem Mut gestellt werden und wurde mit der Oktoberrevolution 1917 mit einem welthistorisch neuen utopischen Entwurf beantwortet.

Das geht heute – und im Übrigen seit langem – nicht mehr. Nicht einmal eine zweite sozialdemokratische Abpufferung der ungebremsten Vorherrschaft des internationalen Kapitals, wie zwischen 1960 und 1990, ist denkbar oder machbar. Die berufliche Herkunft von Bundeskanzler Merz als früherem Aufsichtsratsvorsitzenden des US-amerikanischen weltweit größten Vermögensverwalters BlackRock in Deutschland steht für die gegenwärtig eigentliche Zeitenwende, nicht etwa im Sinne des früheren Bundeskanzlers Scholz als neuer deutscher Militärpolitik. Vielmehr meint die eigentliche Zeitenwende die Ablösung eines altertümlichen Kapitalismus an Rhein und Ruhr durch politisch nicht kontrollierte internationale Investmentfonds wie BlackRock, Bakersteel oder Fidelity und um die fünf weltweit größten internationalen Tech-Konzerne wie Apple, Amazon, Google, Facebook und Microsoft. Und die eigentliche Zeitenwende zeigt sich in der Politik dort, wo ein autokratisch-populistisch-faschistoider Präsident wie Donald Trump aus den USA eine Herrschaftsallianz mit Tech-Milliardären wie Elon Musk (Tesla) oder Peter Thiel (Palantir) eingeht. Der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann geht bezüglich der USA unter Donald Trump so weit, dort von „offenem Faschismus“ (23) zu reden. (24)

Vorweg: Ich bin in meinem Leben politisch fast hilflos geworden und weiß auf die Frage „Was tun?“ fast keine Antwort mehr. Eine minimalistische Antwort ist soziales Engagement mit ehrenamtlichen Aufgaben auf nachbarschaftlicher, kirchlicher und kommunaler Ebene. Es geht also um eine Stärkung der caring communities. Aber diese grundsätzliche und zeitlose Antwort betrifft nur Individuen und selbst die Addition von Vielen kann nie das Ganze erreichen, bleibt also gesamtgesellschaftlich irrelevant.

Für eine politische und gesamtgesellschaftliche Ebene kann ich nur noch abstrakte Größen und Werte angeben und die führen mich zum antifaschistischen Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner zurück, der im Übrigen von meinem akademischen Lehrer Wolfgang Abendroth sehr geschätzt wurde. Die zentrale Botschaft von Wilhelm Leuschner hieß, dass man nur in großer Solidarität und Einheit handeln könne. Tragisch sind in diesem Zusammenhang seine letzten Worte kurz vor seiner Ermordung durch die Nazis am 29. September 1944 – also gestern vor 81 Jahren. Blutüberströmt kam er aus der Folterkammer zurück und konnte seinen Freunden nur noch zurufen: „Morgen werde ich gehängt, schafft die Einheit!“ (25) Wilhelm Leuschner meinte damals die Einheitsgewerkschaft, doch sein Aufruf nach einer Einheit gilt allen antifaschistischen Kräften, auch heute noch. Gegen Faschismus, AfD und gegen Rechtsextremismus hilft nur solidarisches und gemeinsames Handeln aller demokratischen Kräfte, also der Gewerkschaften, der Kirchen, aller demokratischen Parteien, natürlich inklusive Linke, BSW und MLPD, vieler NGOs von konservativen Gruppen wie dem Deutschen Hausfrauen-Bund oder dem Bund der Heimatvertriebenen über Pro Asyl, Greenpeace, Amnesty International bis hin zu Gruppen wie Fridays for Future, extinction rebellion, Letzte Generation oder Gelbwesten. Kurz: Die gesamte Zivilgesellschaft ist aufgefordert, solidarisch gegen die AfD zu handeln.

Es ist mir ein besonderes Anliegen heute auch auf eine verfassungsrechtliche Lücke zu verweisen, die seit langem besteht und die es endlich zu schließen gilt. Art. 14 GG legt die Sozialbindung des Eigentums fest und Art. 20 GG definiert unsere Republik als Sozialstaat. Beide Artikel sind das Fundament unserer Republik und deswegen unterliegt Art. 20 sogar der sog. Ewigkeitsgarantie und kann auch nicht mit einer parlamentarischen Mehrheit geändert werden. Auch Wilhelm Leuschner war der Sozialstaat ein wichtiges Anliegen. 1929 schrieb er, dass die Weimarer Verfassung die „Tür öffnet für den Vormarsch zur sozialen Republik […]. Das Ziel heißt, aus der politischen die soziale Demokratie zu machen, die politische und soziale Gerechtigkeit zu ergänzen und zu vollenden durch die Sicherung der wirtschaftlichen Gerechtigkeit für alle Volksgenossen im Volksstaate wie das z. B. in der Forderung nach Wirtschaftsdemokratie einen Ausdruck gefunden hat.“ (26) Art. 14 und Art. 20 wären gegenwärtig so zu konkretisieren, dass man die anwachsende Armutskluft mit 20% armen Menschen und den von SPD-Kanzler Gerhard Schröder geschaffenen Niedriglohnsektor abschafft. Zu konkretisieren wäre die Sozialbindung des Eigentums von Art. 14 GG bei Grund und Boden so, dass der Raubtierkapitalismus der Baukonzerne nicht länger billige Wohnungen verhindern kann. Beide Grundgesetzartikel zusammengenommen sind aber noch nicht so radikal wie Leuschner, der ja 1929 eine Wirtschaftsdemokratie forderte, d. h. die politische Parität von Arbeit und Kapital – und nicht zufällig ist es eine Gewerkschaft wie die IG Metall, die bis auf den heutigen Tag in § 2 ihrer Satzung eine „Demokratisierung der Wirtschaft unter Fernhaltung von neofaschistischen, militaristischen und reaktionären Elementen“ fordert.

In der deutschen Geschichte gab es nur zweimal Mal einen Generalstreik und zwar während des Kapp-Putsches 1920 und 1948 gegen Preiserhöhungen und das vom CDU-Politiker Ludwig Erhard propagierte Modell einer Marktwirtschaft. Solche Methoden der sozialen Verteidigung wie ziviler Streik, Widerstand, ziviler Ungehorsam, Boykott, Sabotage und Demonstrationen sind zu studieren und zu lernen. Einen kleinen Anfang in dieser Richtung zeigte der CDU-Bürgermeister Thomas Kufen von Essen, der sich 2025 mehrfach mit Gruppierungen der Sozialen Verteidigung traf. (27) Im Übrigen „haben alle Deutsche das Recht zum Widerstand“, wenn die Ordnung des „demokratischen und sozialen Bundesstaates“ beseitigt wird und „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Diese Sätze stehen ebenfalls in Art. 20 GG. Und in der Hessischen Verfassung gibt es mit Art. 147 sogar eine Widerstandspflicht.

Ein erstes kleines Beispiel von Zivilcourage zeigte sich in meiner Stadt Solingen, als sich nach dem geheimen AfD-Treffen in Potsdam, bei dem es um die sog. Remigration von deutschen Migranten ging, am 28. Januar 2024 spontan eine Demonstration auf dem Neumarkt mit 5.000 Personen bildete, die größte Demonstration Solingens der letzten Jahre. Auffallend war nicht nur die Größe, sondern erstens auch das Bekenntnis vieler Teilnehmer, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben an einer politischen Demonstration teilnehmen würden und zweitens der Witz vieler Demonstranten, die auf ihren selbst gebastelten Plakaten Slogans verkündeten wie „Keine Pizzas für die AfD“ und „Nazis essen heimlich Döner“. Die Witze auf vielen Plakaten machen auf ein Moment von zivilem Widerstand aufmerksam, mit dem die Herrschenden nicht umgehen und es auch nicht befrieden können, nämlich Witz, Tücke, Trug, List, Spott, Ironie, Satire, Sarkasmus, Zynismus und Demaskierung der Herrschenden durch Klamauk und Lächerlichmachung. Hierzu kennt die Literatur (28) viele berühmte Beispiele: das Narrenschiff von Sebastian Brant (1494), das Volksbuch Till Eulenspiegel (1510), des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen (1837), der brave Soldat Schwejk von Jaroslav Hašek (1921), der Felix Krull von Thomas Mann (1922), die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht (1928) oder der Hauptmann von Köpenick von Carl Zuckmayer (1931).

Ein zweites Beispiel von zivilem Widerstand zeigte sich in Solingen nach der Ermordung von fünf türkischen Frauen und Mädchen durch Nazis 1993. Während die Stadtspitze den Bau eines Denkmals zur Erinnerung an diese Morde mit der vordergründigen Begründung ablehnte, ein solcher Ort könne ein Magnet für Nazis werden, baute die Jugendhilfe-Werkstatt ein solches Denkmal aus eigenem Antrieb und baute es auf dem Vorplatz einer großen Schule auf. Gedachten vor diesem Denkmal, das ein Hakenkreuz kaputtmacht, an den ersten jährlichen Gedenktagen nur kleine Teile der Solinger Zivilgesellschaft, so wurde dieses Alternativ-Denkmal seit langem von der offiziellen Stadtpolitik Solingens übernommen und ist heutzutage jährlicher Treffpunkt von Präsidenten, Botschaftern und Bürgermeistern mit fest ritualisierten Reden und Kranzniederlegungen.

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Quellen

(1) Zit. nach Klos, Sandra und Vogel, Isolde: Der historische Vergleich: Erkenntnisgewinn und Kampfzone, in: H-Soz-Kult, 28. Februar 2023, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-134070 (Abruf am 19. August 2025).

(2) Damit stelle ich mich gegen einen Autor wie Philipp Ruch: Es ist 5 vor 1933, München: Ludwig Buchverlag 2024. Einige Argumente meines Aufsatzes verdanke ich dem Vortrag von Kreutz, Daniel: Vor neuen 33? Vortrag auf der ökosozialistischen Konferenz der Internationalen Sozialistischen Organisation am 2. Juni 2025 in Köln.  

(3) Vgl. Fromm, Rainer: „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Darstellung, Analyse und Einordnung. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen und europäischen Rechtsextremismus, Frankfurt: Peter Lang Verlag 1998.

(4) Vgl. Lückenlos e. V. (Hrsg.): Wir klagen an! Anklage des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“. 3. Aufl., Köln: NSU-Tribunal 2017.

(5) Vgl. Agnoli, Johannes: Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften, Hamburg: Konkret 2004 [Original: 1967].

(6) Vgl. Katz, Richard S. und Mair, Peter: Democracy and the cartelization of political parties, Oxford: Oxford University Press 2018.

(7) Vgl. Rügemer, Werner: Verhängnisvolle Freundschaft. Wie die USA Europa eroberten. Erste Stufe: Vom 1. zum 2. Weltkrieg, Köln: Papyrossa 2023. Ich danke meinem Freund Werner Rügemer für viele Anregungen in diesem Kapitel.

(8) Nur noch 49% aller Arbeitnehmer haben Arbeitsplätze mit Tarifbindung, 11% aller Erwerbstätigen arbeiten in einem Minijob und 2% aller Erwerbstätigen arbeiten als Leiharbeiter. Im Niedriglohnsektor arbeiten 6 Mio. Menschen. Langfristig geht die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder seit Anfang der 1990er Jahre zurück. Von allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind nur rund 15% gewerkschaftlich organisiert.

(9) Langhoff, Wolfgang: Die Moorsoldaten. Ein Bericht. 13 Monate Konzentrationslager, Berlin: Aufbau-Verlag 1947, S. 227 und 249; ders.: Ein guter Kamerad, in: Neues Deutschland, 29. September 1946.

(10) In der Satzung der IG Metall von 1950 ist die Rede von einer „Bereinigung der Wirtschaft von nationalsozialistischen, militaristischen und reaktionären Elementen“ und Mitglieder der IG Metall dürfen nicht „ehemalige Mitglieder der NSDAP“ sein, „die sich durch ihr Verhalten an den Maßnahmen und Verbrechen der Nationalsozialisten beteiligt haben.“ Ein Wechsel des Adjektivs von „nationalsozialistisch“ zu „neofaschistisch“ fand in den Satzungsversionen der IG Metall Mitte der 1950er Jahre statt. Im Vergleich zur Satzung der IG Metall von 1950 ist die Satzung von Verdi von 2001 unpolitisch. Wenn dort in § 5 steht, dass sich Verdi „zu Grundsätzen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates“ bekennt, dann ist das nicht mehr als eine inhaltslose Floskel, wie sie tagtäglich irgendwo ohne Sinn und Verstand aufgesagt wird. Die zeitliche Differenz von 1950 bis 2001 steht gleichzeitig für eine Entpolitisierung der deutschen Bevölkerung.

(11) Vgl. Abendroth, Wolfgang: Ein Leben in der Arbeiterbewegung, Frankfurt: Suhrkamp 1976, S. 115f.  

(12) Jones, Mark: 1923. Ein deutsches Trauma, Berlin: Zentrale für politische Bildung 2022, S. 262.

(13) Vgl. Leuschner, Wilhelm: Rede vor den Neuwahlen zum Hessischen Landtag am 30. Mai 1932 in: Brandt, Willy (Hrsg.): Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933-1945, Frankfurt: Büchergilde Gutenberg 1963, S. 97.    

(14) Vgl. https://www.rnd.de/politik/roland-koch-zu-deutschlands-politik-wer-afd-waehlt-macht-die-republik-linker-STLHEAZ5LJDULLUDWK2SLEMYWE.html (Abruf am 13. September 2025).

(15) Zetkin, Clara: Rede auf der Konferenz der erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, 12. – 13. Juni 1923, in: Nolte, Ernst (Hrsg.): Theorien über den Faschismus, Königstein: Athenäum 1984, S. 88-111; hier S. 89.

(16) Vgl. Stuby, Gerhard: Bemerkungen zum verfassungsrechtlichen Begriff „freiheitliche demokratische Grundordnung“, in: Abendroth, Wolfgang u. a.: Der Kampf um das Grundgesetz. Über die politische Bedeutung der Verfassungsinterpretation. Referate und Diskussionen eines Kolloquiums aus Anlass des 70. Geburtstages von Wolfgang Abendroth, Frankfurt: Syndikat 1977, S. 114-132.

(17) Vgl. Solinger Tageblatt, 18. September 2025, S. 4. Auf methodisch oft fragwürdige Umfragen von YouGov und dessen dubiose Besitzstruktur möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen.

(18) Zit. nach Solinger Tageblatt, 20. September 2025, S. 15.

(19) Vgl. Peters, Benedikt: Viel zu verlieren. Keine Partei kommt bei Arbeiterinnen und Arbeitern so gut wie die AfD. Woran liegt das? Eine Spurensuche, in: Süddeutsche Zeitung. 30./31. August 2025, S. 7.

(20) Vgl. Rauscher, Hans: Die extreme Rechte ist bereits Mainstream, in: Der Standard [Österreich], 9. September 2025.

(21) Vgl. Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims, Berlin: Suhrkamp 2016 und Becker, Martin: Die Arbeiter. Roman, München: Luchterhand 2024.

(22) Noch in den ersten Arbeiten des Sinus-Instituts Ende der 70er bis Mitte der 90er Jahre maßen die Milieustudien zwei Arbeitermilieus: das traditionelle und das traditionslose (Entwurzelte) Arbeitermilieu. Doch da Sinus kein Schichtenmodell/keine Klassen abbildet, sondern Lebensstile mit Wertedimensionen, veränderten sich im Laufe von Zeit die soziokulturellen Gruppen. Im aktuellen Sinus-Milieumodell gibt es drei unterschichtige Milieus, denen in der einen oder anderen Form ein proletarischer Lebensstil zugeschrieben werden kann: das traditionelle Milieu, das prekäre Milieu und das Konsum-Hedonistische Milieu.

(23) Zit. nach Anne-Catherine Simon: „Der liberale Staat hat mich verraten“, in: Die Presse [Österreich], 6. September 2025, S. 25.

(24) Bei dem schwierigen Versuch, Faschismus zu definieren, erlaube ich mir hier den Hinweis darauf, dass Albert Einstein, Hannah Arendt und viele andere jüdische Intellektuelle nach dem Massaker an rd. 100 Palästinensern in dem Dorf Deir Yassin durch den israelischen Juden Menachem Begin und seine Anhänger am 9. April 1948 diesen einen Faschisten genannt hatten. Vgl. ihren Leserbrief in der „New York Times“ vom 4. Dezember 1948. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Deir_Yasin (Abruf am 20. September 2025).

(25) Diese (auch angezweifelte) Äußerung wird hier zitiert nach Buchwitz, Otto: 50 Jahre Funktionär der deutschen Arbeiterbewegung. 3. Aufl., Berlin: Dietz 1958, S. 167.

(26) Leuschner, Wilhelm: Vom deutschen Volksstaat. Die Bedeutung der Weimarer Verfassung, in: Reiber, Julius und Storck, Karl (Hrsg.): Zehn Jahre Deutsche Republik. Ein Gedenkbuch zum Verfassungstag 1929, Darmstadt: Verlagshaus-Darmstadt Wolfgang Schröter 1929, S. 25-31; hier: S. 30.

(27) Vgl. Arnold, Martin: Wehrhaft ohne Waffen – Regionalgruppe Essen. Von der Gründung bis zur Zusammenarbeit mit der Stadt Essen, in: Wissenschaft und Frieden, Dossier 101. Beilage der Zeitschrift Wissenschaft & Frieden, 3/2025, S. 20-22.

(28) Vgl. auch Arendt, Dieter: Der Schelm als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums. Vorarbeiten zu einer literatur-soziologischen Analyse der Schelmenliteratur, Stuttgart: Klett 1974.

Die große Illusion: Wie Aufrüstung Deutschlands Deindustrialisierung beschleunigt

Mo, 24/11/2025 - 14:40

Sechs Gründe, warum der neue Militärkeynesianismus Deutschlands Deindustrialisierung nicht aufhält, sondern beschleunigt.

Das deutsche Exportmodell steckt in einer Existenzkrise. Eine blockierte Transformation und Elektrorevolution, zwei Jahre konsekutives Negativwachstum, die Schließung und Verlagerung von Industrieunternehmen und damit der massenhafte Abbau von Industriearbeitsplätzen sprechen Bände. Dasselbe gilt für die Zunahme schutzzöllnerischer Vorgehensweisen im Westen, die andeuten: Eigentlich wollten deutsche Automobil- und andere Konzerne den chinesischen Markt erobern, heute nehmen sie den deutschen Staat in die Pflicht zu schützen, was sie schon haben. Die EU steckt im Zangengriff aus hyperwettbewerbsfähiger chinesischer Wirtschaft und Trumps Triumph im Zollstreit mit der EU. Was gegen die Volksrepublik misslang, war an Machtpotenzial für die Europäische Union noch gut genug.

In dieser Situation verspricht die Bundesregierung, dass die größte Aufrüstungswelle seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu wirtschaftlichem Wachstum führen werde. Auf der Tagung „Wirtschaftsfaktor Rüstung“, die das Handelsblatt im Sommer veranstaltete, versprach Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU), dass die Aufrüstung „auch eine wirtschaftliche und eine technologische Chance für Deutschland“ (1) sei. Einer der zentralen Stichwortgeber der Aufrüstung in Funk und Fernsehen, Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München, versprach in der FAZ (2), die Aufrüstung werde zum „Jobmotor“. Moritz Schularick, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, erwartet im Ergebnis der Rüstungsausgaben immerhin ein Wachstum von 1,5 Prozent für den gesamten Euroraum.

Auch im IPG-Journal der Friedrich-Ebert-Stiftung, der parteinahen Stiftung der im Bund regierenden SPD, verspricht man sich von der Aufrüstung positive Wachstumseffekte. Die IG Metall wiederum sieht sich mit einer Situation konfrontiert, in der an die Stelle von Arbeitsplätzen in der Automobilindustrie und bei ihren Zulieferern nun solche bei den Rüstungskonzernen treten: Ganze Volkswagen-Werke sollen, wie in Osnabrück, in Rheinmetall-Werke umgewidmet werden (3), in Görlitz werden künftig statt Straßenbahnen Panzerfahrzeuge gebaut, auch in Gifhorn, Salzgitter und an anderen Standorten droht eine solche Umwandlung von ziviler in Militärproduktion. Manchem erscheint die Aufrüstung darum als Antidot zur Deindustrialisierung.

Wachstumsmotor Hochrüstung?

Was ist nun von diesen Versprechungen zu halten? Ist Rüstungskeynesianismus ein Ausweg aus der Krise der Wirtschaft? Kann an die Stelle des existenzkriselnden Exportmodells nun Hochrüstung als makroökonomisches Allheilmittel treten? Sichert die Aufrüstung kurzfristig Arbeitsplätze, ganz nach dem Keynes’schen Motto: „In the long run we are all dead“, womöglich in einem großen Krieg, aber kurzfristig lassen wir es nochmal krachen? Tatsächlich ist, selbst wenn man ihrer instrumentellen Logik folgt, die Gleichung Aufrüstung gleich Deindustrialisierungsantidot, rein ökonomisch betrachtet, kurzsichtig – und zwar aus sechs Gründen:

Erstens: Insofern die USA den hochgradig monopolisierten Weltmarkt für Rüstungsgüter dominieren – die fünf größten Rüstungskonzerne der Welt sind alles US-amerikanische –, bedeuten die Hochrüstungsmaßnahmen letzten Endes, dass die europäischen Arbeiterklassen mit ihren Steuergeldern die Profite von Raytheon, Lockheed Martin, Northrop Grumman, Boeing und Co (4). und die Dividendenausschüttungen an deren Aktionäre finanzieren. Sie bedeuten, dass die europäischen Staaten, ja alle US-Verbündeten ein militärkeynesianisches Rüstungsprogramm finanzieren, aber nicht für sich selbst, sondern in weiten Teilen für die USA. Wirtschaftspolitisch betrachtet könnte man genauso gut Milliardensummen ohne Gegenleistung an Donald Trump überweisen.

Zweitens: Staatliche Ausgaben – militärische wie zivile – führen immer und überall zu direktem und indirektem Wachstum: Investitionen in Rüstung kurbeln die Stahlproduktion an, Investitionen in Gesundheit die Pharmazeutik usw. Das Besondere an Rüstungsausgaben ist jedoch: Sie sind tote Konsumtion. Rüstung funktioniert im Kern wie schlichter Massenkonsum, etwa durch das Versenden von Schecks an die Bevölkerung, die einfach konsumtiv ausgegeben werden. Denn einmal produziert, liegen die Waffen herum; es sei denn, sie kommen in einem Krieg zum Einsatz und es entsteht, wie im militärisch-industriellen Komplex der USA, Dauerbedarf. In jedem Fall erweitern Investitionen in Waffen nicht das kapitalistische Wachstum auf höherer Stufenleiter.

Investitionen in Bildung, Gesundheit, Klimaschutz oder eine andere Industriepolitik versprechen eine deutlich größere konjunkturelle Wirkung, da ihnen ein höherer Multiplikatoreffekt innewohnt, der sich in Form von Arbeitsplätzen, neuen Wachstumsbranchen und Ähnlichem niederschlägt. Jüngere vergleichende politökonomische Forschung zeigt: Investitionen in Umwelt, Bildung und Gesundheit erzeugen in Deutschland, Italien, Spanien und Großbritannien höhere Wachstumsimpulse. Auch in den USA liegt der Multiplikatoreffekt bei Bildung und Gesundheit über dem der Rüstung – lediglich Umweltinvestitionen schneiden dort schlechter ab.

In Deutschland ist das Wachstum durch staatliche Ausgaben für Bildung und Gesundheit fast dreimal so hoch wie bei Rüstung und bei Umweltinvestitionen immer noch fast doppelt so hoch. In Italien entstehen pro eine Million Euro Ausgaben des öffentlichen Sektors drei Arbeitsplätze durch Rüstung, im Bildungssektor dagegen elf.

Je stärker also Investitionen in Umwelt, Bildung und Gesundheit zugunsten des Schuldendienstes für die Aufrüstung gekürzt werden, desto stärker verteilt die Rüstungsproduktion das Wachstum zuungunsten der Beschäftigten: Dem erhofften BIP-Wachstum von 1,5 Prozent stehen geplante Rüstungsausgaben von 3,5 Prozent des BIP gegenüber. Die EU rechnet für Deutschland im nächsten Jahr nun mit einem Wachstum von 1,1 Prozent, die Wirtschaftsweisen haben dies weiter nach unten korrigiert (5), auf 0,9 Prozent.

Drittens: Auch der Beschäftigungseffekt der Kriegswirtschaft ist zu vernachlässigen und kann die Arbeitsplatzverluste in der zivilen Industrie (u.a. in der Autoindustrie) nicht auffangen. Im Allgemeinen ist wenigstens ein Wachstum von 2,5 Prozent vonnöten, um vor dem Hintergrund von Produktivitätssteigerungen und bei gleichbleibend hoher Arbeitszeit das Beschäftigungsniveau zu halten. Während heute also auch in der IG Metall diskutiert wird, ganze VW-Werke in Rheinmetall-Werke umzubauen, um statt Autos Kriegsgerät zu produzieren, sind die Erwartungen an den Beschäftigungseffekt der Hochrüstung eher gering: Neue Studien gehen von 200.000 neuen Arbeitsplätzen (6) aus, die in den nächsten Jahren in Deutschland entstehen könnten. Dagegen steht heute allein in der Autoindustrie, das heißt ohne Zuliefererbetriebe von der Metallerzeugung bis zur Software, der Abbau von 245.000 Stellen seit 2019 und allein 114.000 Stellen im vergangenen Jahr. (7) Hinzu kommt der Stellenabbau der Zulieferer, der sich allein in der Metallerzeugung im vergangenen Jahr auf 12.000 Stellen summierte. Dabei sind sich alle Experten einig, dass die Krise der Autoindustrie gerade erst begonnen hat. Umgekehrt erscheinen die Hoffnungen auf starke Beschäftigungseffekte durch die Waffenproduktion eher optimistisch, da die Panzerfertigung künftig zunehmend automatisiert wird und Kriegsführung zusätzlich immer stärker auf Drohnen verlagert wird.

Viertens: Aufrüstung geht auch zulasten ziviler Produktion. Die Folge ist die Verknappung von zivilen Konsumgütern. Die Folge der Angebotsverknappung wiederum ist Teuerung, Inflation, also ein sinkender Lebensstandard für die Arbeiterklasse. Dieser hat aber zwangsläufig Folgewirkungen für die aggregierte Nachfrage. Davor warnte vor dem Ersten Weltkrieg schon der österreichische Politökonom und Sozialdemokrat Otto Bauer: „Bei aller Sparsamkeit“ könne der Staat die Summen für die Aufrüstung niemals woanders „ersparen“. Das „Defizit“ werde also „natürlich immer größer, wenn die Ausgaben für den Militarismus so schnell wachsen“. Der Staat werde daher „die Steuern erhöhen müssen, um das Defizit zu decken“. Die Folge hiervon: „Wenn der Arbeiter mehr Steuern zahlen muss, kann er weniger für Kleider, Wäsche, Schuhe, Bücher ausgeben.“ Das würden dann aber wieder die Industriezweige, „die diese Waren erzeugen“, zu spüren bekommen; sie „werden weniger Arbeiter beschäftigen können, weil sie weniger Absatz haben“. Im Ergebnis: „Es werden mehr Arbeiter bei der Erzeugung von Mordwerkzeugen, dafür aber weniger Arbeiter bei der Erzeugung von Kleidern, Wäsche, Schuhen, Büchern beschäftigt werden!“ Die Aufrüstung ist also ein Nullsummenspiel, der „Militärkeynesianismus“ eine Scheinrechnung, auch rein ökonomisch betrachtet.

Fünftens: Die Einleitung einer Kriegswirtschaft behindert nun auch die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft auf die Dauer. Denn sie verschiebt gesellschaftliche Ressourcen, Ingenieurs-Know-how, Hochschulforschung usw. weg von gesellschaftlichen Zielen wie dem Klimaschutz, der Mobilitätswende und der sozialen Gerechtigkeit, die nicht nur gesellschaftlich sinnvoller wären, sondern eben auch mit höheren Multiplikatoreffekten. Daraus ergibt sich auch eine weitere, alles entscheidende Konsequenz.

Nämlich sechstens: Rüstungspolitik ist kein Antidot zu Deindustrialisierung, sie ist ein Treiber von Deindustrialisierung. Kurz: Zwischen Aufrüstung und dem Verlust der industriellen Basis eines Landes besteht ein sehr enger Zusammenhang. Dies zeigt die Geschichte. Der Aufstieg Chinas wurde erleichtert durch die Tatsache, dass die Volksrepublik nach ihrem Bündnis mit den USA 1972/73 im Windschatten der Vereinigten Staaten sich rein auf die zivile Entwicklung konzentrieren konnte, während die Sowjetunion im „Second Cold War“ von den USA zu einer massiven Aufrüstungslast zulasten ihrer zivilen Produktion gezwungen und letztlich totgerüstet wurde. Die im Weltkrieg von den USA besiegten und besetzten (West-)Deutschland und Japan wurden nach 1945 zu den am weitesten entwickelten Ökonomien des Kapitalismus und zum Hauptkonkurrenten für die USA nicht bloß deshalb, weil ihre Infrastruktur zerstört war, sondern weil ihre Rüstungsausgaben konstant niedrig blieben. Großbritannien und Frankreich hatten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stetig hohe Militärausgaben mit einer Spezialisierung in der Waffenproduktion, und im gleichen Maße erlebten sie eine schnellere Deindustrialisierung. Die Bundesrepublik Deutschland, Italien und Spanien hingegen weisen historisch vergleichsweise niedrigere Militärausgaben mit einer Spezialisierung in ziviler Produktion auf, und im Ergebnis vollzog sich der Prozess der Deindustrialisierung langsamer oder, im Falle der Bundesrepublik, fast gar nicht. Ein wesentlicher Grund: In Deutschland, Italien und Spanien war historisch der militärische Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (R&D) sehr viel geringer als in Großbritannien und Frankreich.

Mit anderen Worten: Aufrüstung stürzt die EU in verschärftere, nicht geringere Deindustrialisierung, verlangsamt sie nicht, sondern beschleunigt sie. Sie ist sogar in ausschließlich ökonomischer Hinsicht ein schlechter Deal: Höhere Militärausgaben bedeuten weniger Wohlstand und weniger Arbeitsplätze.

Ein militärisch-industrieller Komplex und seine Folgen

Die gesellschaftlichen Kosten und politischen Konsequenzen der Aufrüstung sind also gigantisch. Ein Ende des Niedergangs ist nicht in Sicht. Die deutsche Politik stellt die Bevölkerung längst darauf ein: Deutschland werde „buchstäblich ärmer“, sagte schon zu Beginn des Ukrainekriegs und der Sanktionspolitik der damalige Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Auch Friedrich Merz, damals noch CDU/CSU-Oppositionsführer und Bundeskanzler in spe, stimmte die Bevölkerung auf niedrigere Erwartungen ein. Die besten Jahre lägen hinter uns, sagte er damals und meinte damit natürlich nicht sich und seine Klasse. Nach der Wahl verknüpfte Kanzler Merz die Ankündigung der Hochrüstung mit der Ankündigung von massiven Sozialkürzungen und Lebensarbeitszeitverlängerungen: Das „Paradies“ sei vorbei.

Heute sagen Vertreter der Bundesregierung, dass die Rente „nicht mehr zum Leben reichen“ (8) werde, dass die Lohnabhängigen künftig bis 70 arbeiten (9) müssten und dass, wer das Renteneintrittsalter dann tatsächlich noch erreicht und nicht vorher schon aus Erschöpfung in die Grube fährt, dann auch seine Medikamente nicht mehr bezahlt (10) bekommen soll.

Die SPD hoffte, mit der Aufhebung der Schuldenbremse für die Rüstung dem Widerspruch Raketen oder Rente, Kampfschiffe oder Kindergärten, Schützenpanzer oder Schulen zu entkommen. Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Industrieumbau, soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz werden mit der Hochrüstung unter die Räder kommen. Der Grund ist simpel: Die Kosten der Aufrüstung lassen sich zwar in die Zukunft verlagern und zukünftigen Generationen aufbürden, sofern ein großer Krieg verhindert wird und es diese dann noch gibt. Die Tilgung der Schulden aber, die mit der unbeschränkten Kreditaufnahme für die Aufrüstung entstehen, wird aus dem laufenden Haushalt geschehen müssen. Dierk Hirschel, Chefökonom der Gewerkschaft Verdi und Mitglied von DL21 in der SPD, hat in dem neuen Buch „Gewerkschaften in der inneren Zeitenwende“, das die IG-Metall-Gewerkschaftssekretärin Ulrike Eifler aus Würzburg herausgegeben hat, vorgerechnet, dass der Schuldendienst schon 2027 die finanziellen Spielräume für Ausgaben in allen anderen Bereichen – Arbeit, Bildung, Gesundheit, Rente – im Grunde ganz und gar austrocknen wird. Die Aufrüstung gerät in einen extremen Gegensatz zur Verteilung und zur sozialen Gerechtigkeit – genau das, was die Sozialdemokraten mit der Grundgesetzänderung eigentlich verhindern wollten.

Aber auch strukturell verändert die Hochrüstung das Gemeinwesen. Sie macht den Staat erpressbar. Dies wusste Otto Bauer ebenfalls längst, als er den Militarismus vor dem Ersten Weltkrieg kritisierte. Die Hochrüstung vergrößere, schrieb er seinerzeit, nämlich die „Abhängigkeit des Staates vom Großkapital“, woraus sich ergebe, dass der Staat dem Kapital dienstbar werde und dem Kapital für seine Kredite dankbar sein müsse. Die Regierung bedanke sich bei den Großkonzernen durch Willfährigkeit: Sie ermögliche durch Arbeitszeitgesetze eine ununterbrochene Produktion, schmettere die Forderungen der Sozialdemokratie nach dem Achtstundentag nieder und erfülle alle Kapitalbedingungen, wodurch die „Gesundheit der Arbeiter“ geschädigt und die „Zahl der Betriebsunfälle“ zunehme. Ergebnis: „Für die Unternehmer 50 Millionen Profit, für die Arbeiter zwölf- und 18-stündige Arbeitszeit“ – das sei der „volkswirtschaftliche Nutzen“ der Aufrüstung.

Wesentlich ist außerdem: Durch die Aufrüstung entsteht eine strukturelle Festlegung der deutschen Gesellschaft, die sich später nur schwer politisch korrigieren lässt. Nach innen wird die Gesellschaft von der Aufrüstung abhängig – es werden Geister gerufen, die sie nicht mehr loswird. Am Ende droht, wie in den USA, die Entstehung eines militärisch-industriellen Komplexes. Kommunen würden um Gelder aus den neuen Rüstungsausgaben in Höhe von fünf Prozent des BIP – das entspricht jedem zweiten Euro im Bundeshaushalt – konkurrieren, und die Wiederwahl von Politikern könnte davon abhängen, ob sie Rüstungsproduktion im eigenen Gebiet ansiedeln oder Mittel für die „Kriegstüchtigkeit“ der Infrastruktur sichern.

Ein einmal entstandener militärisch-industrieller Komplex muss ständig neue Gefahren erzeugen, Bedrohungsszenarien über Stiftungen, Denkfabriken und Medien verbreiten und Wege finden, die angeschafften Waffenarsenale zu nutzen oder zu zerstören. Das bedeutet – wie der US-Komplex zeigt – einen Zustand permanenter Kriegsführung.

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Quellen:

(1) https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/verteidigung-wirtschaftsministerin-reiche-verspricht-wachstum-durch-ruestung/100151485.html

(2) https://x.com/CarloMasala1/status/1894380659012989132

(3) https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/friedensstadt-osnabrueck-wird-das-vw-werk-bald-zum-ruestungsstandort-li.2361237

(4) https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/patriot-lockheed-martin-abrams-so-verdienen-die-usa-an-der-eu-ruestungspolitik-li.2257192

(5) https://www.spiegel.de/wirtschaft/wirtschaft-in-deutschland-waechst-aber-langsamer-als-eu-durchschnitt-a-c5fdff91-5cc7-4662-a06f-bb5e537f33bc

(6) https://www.n-tv.de/wirtschaft/Ruestungsindustrie-hat-Potenzial-fuer-200-000-neue-Jobs-article26014601.html

(7) https://www.automobil-industrie.vogel.de/deutsche-industrie-krise-jobverluste-a-28e3d31f7858cd43b68b838d9df3aa2a/

(8) https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/agenda-2030-katherina-reiche-vermutet-dass-rente-nicht-mehr-zum-leben-reichen-wird-a-5ff8508f-28ea-4431-951f-1071c8b921b5

(9) https://www.merkur.de/wirtschaft/versprechen-rente-mit-70-reiche-berater-fordern-radikale-reformen-kein-bullerbue-zr-93972753.html

(10) https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/hendrik-streeck-debatte-um-teure-medikamente-fuer-hochbetagte-110783221.html

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Der Betrag ist an 18. November 2025 in der Berliner Zeitung erschienen

Ingar Solty ist Autor und lebt in Berlin. Im Frühling erscheint sein neues Buch „Der postliberale Kapitalismus: Renationalisierung – Krise – Krieg“.

Merz’ rassistische Ablenkung hat Tradition

Di, 11/11/2025 - 08:24

Die Stadtbild-Debatte ist nicht nur ein Schauspiel des Alltagsrassismus in Deutschland, sondern auch ein Ablenkungsmanöver: Unzufriedenheit soll sich an Ausländern entladen statt an der Politik, die dabei versagt, lebenswerte Städte für alle zu schaffen.

Die Äußerung von Bundeskanzler Friedrich Merz, es gäbe »im Stadtbild noch dieses Problem«, das durch verstärkte Abschiebungen gelöst werden könne, hat es nun geschafft, wochenlang die Öffentlichkeit zu beschäftigen – samt Gegenprotesten, Unterstützungsbekundungen und leidenschaftlichen Mediendebatten. Dass Merz selbst laut Umfragen momentan von nur knapp einem Viertel der Bevölkerung unterstützt wird oder dass die Wirtschaft nach wie vor stagniert, tritt in den Hintergrund zugunsten einer erneuten Migrationsdebatte.

Merz’ Kommentare kamen nicht aus dem Nichts, sondern verdeutlichen das Weltbild des deutschen Bundeskanzlers: von den »kleinen Paschas«, über den »importierten Antisemitismus« von Menschen, die in den letzten zehn Jahren nach Deutschland gekommen seien, bis zur »ungeregelten Einwanderung in unsere Sozialsysteme«. Diese Kontinuität macht deutlich, dass »der Ausländer« in seinem Denken ein beständiges Problem darstellt, das weg muss.

Doch es gibt auch eine andere Kontinuität in Merz’ Handeln: Das geschickte Ausnutzen von rassistisch aufgeladener Rhetorik, um von sozialer Spaltung abzulenken und Ungleichheit zu normalisieren. Hieß es in den 1990er Jahren noch »Das Boot ist voll«, wird heute anhand eines angeblich verfallenden Stadtbilds ein Feind an die Wand gemalt, der für die gesellschaftliche Misere verantwortlich sein soll.

Worum es wirklich geht

Die Stadtbild-»Debatte« macht eine ganze Bandbreite von rassistischen und sexistischen Stereotypen deutlich. Menschen mit Migrationsgeschichte würden den Sozialstaat ausnutzen, um sich ein leichtes Leben zu machen und, wann immer sie wollen, in der Stadt abzuhängen, denn sie müssten nicht arbeiten.

Dahinter steckt ein Sozialchauvinismus, der arme Menschen abwertet, Hass auf sie schürt und von der eigentlichen Frage ablenkt: von Armut betroffene Menschen haben sich ihre Lebenslage nicht selber ausgesucht, sondern sind aufgrund von Klassenverhältnissen in sie hineingeboren. Versuche, ihnen zu entkommen, werden durch die Bundesregierung erschwert. Mehr noch: Sie betreibt tagtäglich eine Politik, die die Menschen in Armut, Rechts- und Statuslosigkeit drängt, nur um es ihnen dann persönlich zum Vorwurf zu machen.

Einen Tag später, auf Nachfrage, was Merz denn konkret meine, antwortete er: »Fragen Sie mal Ihre Töchter.« Damit markiert er die von ihm gemeinten Menschen als potentiell gewalttätige und sexuell übergriffige Männer. Das Bild des »Ausländers«, der es auf deutsche Frauen abgesehen habe, ist ein immer wiederkehrender Topos im systematischen Alltagsrassismus hierzulande – insbesondere, wenn es um Schwarze Menschen geht.

Merz inszeniert sich dabei als schützender Patriarch, so die politische Soziologin Rosa Burç: »Frauen, die nur als ›Töchter‹ Subjekte sind, Männer, die nur dann als gefährlich markiert werden, wenn sie migrantisch sind, migrantische Irregularität eingeschrieben in die Illusion einer weißen Nation«. Eine Petition von Aktionskünstlerin Cesy Leonhard macht deutlich, um was es eigentlich geht: »Wir haben ein strukturelles Problem mit Gewalt gegen Frauen – fast immer im eigenen Zuhause. Die Täter sind nicht irgendwelche Menschen im ›Stadtbild‹, sondern Ehemänner, Väter oder (Ex)Partner.«

Merz nachträgliche Spezifizierung, es gehe ihm um »Einwanderer ohne Aufenthaltsrecht und Arbeit, die sich nicht an die in Deutschland geltenden Regeln halten« würden, macht es nicht besser. Erstens kann man den Aufenthaltsstatus eines Menschen nicht an seinem Gesicht ablesen. Genauso wenig den Arbeitsstatus – viele Menschen mit Migrationshintergrund sind gezwungen, in prekärer Situation ermüdende Schicht- oder Nachtdienste zu leisten. Und welche Regeln Merz meint, bleibt ebenso nebulös. Sind es Gesetze, Werte oder Normen? Welche möglichen Regelbrüche insinuiert er? Es wird deutlich, dass diese Unklarheit Teil einer Kommunikationsstrategie ist, die gleichzeitig jeden und fast niemanden meinen könnte.

Eine rassifizierende und ausschließende Einordnung ermöglicht Merz’ Aussage hingegen schon. Denn betroffen von dieser Markierung sind potentiell alle, die von einer weißen Dominanzgesellschaft nicht als deutsch gelesen werden und sich den Tag über in öffentlichen Räumen aufhalten. Nicht umsonst äußerte sich der Überlebende des rechtsterroristischen Hanau-Anschlags Said Etris Hashemi: »Ich bin das Stadtbild, vor dem Merz warnt. Die 9 Menschen, die in Hanau ermordet wurden, wurden Opfer genau dieser Denkweise.« Zu dem Stadtbild, das nicht sein darf, gehören auch Shishabars, die sich der Attentäter als Ort seines Anschlags unter anderem ausgesucht hatte.

Zweitens wird deutlich, dass es sich empirisch nur um eine sehr geringe Menge an Menschen handelt, die sich »ohne Aufenthaltsrecht« im Land befinden. Mit Stand Ende Juni 2025 befanden sich etwa 226.000 Menschen ausreisepflichtig im Land. 185.000 von ihnen hatten jedoch eine Duldung, sodass nur etwa 41.000 Menschen konkret ausreisepflichtig sind. Neben abgelehnten Asylbewerbern können dies auch Studierende oder Touristen sein, deren Visum abgelaufen ist.

Die Duldung ist zwar kein echter Aufenthaltstitel, aber dennoch eine Bescheinigung über den legalen Aufenthalt. Sie kann erteilt werden aufgrund von völkerrechtlichen oder humanitären Gründen, bei Absolvierung einer qualifizierten Berufsausbildung, wenn man ein minderjähriges Kind hat, das eine Aufenthaltserlaubnis hat, wegen schwerwiegenden Erkrankungen oder aus anderen rechtlichen Gründen, die eine Ausreise verhindern, zum Beispiel fehlende Reisedokumente und ungeklärte Identität. Die Chance, eine der von Merz im Nachgang angeblich gemeinten Personen im Stadtbild einer der 80 Großstädte, 624 Mittelstädte oder der 2.112 Kleinstädte zu sehen, ist damit im realen Leben verschwindend gering.

Erfolgreich abgelenkt

Es wird deutlich, dass rassistische Platzzuweisungen funktionieren. Migration wird zum Problem stilisiert, weil es politisch nützlich ist. Die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Bundesregierung ist im Keller. Laut einer Insa-Umfrage sehen 66 Prozent der Befragten die Arbeit der Bundesregierung kritisch, nur noch 25 Prozent sind zufrieden. Um davon abzulenken, setzen Merz und Konsorten in bezeichnender Regelmäßigkeit darauf, die nächste rassistische Migrationsdebatte zu schüren.

Denn sie funktioniert jenseits konkreter Empirie. Mit unter 88.000 Erstanträgen bis Ende September 2025 ist die Zahl der Asylsuchenden so niedrig wie in den letzten zehn Jahren nicht mehr. Bis Ende Juni gab es in der gesamten EU nur 399.000 Asylanträge und damit 23 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Diese Problematisierung funktioniert sehr ähnlich zum Sozialchauvinismus, der sich in der Verschärfung des Bürgergelds ausdrückt, das nun Grundsicherung heißen soll. Auch hier wurden Fantasiezahlen von 100.000 faulen »Totalverweigerern« in die Debatte gebracht – in Realität handelt es sich nur um eine sehr kleine fünfstellige Zahl an Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen die Zusammenarbeit mit dem Amt nicht schaffen.

Die »Reform« wurde zudem von der Union dafür gepriesen, 5 Milliarden Euro einzusparen. Tatsächlich werden für 2026 nur rund 86 Millionen Euro und für 2027 rund 69 Millionen Euro an Einsparungen erwartet. 2028 könnte es sogar Mehrkosten geben. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Stadtbild-Debatte genau dann von Merz geschürt wurde, als sich die Versprechungen der Union in Bezug auf die neue Grundsicherung als Luftnummer erwiesen.

Im Kern der Debatte geht es um Entrechtung und eine Hierarchisierung der Gesellschaft, um Lohnarbeit und die Legitimierung von Ungleichheit, um die Zuweisung des »angestammten« Platzes in einem rassistisch strukturierten, kapitalistischen Arbeitsmarkt. Wie die Sozialwissenschaftlerin Bafta Sarbo schreibt: »Je prekärer die Arbeitskräfte sind, desto ausgelieferter sind sie. […] Deshalb ist jede noch so rassistische Mobilisierung gegen Migrantinnen und Migranten kein Kampf gegen Migration an sich, sondern ein Angriff auf die Rechte dieser Menschen.« Den als Probleme des Stadtbilds markierten Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus sollen diese Rechte vorenthalten werden. Sie werden markiert und ausgeschlossen.

Die ständige Problematisierung von Migration und Flucht ist in Deutschland letztendlich auch ein Vorwand, um nicht über die Themen sprechen zu müssen, die eigentlich anstehen: die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten, Investitionen in die marode Infrastruktur des Landes oder auch die so dringend notwendige sozial-ökologische Transformation.

Erstveröffentlichung auf jacobin

Wirtschaftliche Stagnation in Deutschland

Fr, 07/11/2025 - 14:10

Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands ist seit dem I. Quartal 2024 bis zum III. Quartal 2025 (Oktober) geprägt von Stagnation, leichten Rückgängen und minimaler Erholung, wie die Anfang November 2025 veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) blieb im 3. Quartal 2025 preis-, saison- und kalenderbereinigt im Vergleich zum Vorquartal unverändert bei 0,0%. Im Vorjahresvergleich konnte das BIP leicht um 0,3% zulegen, womit sich die gesamtwirtschaftliche Leistung ohne nennenswertes Wachstum präsentiert. Zuvor war im 2. Quartal 2025 ein Rückgang um 0,2% zum Vorquartal verzeichnet worden, der vor allem auf eine schlechtere Entwicklung im Verarbeitenden Gewerbe und Baugewerbe zurückzuführen ist. Der Auftragseingang (ein Konjunkturindikator) im Verarbeitenden Gewerbe hat sich im September 2025 gegenüber dem Vormonat leicht um 1,1% preisbereinigt erhöht, was auf eine gewisse Erholung hindeutet. Allerdings waren die Aufträge im November 2024 und 2025 rückläufig.

Die Produktionsauslastung im Verarbeitenden Gewerbe und Baugewerbe ist weiterhin unter Druck, mit rückläufiger Produktion in nahezu allen Bereichen, ausgenommen Fahrzeugbau, der leichte Zuwächse verzeichnet.

Im Außenhandel kam es im 2. Quartal 2025 zu einem Rückgang der Exportvolumina um 0,1% gegenüber dem Vorquartal, was vor allem auf sinkende Warenexporte (-0,6%) zurückzuführen ist, während der Dienstleistungsexport um 1,4% zulegen konnte. Die Importe stiegen im gleichen Zeitraum deutlich um 1,6%.

Im Jahresdurchschnitt wird für das Jahr 2025 ein BIP-Wachstum von gerade einmal 0,2 % prognostiziert, was strukturell so gut wie Stagnation bedeutet. 

BIP-Entwicklung in Quartalen von I/2024 – III/2025

Die preis-, saison- und kalenderbereinigten BIP-Daten des Statistischen Bundesamtes für Deutschland im Zeitraum von Q1/2024 bis Q3/2025 zeigen folgende Entwicklung:

 

Die Zahlen belegen, dass die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im genannten Zeitraum von Schwankungen und einer insgesamt weitgehend stagnierenden Entwicklung geprägt ist. Die BIP-Werte wachsen mit kleinen Ausschlägen nach oben und unten, was die instabile wirtschaftliche Lage beschreibt.

Die vorliegenden Zahlen offenbaren strukturelle Krisen der kapitalistischen Produktionsweise, die sich im Kontext multipler Krisen und eines seit Jahren anhaltenden Stagnationstrends deutlich manifestieren. Diese Entwicklung drückt im Kern die kapitalistische Krisenhaftigkeit aus, in der strukturelle Widersprüche wie Nachfragefluktuationen Überakkumulation, und internationale Standortkonkurrenz den Wirtschaftskreislauf begrenzen.

Überakkumulation und Nachfrageschwäche

Die Investitionstätigkeit kapitalistischer Unternehmen bleibt trotz niedriger Zinsen gering, weil am Standort Deutschland die erforderlichen Investitionen in die Produktions-Anlagen und den Erhalt von Arbeitsplätzen unternehmerisch eine zu geringe Profitabilität erbringt. Hinzu kommt, dass gerade der Kapitalstandort Deutschland durch die exorbitant hohen Energiekosten und Infrastrukturproblemen massiv unter Druck steht.

Die Nachfrage insbesondere durch den privaten Konsum wird durch stagnierende Löhne, Preissteigerungen der Lebenshaltungskosten für Lebensmittel, Wohnraum, öffentlichen Einrichtungen durch die derzeit dominanten politischen Eliten gebremst. Die CDU/CSU/SPD-Regierung ist alles andere als die politische Vertretung derjenigen, die durch ihre Arbeitsleistung das BIP erarbeiten. Die in der Vergangenheit und bis zum heutigen Tage konzipierten staatlichen Konjunkturimpulse dieser Regierung sind in zu geringem Maße auf strukturelle Verbesserungen bzw. Erweiterungen des Industriestandortes ausgerichtet. Dauerhaft dürfte sich das auch durch Steuergeschenke und Subventionen für die großen Konzerne nicht kompensieren lassen. Hinzu kommt, dass die notwendige energetische und ökologische Transformation (Dekarbonisierung) erhebliche Umbruchkosten bedeuten, die aus Unternehmersicht die Profiterwartungen im traditionellen Verarbeitenden Gewerbe zusätzlich schmälern.

Die wirtschaftliche Situation ist folglich durch Überakkumulation geprägt, in der sich im kapitalistischen Wirtschaftssystem mehr Kapital anhäuft, als profitabel investiert wird. Dies führt zu einer sogenannten Verwertungsschranke, nachdem die Arbeitsproduktivität zwar leicht zunimmt, gleichzeitig aber der Einsatz von Arbeit durch massiven Stellenabbau abnimmt, was die Profitrate senkt. Überakkumulation entsteht also aus dem inneren Widerspruch des Kapitalismus: das Kapitalvolumensteigt, aber die Möglichkeit seiner gewinnbringenden Anlage verringert sich.

Als exportabhängige Volkswirtschaft ist Deutschland besonders stark von den verschärften internationalen Konflikten und den von den USA praktizierten Protektionismus betroffen. Die Schwäche des Weltmarkts wirkt im kapitalistischen Prozess der Akkumulation als ein externer Schock auf die heimische Wirtschaft, der eigentlich nach rationalen ökonomischen Einschätzungen ein Umdenken der wirtschaftlichen Kooperation und der eigenständigen Mitgestaltung des Welthandels erfordern würde.

Sozialausgaben und demografische Veränderungen

Der Anstieg von Sozialausgaben infolge des demografischen Wandels und der politisch erklärten antisozialen Ausrichtung der gegenwärtigen Regierungspolitik, sprich: Rückentwicklung des Sozialsystems bei gleichzeitiger Ausgaben-Expansion für die Militarisierung sind Ausdruck einer Politik, die den Spielraum für gesellschaftsrelevante staatliche Interventionen einschränkt. Gleichzeitig wachsen die Differenzen in der Einkommens- und Vermögensverteilung zu Gunsten der Reichen des Landes weiter.

Grenzen der Krisenbewältigung

Die politischen Maßnahmen und kurzfristigen fiskalischen Impulse der Regierung sind nicht darauf ausgelegt, diese Grundwidersprüche einer stagnierenden Wirtschaft nachhaltig zu überwinden. Auch im Digitalisierungszeitalter ist das, was sich als politisches Krisenmanagement in Deutschland abspielt, keine Garantie für ein produktives Wachstum und Erhalt des gesellschaftlichen Wohlstands. Stattdessen wiederholen sich Elemente einer anhaltenden Periode niedrigen Wachstums und periodischer Krisen. Und die Tendenzen zur Monopolisierung und weiteren gesellschaftlichen Polarisierung verstärken sich. Die aktuelle Krise ist in diesem Sinne nicht primär eine Folge einzelner rechtspolitischer Fehlentscheidungen, sondern Ausdruck der Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst.

Internationale Einordnung

Im internationalen Vergleich belegt Deutschland im Jahr 2025 (bis Ende Quartal III gerechnet) den letzten Platz unter den führenden Industrienationen. Laut aktuellen OECD-Prognosen wächst das deutsche Bruttoinlandsprodukt nur um 0,4 % – langsamer als in allen anderen entwickelten Volkswirtschaften. Zum Vergleich: Für die Eurozone erwartet die OECD ein Wachstum von rund 1,3 %, für die Vereinigten Staaten etwa 2,4 %. 

Diese Zahlen unterstreichen den anhaltenden Rückgang der wirtschaftlichen Dynamik in Deutschland und damit den schwindenden Einfluss des deutschen Kapitalismus im globalen Wettbewerb. Es ist Ausdruck einer ungleichen Entwicklung innerhalb einer sich von einer unipolaren zu einer multipolaren verändernden Weltwirtschaft, in der aufsteigende Staaten des globalen Südens der Vormachtstellung der bisher einflussreichsten kapitalistischen Staaten, auch von Deutschland, mit zunehmendem wirtschaftlichen und geopolitischen Gewicht begegnen.

Die BIP-Entwicklung der letzten vier Quartale macht die strukturelle Stagnation des deutschen Kapitalismus sichtbar. Diese Stagnation ist kein zufälliges Politik-Ergebnis, sondern Resultat grundlegender Krisenmechanismen der Produktion und Verwertung im globalen Maßstab. Die politische Arena wird daher in den kommenden Jahren weiter vom Ringen um Krisenlösungen zwischen (neo-)liberaler, sozialdemokratischer und rechter Verwertungspolitik geprägt bleiben, während die grundlegende Überwindung kapitalistischer Beschränktheiten optimistischerweise bestehen bleibt.

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Quellen:

https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Volkswirtschaftliche-Gesamtrechnungen-Inlandsprodukt/Tabellen/bip-bubbles.html

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3829/umfrage/entwicklung-des-bruttoinlandsprodukts-in-deutschland-nach-quartalen/

https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5380-vertrauenskrise-des-kapitalismus-in-deutschland-doch-wem-nuetzt-es

https://www.isw-muenchen.de/broschueren/reports/222-report-142

https://www.oecd.org/de/publications/2025/06/oecd-economic-surveys-germany-2025_b395dc9b.html

https://www.datev-magazin.de/nachrichten-steuern-recht/wirtschaft/bruttoinlandsprodukt-ausfuehrliche-ergebnisse-zur-wirtschaftsleistung-im-1-quartal-2025-139490

https://www.bundesbank.de/de/presse/pressenotizen/deutschland-prognose-wirtschaftliche-erholung-kommt-langsam-in-gang-959260

Xinjiang: Boomregion nach erfolgreichem Kampf gegen Terrorismus

Sa, 01/11/2025 - 09:41

Falls im Westen und speziell im deutschen Sprachraum jemand überhaupt etwas mit dem Begriff “Xinjiang” verbinden kann, assoziiert der Name dieser chinesischen Provinz wahrscheinlich brutale Verfolgung und (kulturelle) Auslöschung einer ganzen Ethnie, der Uiguren. Die Uiguren sind ein Turk-Volk, meistens Muslime. Verfolgt und ausgelöscht von der chinesischen Regierung wegen ihrer Religion und weil sie keine Han-Chinesen sind. So jedenfalls die im Westen verbreitete Erzählung. Beispielhaft das Buch: “Ein Volk verschwindet. China und die Uiguren“ (1), 2022 erschienen und auch von der Bundeszentrale für politische Bildung an den Schulen etc. verbreitet. Geschrieben von einem Journalisten der Zeitschrift Wirtschaftswoche, der seine steile, marktgängige These kaum auf eigene Untersuchungen stützt, sondern auf dünne Belege zweiter und dritter Hand.

Als ich im Sommer die Einladung vom chinesischen Außenministerium bekam, an einer Reise von Journalisten und Publizisten durch Xinjiang teilzunehmen, war ich begeistert. Denn ich kenne zwar viele Teile Chinas und bin auch schon durch Tibet gereist, hatte bislang aber nie Gelegenheit, selbst nach Xinjiang zu kommen. Dabei können Bürger der meisten EU-Länder China und damit auch Xinjiang 30 Tage visumsfrei besuchen.

Zweifellos verfolgte das chinesische Außenministerium mit dieser Einladung die Absicht, international eine andere, positive Botschaft von der Lage in Xinjiang zu verbreiten. Mir war auch klar, wir würden keine Gefängnisse oder Arbeitslager sehen. Aber einmal sehen ist besser als tausendmal hören oder lesen. Ich wollte selbst einen Eindruck von der Situation in Xinjiang gewinnen. Ich wollte besser verstehen, was dran ist an den Berichten von der brutalen chinesischen Repression gegen die Uiguren. Binsenweisheiten wie: “Wo es Rauch gibt, gibt es auch Feuer!” oder "Die Wahrheit liegt in der Mitte.“ reichten mir nicht zur Beurteilung der Ereignisse der letzten 20 Jahre in Xinjiang und zur Einordnung der Horror-Stories über Xinjiang im Westen.

Mein Gesamteindruck aus den drei großen Städten, die wir besuchten (wir waren nicht in den ländlichen Regionen Xinjiangs): Das Leben ist nicht anders als sonstwo in China. Das gilt auch für die Polizeipräsenz und die angebliche Überwachung rund um die Uhr. Im Straßenbild mischen sich Menschen verschiedenster Ethnien. Straßenschilder, offizielle Aushänge etc. sind in Mandarin UND in arabischen Schriftzeichen. Xinjiang wird mit massiven staatlichen und privaten Investitionen entwickelt, den Menschen in der Provinz geht es vergleichsweise gut, sie haben eine Perspektive. Xinjiang mit seinen wundervollen Landschaften ist auch das Ziel von Millionen chinesischen Touristen.

Xinjiang: dreimal so groß wie Frankreich, aber nur 26 Millionen Einwohner

Die Reise war organisiert vom chinesischen Außenministerium zusammen mit der Regierung der uigurischen autonomen Region Xinjiang. Uiguren sind die größte ethnische Gruppe in Xinjiang. Deshalb der besondere Status von Xinjiang als autonomer Region gegenüber anderen chinesischen Provinzen. In der Reisegruppe waren 24 Journalisten, Schriftsteller und Medienvertreter aus 19 Ländern. Die achttägige Tour führte von der Provinzhauptstadt Ürümqi nach Südwesten ins 1.500 km entfernte Kaschgar (chinesisch: Kashi) mit mehrheitlich uigurischer Bevölkerung und in die Region Ily im Nordwesten von Xinjiang an der Grenze zu Kasachstan.

Xinjiang ist etwa dreimal so groß wie Frankreich; es nimmt über 17% der Fläche von ganz China ein. Es grenzt an die Äußere Mongolei, Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Afghanistan und Pakistan. Es ist also “Grenzland", was auch der chinesische Begriff für die Region: Xinjiang = “neue Grenze“ reflektiert. Große Teile sind Wüste oder unwirtliche Hochgebirge; der zweithöchste Gipfel der Welt, der K2, liegt in Xinjiang. Das Gebiet ist dünn besiedelt mit nur 15 Einwohnern pro qkm. Zum Vergleich: In der Provinz Shandong an Chinas Ostküste leben 646 Menschen pro qkm. 2020 hatte Xinjiang knapp 26 Mio. Einwohner, davon 45% Uiguren, 40% Han-Chinesen, außerdem verschiedene andere Ethnien wie Hui, Kasachen, Kirgisen, Mongolen, Tadschiken, Usbeken, Russen und Tibeter.

Xinjiangs strategische Bedeutung in der Kaiserzeit und heute 

Zweifellos ist Xinjiang mit seiner exponierten Grenzlage zu Zentralasien und zum indischen Subkontinent und als Einfallstor ins chinesische Kernland ein begehrtes und umkämpftes geopolitisches Ziel. Für das bis 1911 existierende chinesische Kaiserreich war die Kontrolle und Sicherung der westlichen Grenzen deshalb immer eine strategische Aufgabe. Davon zeugen alte Festungen in der Gegend von Ily nahe der Grenze zu Kasachstan. Für jeweils fünf Jahre schickte der chinesische Kaiser Beamte aus Peking als Kommandanten nach Ily. Wenn sie sich bewährt hatten, wurden sie im System der Meritokratie, der Auswahl nach Leistung, befördert. Als Arbeitskräfte wurden Strafgefangene eingesetzt. Denn Xinjiang war auch kaiserliche Strafkolonie. Und schon im vorletzten Jahrhundert siedelten sich Chinesen aus dem überbevölkerten Ostchina in Xinjiang an.

Nicht nur die chinesischen Kaiser, sondern auch die russischen Zaren wollten Xinjiang kontrollieren, mit wechselndem Erfolg. In den Jahrzehnten nach dem Zerfall des Kaiserreichs 1911 und nach dem Sieg der russischen Oktoberrevolution 1917 über das Zarenreich gehörte dieser Landesteil formal zur Republik China. In Xinjiang wie anderswo in Zentralasien entstanden zu der Zeit politische Bewegungen für nationale Unabhängigkeit. Sie propagierten die Unabhängigkeit Xinjiangs bzw. des vorwiegend von muslimischen Turkvölkern besiedelten Südwestens der Provinz. 1947 wurde mit Unterstützung der sowjetischen KPdSU die kommunistisch geführte Volksrepublik Ostturkestan gegründet. Die Volksbefreiungsarmee unter Mao war zu der Zeit gerade damit beschäftigt, die Bauern in Chinas Landgebieten und schließlich die großen Städte zu befreien. Nach Ausrufung der Volksrepublik China 1949 übernahm die chinesische Regierung auch die Kontrolle über die Grenzprovinzen Tibet und Xinjiang.

Als 40 Jahre später die Sowjetunion zerfiel und die an Xinjiang angrenzenden früheren Sowjetrepubliken ihre staatliche Unabhängigkeit erklärten und aus der Sowjetunion austraten, bekam der uigurische Separatismus einen ganz neuen Schub. Die Nachbarschaft Xinjiangs zu Afghanistan, wo US-gesponsorte Islamisten wenige Jahre zuvor die sowjetischen Besatzungstruppen vertrieben hatten, tat vermutlich ein Übriges. In Xinjiang begann eine Welle des separatistischen, islamistischen Terrors, der wohl erst durch die Repressionskampagne der chinesischen Regierung gestoppt werden konnte.

Ausbildung, Infrastruktur und Wachstum als Basis für Entwicklung 

Gute Ausbildung, funktionierende Infrastruktur und wirtschaftliches Wachstum sind überall auf der Welt die elementaren Voraussetzungen für die gesellschaftliche Entwicklung. Aus Sicht der chinesischen Politik ist dies auch die Basis, um Extremismus und Separatismus erfolgreich zu bekämpfen.

Xinjiang hat viele Bodenschätze – darunter Öl und Gas und Polysilizium als Rohstoff für die Solarindustrie. Die Landwirtschaft bietet Erzeugnisse wie Wein, Obst, Milchprodukte aus dem Nordwesten oder Baumwolle. Ein Viertel der Weltproduktion von Baumwolle stammt aus dieser Region. Ihr Nachteil ist die riesige Entfernung von den wirtschaftlichen und industriellen Zentren: fast 4.000 km bis nach Shanghai, etwas weniger als die Entfernung vom Nordkap bis nach Sizilien. Aber die chinesische Regierung entwickelt Xinjiang jetzt als Brücke nach Eurasien und Europa. Damit wird aus der Randlage der Region ein Trumpf. Denn Xinjiang hat eine zentrale Rolle im geopolitischen Projekt der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative BRI). Das Wirtschaftswachstum in der Region betrug zuletzt 7%.

Schon seit Jahrtausenden wird Xinjiang von Karawanen von Ost nach West und umgekehrt durchquert. Die Ausstellungen in den Museen Xinjiangs belegen die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung dieser alten Handelswege. Heute sind modernste Logistikzentren in Ürümqi für die Route über Kasachstan und im Süden bei Kashgar für den Weg über Tadschikistan entstanden. 2018 wurde der Binnenhafen Ürümqi International Land Port als Knotenpunkt der Neuen Seidenstraße gegründet. Die Neue Seidenstraße kann die geopolitische Rolle Chinas tiefgreifend verändern und für die gesamte eurasische Region neue. Wachstumschancen eröffnen.

Seit Gründung hat dieser «trockene Hafen» in Ürümqi Investitionen in Milliardenhöhe angezogen und sich zu einem Wirtschafts- und Verkehrszentrum mitten auf der zentralasiatischen Landmasse etabliert. China ist darüber mit mehr als 50 europäischen Städten und aufstrebenden Märkten in Zentralasien verbunden. Der Binnenhafen von Ürümqi ist heute eine multimodale Drehscheibe zwischen Schiene, Straße und Luft. Güterzüge verbinden China über Schienenkorridore durch Kasachstan, Russland, Polen und Deutschland.

In den neuen, staatlich finanzierten Industrieparks investieren vor allem Staats- und Privatkonzerne aus Ost- und Südchina. Der Eisenbahnkonzern CRCC baut hier riesige Maschinen zur Baumwollernte. Der staatliche Autokonzern GAC aus Guangzhou im Perlflussdelta hat in Ürümqi ein nagelneues Montagewerk für Elektroautos. Ein Privatunternehmen aus der Technologiemetropole Shenzhen produziert in der Nähe zur Grenze nach Kasachstan Batterien. Für alle Beschäftigten gleich welcher Ethnie gelten die gleichen Arbeitsbedingungen und die gleiche Bezahlung.

Westliche Investoren sind kaum vertreten, obwohl sich hier im äußersten Westen Chinas und in den angrenzenden Ländern neue Märkte entwickeln. Der VW-Konzern hat sein über 10 Jahre bestehendes Montagewerk in Ürümqi geschlossen - wohl auf Druck der USA und von westlichen regierungsfinanzierten NGOs. Ebenso BASF. Auch hinter der nagelneuen Textilmaschinenfabrik der schweizerischen Saurer-Gruppe in Ürümqi mit den Marken Saurer, Emag und Schlafhorst steckt kein westlicher Investor mehr, sondern ein privater Konzern aus Shanghai, die Jinsheng-Gruppe. Die hat schon vor Jahren diese Perlen des europäischen Maschinenbaus übernommen.

Weil Xinjiang dünn besiedelt ist und zudem ein ausgeprägt kontinentales Klima hat mit viel Sonne und Hitze im Sommer und Kälte im Winter, ist es ein idealer Standort für riesige Solarparks. Aus dem Flugzeug gewinnt man einen Eindruck, in welchem Tempo China den Ausbau der erneuerbaren Energien speziell in Westchina vorangetrieben hat.

Chinas Ethnien- und Religionspolitik 

Findet in Xinjiang ein kultureller Genozid an den Uiguren statt? Sollen die Uiguren zwangsweise sinisiert werden? So die inzwischen veränderte westliche Propaganda gegen China, nachdem Horrorgeschichten über Völkermord oder Genozid an den Uiguren nicht belegt werden konnten und international zu wenig Echo fanden.

Auf unserer Reise durch Xinjiang gab es aber keine Hinweise für die Unterdrückung der uigurischen Kultur und der Traditionen und Bräuche. Die Freiheit, die Sprache der eigenen Ethnie oder Nationalität zu nutzen und weiterzuentwickeln, ist in der chinesischen Verfassung festgeschrieben. In Xinjiang erscheinen Zeitungen in insgesamt sechs verschiedenen Sprachen. Die offizielle Zeitung Xinjiang Daily erscheint täglich viersprachig. Verlage publizieren Zeitschriften und Bücher in sechs Sprachen.

Gleichzeitig ist Mandarin die universelle Sprache, die alle Staatsbürger Chinas beherrschen sollen. Bei zwei Besuchen in Kindergärten konnten wir erleben, wie die kleinen Kinder in Mandarin UND in der uigurischen Sprache unterrichtet werden. Auch das Lernmaterial ist mehrsprachig. Waren das Fake-Inszenierungen speziell für unsere internationale Gruppe? Wahrscheinlich nicht. Denn China versteht sich – so die Vorträge von chinesischen Professoren – als multi-ethnischer Staat, der kulturelle Diversität fördert. Das ist die offizielle Politik und nicht etwa die erzwungene Sinisierung der ca. 140 Mio. Staatsbürger, die keine Han-Chinesen sind, sondern Angehörige nationaler Minderheiten.

Eine Randbemerkung: Deutschland mit 25% Staatsbürgern und über 30% Einwohnern nicht-deutscher Abkunft könnte vielleicht von China lernen und die Propaganda von der bio-deutschen, christlich geprägten Leitkultur endlich beerdigen.

Dass China die Bedeutung des Mandarin als universelle Sprache des Landes betont, liegt an den Bemühungen um die Integration der Uiguren und der anderen Ethnien in die Gesellschaft. Eine Ausbildung auf einer einheitlichen sprachlichen Grundlage fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und eröffnet Arbeits- und Studienperspektiven im ganzen Land. Es gebe in China keine erzwungene Integration der verschiedenen Ethnien, Ziel sei die natürliche Integration und die Inklusion aller Ethnien.

Allerdings wird die Turk-Sprache Uigurisch an den Schulen nur bis zur Unteren Mittelschule unterrichtet, wie in allen Regionen ethnischer Minderheiten. Das kann man kritisieren. Auch chinesische Studien zeigen, dass in Han-Schulen in Ürümqi teilweise schon das Sprechen der uigurischen Sprache sanktioniert wird. Der Sinologe Heberer zitiert zahlreiche Berichte chinesischer Wissenschaftler, die diskriminierendes Verhalten von han-chinesischen Funktionären gegenüber Uiguren festgestellt haben. (2)

Zur Kulturpolitik in Xinjiang gehören aber auch über 100 öffentliche Bibliotheken, 60 Museen und 50 Kunstgalerien. Im vorwiegend uigurisch geprägten Kashgar gibt es ein modernes Science Museum über vier Ebenen, das in der Qualität mit dem Deutschen Museum in München vergleichbar ist und das auch neueste Entwicklungen wie KI und Robotik verständlich und erlebbar macht.

In China gilt Religionsfreiheit. Jede/r kann nach seiner Facon selig werden. Moscheen oder buddhistische oder taoistische Tempel oder christliche Kirchen werden von vielen Gläubigen besucht, wie jeder China-Reisende sehen kann. Für Chinas Religionspolitik gilt aber gleichzeitig die Devise, die staatliche Einheit zu sichern und deshalb jede Einmischung von außen zu unterbinden. Das gilt für den Vatikan ebenso wie für fundamentalistische US-Evangelikale, für muslimische Religionskrieger oder für den Dalai Lama.

Die Trennung von Religion und Staat wird strikt vollzogen. Das hindert die chinesischen Staatsorgane aber nicht daran, die Renovierung oder den Neubau von Kirchen, Moscheen und Tempeln zu finanzieren. So hat die Provinzregierung in Ürümqi ein nagelneues Muslim-Institut mit angeschlossenem Internat gebaut, an dem auch künftige Imame ausgebildet werden. Natürlich sollen gläubige Muslime damit auch auf den chinesischen Staat festgelegt werden. Aber das ist allemal besser als etwa die in Deutschland praktizierte Ausgrenzung der islamischen Religionsstätten in triste Gewerbegebiete –bei gleichzeitiger Klage darüber, man wisse nicht, ob da vielleicht Salafisten ausgebildet würden.

Ob –wie im Westen behauptet – im Rahmen der Repression der vergangenen Jahre gegen den islamistischen Terror Moscheen im großen Maßstab planvoll zerstört worden sind, ließ sich nicht in Erfahrung bringen. Aber es ist nicht wahrscheinlich.

Separatismus und Terrorismus und staatliche Repression in Xinjiang 

Eine große Ausstellung in Ürümqi informiert über den Terrorismus und Separatismus in der Provinz und in ganz China. Das Ausmaß des Terrors, den islamistische uigurische Terroristen von 1990 bis 2016 begangen haben, ist im Westen unbekannt. Ich selbst wusste nur von einem Pogrom 2009 in Ürümqi, als uigurische Terroristen mehr als 200 Han-Chinesen töteten und Geschäfte und ganze Straßenzüge abfackelten. Jahre später fuhren uigurische Terroristen auf dem Tiananmen-Platz in Peking mit einem LKW in eine Menschenmenge und töteten dutzende, meistens Touristen. Uigurische Terroristen veranstalteten 2014 auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs Kunming, etwa 3000 km von Urumqi entfernt, mit Macheten ein Massaker mit über 30 Toten. Die USA hatten die verantwortliche Organisation hinter den Massakern, die East Turkestan Islamic Movement ETIM, schon 2002 als terroristische Organisation eingestuft. Aber 2020, noch in der ersten Präsidentschaft von Trump, wurde diese Klassifizierung aufgehoben. 

Es ist sehr wahrscheinlich, dass das CIA-Pentagon-Terrorismus-Franchise im benachbarten Afghanistan im Zusammenspiel mit uigurischen Islamisten eine perfekte Kampagne zur Destabilisierung der Region inszeniert hat.

Spätestens nach dem Massaker 2009 in Ürümqi gab es viele Stimmen vor allem in den sozialen Medien in China, die das Versagen der Regierung kritisierten. Sie hätte die Bürger nicht geschützt, außerdem werde in die Gebiete der ethnischen Minderheiten zu viel Geld gesteckt. Besonders die Uiguren und die Tibeter seien undankbar. Im tibetischen Lhasa hatte es nämlich 2008, punktgenau zur Olympiade in Peking, ein Pogrom gegen Han-Chinesen mit dutzenden Toten gegeben. Ein Schelm, wer dabei an ausländische Einflussnahme denkt!

Nach den Terroranschlägen in Xinjiang wurden in anderen Provinzen Lokalbehörden auf eigene Faust aktiv und stoppten mit der lokalen Polizei Züge mit Arbeitsmigranten aus Xinjiang. Die Züge sollten eigentlich in die Industriegebiete an der Ostküste fahren, mussten aber umkehren. Nach Berichten aus dem Perlflussdelta, dem Herz der “Fabrik der Welt", weigerten sich Unternehmer, Uiguren zu beschäftigen. Das sei ein Sicherheitsrisiko, außerdem könnten sie nicht gut arbeiten.

Gegen diesen Terror, der nicht nur die Sicherheit in Xinjiang bedrohte, sondern die Stabilität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in ganz China in Frage stellte, legte die chinesische Zentralregierung ein massives Repressionsprogramm auf. Es zielte vor allem auf Uiguren. Dabei wurden zeitweilig auch persönliche Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt, wie chinesische Behördenvertreter gegenüber einer Delegation deutscher China-Wissenschaftler offen zugegeben haben. (3) Es kann als sicher gelten, dass Uiguren zeitweilig in Arbeitslager kamen zur Umschulung und politischen Bildung. Aber die in den deutschen Medien ständig wiederholte Zahl von zeitweilig 1-2 Mio. Uiguren in Arbeitslagern erscheint absurd. Das hätte bei ca. 10 Mio. Uiguren insgesamt – inklusive Kleinkindern und Alten – bedeutet, dass alle uigurischen Männer im besten Alter zwischen 16 und 40 weggesperrt waren. Das ist nicht glaubhaft.

Inzwischen hat die chinesische Regierung die gesellschaftliche und politische Situation in Xinjiang offensichtlich erfolgreich stabilisiert. Das hat auch unsere Reise gezeigt. Ob der politische Preis dafür zu hoch war, ist schwer zu beurteilen. An der Reise teilnehmende türkische Journalisten berichteten von keinen Problemen, auf der Straße und privat mit Uiguren ins Gespräch zu kommen. Uigurisch ist eine Turksprache. Nur manchmal habe es Unsicherheiten gegeben.

Nachwort: Kognitive Kriegsführung des Westens gegen China 

Nach der Reise lässt sich feststellen, dass das Ausmaß der westlichen Desinformation über Xinjiang auch die Vorstellungen eines kritischen Medienkonsumenten sprengt. Die Wahrheit über den Terror und die Repression in Xinjiang liegt nicht in der Mitte, sondern ziemlich auf der Seite Chinas. Leider konnte China seine eigene Darstellung im Westen offensichtlich nicht rüberbringen. 

Dagegen waren Journalisten und Medienvertreter aus dem sog. Globalen Süden mit einer ganz anderen Sicht auf die Ereignisse nach Xinjiang gekommen.

In einem Vortrag mit der Überschrift “Cognitive warfare or journalistic practice information. Manipulation by some countries” befasste sich Prof. ZHENG Liang von der Jinan University mit der westlichen Berichterstattung über Xinjiang speziell und über China im Allgemeinen.

Ein paar Highlights aus seinem Vortrag:

  • In den Fotosammlungen im Netz und in Printmedien von angeblich eingekerkerten Uiguren sind auch Bilder von Schauspielern aus Hongkong.
  • In der BBC-TV-Berichterstattung über China und Xinjiang erscheint China immer im Grauschleier, auch wenn chinesische Bilder vom selben Ort und zur selben Zeit blauen Himmel zeigen.
  • Die zeitweilige FBI-Mitarbeiterin Sibel Edmonds berichtete auf der Plattform X, dass die USA zwischen 1996 und 2002 jede einzelne terroristische Aktion in Xinjiang geplant, finanziert und bei der Ausführung unterstützt haben.

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Fußnoten

(1) Philipp Mattheis: “Ein Volk verschwindet. China und die Uiguren”, Berlin 2022

(2) Thomas Heberer: “Sicherheitsdilemma und Nationsbildung: Politisch-gesellschaftliche Hintergründe der Entwicklung in Xinjiang’, in: siehe Fußnote 3

(3) Gesk, Heberer, Paech, Schaedler, Schmidt-Glintzer: “Xinjiang – eine Region im Spannungsfeld von Geschichte und Moderne. Beiträge zu einer Debatte”, Münster 2024

Die Ostseeregion – tausend Jahre Kriege ohne Ende

Sa, 01/11/2025 - 09:20

Die Ostseeregion war in der Vergangenheit bis in das 20. Jahrhundert hinein ständiger Schauplatz erbitterter Konflikte und Kriege zwischen den Völkern. Nun droht sie erneut zum Kriegsschauplatz zu werden. Und Russland steht wieder als Feind auf der Tagesordnung.

Dabei in vorderster Reihe die baltischen Staaten. Für den estnischen EU-Abgeordneten Riho Terras, Mitglied der Fraktion der EVP (Christdemokraten) und ehemaliger Generalstabschef seines Landes, stellt die russische Bedrohung ein historisches Muster dar: „Ein russischer Angriff ist jederzeit möglich. Da sind wir nicht blauäugig. In den letzten tausend Jahren wurden wir 42-mal von Russland angegriffen – im Schnitt alle 25 Jahre“ (Terras, 2025).

Hier wird Geschichte instrumentalisiert und gerät zu mythenbildender Geschichtspolitik mit polemisch zugespitzter Zahlenspielerei für die Feindbildproduktion, zumal es vor tausend Jahren auch noch gar keinen Staat Estland gab. Allerdings sind Mythen- und Symbolbildung in unterschiedlichen Formen und Farben keinem Staat und keiner Gesellschaft fremd. So dient auch im nahen Russland seit 2005 die Befreiung Moskaus von polnischen Truppen und das Ende polnischer Besatzung im Jahre 1612 wieder als ein nationales Symbol. Daran wird mit einem Gedenktag am 4. November erinnert. Nach der Oktoberrevolution war er gestrichen worden.

Vor diesem Hintergrund soll ein Blick auf die wechselvolle Geschichte in der Ostseeregion und des Baltikums geworfen werden. Eingangs werden einige wichtige Entwicklungslinien und die Bedeutung des Kriegsschauplatzes Baltikum kurz vorgestellt. Dem schließen sich Stationen des Aufstiegs Russlands zur Großmacht an Ostsee und in Europa an, wobei der I. und II. Weltkrieg nicht behandelt werden. Mit Ausnahme eines kurzen, wenig bekannten Krieges zwischen beiden Kriegen, dessen Auswertung für die Kriegführung Deutschlands im I. Weltkrieg entscheidend war.

Das Hochmittelalter – Beginn von Ostexpansion, Kreuzzügen, Konflikten und pausenlosen Kriegen

Der Beginn dieser Entwicklungen ist eng mit dem Entstehen (ständischer) Nationen verbunden, die durch das Scheitern der universalistischen Mächte Kaiser und Papst entstanden waren und in Konkurrenz gerieten. Wichtig für Kriege dazu der große religiöse Bruch im Jahre 1054 zwischen dem lateinisch-römischen und griechisch-orthodoxem Glaubens- und Lebensraum und die sich allmählich abzeichnenden Auseinandersetzungen zwischen Protestantismus und Katholizismus. So wurde die von vielen Völkerschaften umgebene Ostsee zu einer von Macht- und Herrschaftsinteressen durchdrungenen Region, stets auf der Suche nach Machtausbau, Landgewinn, ausbeutbaren Agrar- und Waldflächen, künftigen Geldquellen und lukrativen Handelsgeschäften unter Einsatz aller dafür notwendigen Mittel und Methoden. Und im Zuge der Ostexpansion richtete sich der Blick immer wieder auch auf Russland mit seiner gewaltigen Landfläche, den enormen Ressourcen und begehrten Handelswaren. Und für Russland rückte der Kampf um den freien Zugang seines Handels zur Ostsee und für seine wirtschaftliche Entwicklung mehr und mehr in den Mittelpunkt.

Das große Ringen um Macht und Herrschaft in der Ostseeregion

Über Jahrhunderte wurde hier um Macht und Herrschaft untereinander und gegeneinander zwischen Dänemark, Schweden, Deutschland und Polen (Polen-Litauen) und Russland gerungen:

  • Der Deutsche Orden, militärisch straff organisiert, eroberte an der Ostseeküste große Gebiete. Das Kolonialreich bestand von 1230 bis 1561 und umfasste in etwa das Gebiet des späteren West- und Ostpreußens und im Baltikum das des heutigen Estland und Lettland (damals Livland genannt). Der Deutsche Ordensstaat wie auch die Ostkolonisation insgesamt begünstigten den Aufstieg der Deutschen Hanse.
  • Die Deutsche Hanse beherrschte den Ostseehandel über zwei Jahrhunderte und schloss russische wie andere Kaufleute in dieser Zeit fast völlig vom Handel aus. Nach Blütezeit und beginnendem Abstieg der Hanse wurde der russische („moskowitische“) Außenhandel zunehmend von holländischen und englischen Kaufleuten bis in das 17. Jahrhundert hinein beherrscht. Russland sollte weiter daran gehindert werden, zu einer militärischen und wirtschaftlichen Großmacht aufzusteigen.
  • Schweden, Litauen und Polen konnten sich gegenüber Ordensstaat und Ostkolonisation behaupten und selbst nach Finnland bzw. in das von der Mongoleninvasion geschwächte Russland (genauer die „Rus“) hinein expandieren, erleichtert zudem dadurch, dass es politisch schon länger zersplittert war in häufig untereinander verfeindete Fürstentümer. Polen konnte sich zwar gegenüber dem Deutschen Orden behaupten, wurde durch ihn aber für 157 Jahre von der Teilnahme am Ostseehandel bis zum 2. Frieden von Thorn im Jahre 1466 ausgeschlossen.
  • Schweden wurde nach Verlassen der konfliktreichen Kalmarer Union (1523) mit Dänemark zum erfolgreichen Rivalen Dänemarks im Kampf um die Ostseeherrschaft, dem Dominium maris baltici. Dänemarks dominierende Rolle in der Ostseeregion ging mit dem Frieden von Roskilde (1658) zu Ende. Es beherrschte lange den Zugang zur Ostsee, den Sund. Der Sundzoll bildete die wichtigste Einnahmequelle der Monarchie. Ungeachtet der Kriege und Konflikte mit Russland blieb Polen wichtigster Gegner Schwedens. Ursächlich bedingt durch verwandtschaftliche und dynastische Verflechtungen folgte daraus eine nur durch zeitlich befristete Waffenstillstände unterbrochenen Ära polnisch-schwedischer Kriege, die insgesamt bis 1660 andauern sollte.
  • Das Unionskönigreich Polen-Litauen wurde während des 15. Und 16. Jahrhunderts zum mächtigsten politischen Gebilde des östlichen Europas und reichte von der Ostsee bis weit in die heutige Ukraine hinein. Zu dieser einzigartigen Machtstellung verhalfen Siege gegen den Deutschen Orden und die Schwäche russischer Fürstentümer.
Das Baltikum – Zündstoff und Zentrum für Gewalt und Krieg

Besonderen Zündstoff für Kriege bildete das Baltikum. Es war mit seinen Häfen und Handelsplätzen sowie der nahen Einmündung der Newa in die Ostsee von strategischer Bedeutung für den Handel nach Westen wie nach Osten mit seinen Zugängen zu nahen russischen Handelszentren (Nowgorod, Pskow) und weiter über Wasserwege und den Dnjepr, das Schwarze Meer bis Byzanz und zur Seidenstraße. Es wurde zum Kriegs- und Aufmarschgebiet für den Deutschen Orden, für Schweden, Polen und Russland. Und die Herrschaft über das Baltikum bildete in der frühen Neuzeit den Schlüssel für das Dominium maris baltici. Vom Baltikum aus starteten die Invasionen Schwedens und des Deutschen Ordens nach Russland. Doch sie scheiterten 1240 an der Newa-Mündung und auf dem Eis des Peipussees 1240. Beide wollten die strategische und wirtschaftliche Kontrolle über den lukrativen Ostseehandel Russlands und dessen Zugang zur Ostsee haben. Schwedens Expansionspolitik ab 1560 und richtete sich erneut nach Osten und beginnt im Baltikum. Wesentlich dafür sind starke wirtschaftliche und fiskalische Interessen am Russlandhandel. Später setzte Schweden – inzwischen zur regionalen Großmacht aufgestiegen – alles daran, Russlands wirtschaftliche und militärische Entwicklung zu behindern. So blockierte es den Zugang Russlands zur Ostsee für fast hundert Jahre von 1617 an bis zu dessen Sieg im Großen Nordischen Krieg im Jahre 1721.

Zwischen 1492 und 1582 führten Moskau und Polen-Litauen bzw. das bis 1561 unter Deutscher Ordensherrschaft stehende Livland insgesamt sechs Kriege gegeneinander. Während der Hälfte dieser Zeit herrschte Krieg, der wechselseitig erbarmungslos geführt wurde. Dementsprechend gestaltete sich jeweils die Wahrnehmung des Feindes. Das im Westen des Kontinents verbreitete Bild vom „asiatischen, barbarischen Russland“ ist in dieser Zeit grundgelegt und entstand an der katholischen Universität Krakau.

Druck erzeugt Gegendruck: Russlands Kriege um Zugang zur Ostsee

Die jahrhundertelang währenden Behinderungen russischen Handels bis hin zur Blockade des Zugangs zur Ostsee wurden für Russland ein zum Kriege treibendes Motiv. Entscheidend war, endlich an der Ostsee eine Basis für einen unabhängigen Außenhandel zu gewinnen und mit den Einnahmen die wirtschaftliche Modernisierung des Landes und des Militärwesens voranzutreiben. Ab Ende des 15. Jahrhunderts begann deshalb eine ganze Serie von Kriegen unter Iwan III. und Iwan IV. und ihren Nachfolgern für den freien Zugang zur Ostsee. Die Auseinandersetzungen mit Schweden und Polen im Baltikum endeten aber allesamt in Niederlagen.

Erst mit dem Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1720 wendete sich das Blatt. Ein Bündnis bildete sich mit Russland, Polen und Dänemark gegen Schweden. Sie hatten allesamt unter der Expansion Schwedens gelitten. Nach anfänglicher Niederlage des Bündnisses rüstete Russland dann in kurzer Zeit massiv auf und konnte König Karl XII. vernichtend 1709 in der Schlacht von Poltawa schlagen. Der lange Krieg endete zwischen Russland und Schweden mit dem Frieden von Nystad 1721. Schwedens Rolle als Großmacht war gebrochen. Schwedisch-Ingermanland, Estland, Lettland sowie Südkarelien gehörten nun zu Russland. Der Zugang zur Ostsee war dauerhaft gesichert. Russland stieg durch diesen Sieg endgültig zum beherrschenden Akteur in der Ostseeregion auf, gehörte nun zum Kreis der europäischen Großmächte und bestimmte deren Politik zunehmend mit. Gleichzeitig wurde die Ostsee ab dann durch den britisch-russischen Gegensatz beherrscht. Englands Interesse richtete sich darauf, ein Übergewicht Russlands im Ostseehandel zu verhindern.

Napoleons Russlandfeldzug 1812 endet in einer Katastrophe

Die Ergebnisse der Französischen Revolution von 1789 gerieten immer mehr unter Druck der konservativen Großmächte Österreich, Preußen, Russland und England. Frankreich unter Napoleon Bonaparte nahm deshalb seine frühere Expansionspolitik wieder auf. Der größte Gegner blieb England. Frankreich beherrschte zwar – militärisch hochgerüstet – den Kontinent, konnte aber die englische Vorherrschaft auf See nicht brechen.

Deshalb versuchte Napoleon Bonaparte das Ziel an Land mit einer „Kontinentalsperre“, einer Wirtschaftsblockade, zu erreichen. Doch Zar Alexander I. wollte weder dem Hegemonieanspruch Napoleons folgen noch den Abbruch des Handels mit seinem inzwischen wichtigsten Partner England riskieren. Schwedische Besitz- und Handelsinteressen standen ebenfalls dagegen und Russland wurde sogar militärische Hilfe in Aussicht gestellt. Napoleon versuchte den Zaren deshalb mit einem Feldzug 1812 zum Nachgeben zu zwingen. Seine weit überlegene Armee kam zwar bis Moskau, konnte aber Russland nicht besiegen und der Feldzug endete in einer Katastrophe. Unter den Soldaten aus ganz Europa waren auch über

70 000 Polen. Sie setzten ihre Hoffnungen auf vage und hinhaltende Versprechungen Napoleons zur Wiederherstellung des Staates Polen („Rzeczpospolita“) nach einem Sieg über Russland. Denn Polens Staatlichkeit war durch Russland, Österreich und Preußen mit drei Teilungen in den Jahren 1772, 1793 und 1795 beendet worden. Der einst mächtige Doppelstaat Polen-Litauen war von der Landkarte Europas für 123 Jahre bis 1918 verschwunden und hatte der „polnischen Frage“ Platz gemacht.

Polens Krieg für alte Größe mit der Sowjetunion (1920 – 1921) – Siegfrieden, Lehren und Folgen

Nach dem Ende des I. Weltkrieges entstand der Staat Polen aus den Trümmern dreier Kaiserreiche. Staatschef Pilsudski akzeptierte die provisorisch festgelegte Curzon-Linie als polnische Ostgrenze nicht. Polen sollte wieder die Größe wie bis 1772 haben und damit wie vor den Teilungen. Das führte zum Krieg mit der Sowjetunion, der 1921 mit dem Frieden von Riga beendet wurde. Er war mit deutlichen Nachteilen für die Sowjetunion verbunden und wurde unter der Bedingung geschlossen, dass sie auf die von Polen beanspruchten Ostgebiete jenseits der Curzon-Linie verzichtete. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt wurde die Curzon-Linie als Grenzverlauf wieder festgeschrieben.

Von großer militärischer Bedeutung für die Kriegführung waren die Lehren aus diesem Krieg, der in Militärakademien in Ost wie in West genau studiert wurde. Er wurde als letzte Reiterschlacht geführt, also mit wenigen Waffen, aber äußerst beweglichen Verbänden.

Deutlich wurde, dass Panzer als neues Waffensystem genau dieselbe Art von mobilen Fähigkeiten wie Reiterverbände hatten. Der sowjetische Marschall Tuchatschewski erkannte das als einer der ersten in aller Klarheit. Er begann, Rüstung und Strategie der Roten Armee für die Zukunft auf diese Fähigkeiten hin auszurichten. Er konnte aber seine Arbeiten nicht fortsetzen, da er dem Terror Stalins zum Opfer fiel. Deshalb war Deutschlands Blitzkriegsstrategie anfangs des Russlandfeldzuges mit schnellen, tiefen Vorstößen von Panzerverbänden in Verbindung mit Luftunterstützung so erfolgreich. Entscheidend an der Strategieentwicklung war Panzergeneral Guderian beteiligt, der die damalige Kriegführung genau studiert hatte. Möglicherweise hätte der Krieg gegen die Sowjetunion schon zu Beginn eine andere Wendung nehmen und vielleicht ein kurzer sein können.

Nach Ende der Blockkonfrontation weiter mit Konflikt und Gewalt

Die Ostseeregion droht erneut zum Kriegsschauplatz zu werden. Die wachsende Militarisierung der gesamten Region kündet davon. Vergessen wird, wie schwer Ostsee und große Teile angrenzender Länder durch beide Weltkriege gelitten haben. Man richtet auch nicht mehr den Blick auf die Schrecken des I. und II. Weltkrieges mit insgesamt fast fünfundsiebzig Millionen Toten, dazu Millionen Verletzten und Vertriebenen, zerstörten Städten, Fabriken und Landschaften. Vergessen, dass das Deutsche Kaiserreich entscheidend zum Kriegsausbruch 1914 beigetragen hat. Verdrängt, dass der Nationalsozialismus mit dem Ostfeldzug im II. Weltkrieg auf die Auslöschung der „slawischen Untermenschen“ zielte – die genozidale Züge aufweisende Leningrad-Blockade war Teil der Strategie – und auf Gewinnung „neuen Lebensraums“ und dessen Ressourcen. Bewusst abgehakt die Erfahrungen und Erkenntnisse nach Ende des II. Weltkrieges aus dem waffenstarrenden Kalten Krieg mit Schritten zu Abrüstung, Entspannung und gemeinsamer Sicherheit. Sie sind nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht genutzt und weiterentwickelt worden. Mit der NATO- Osterweiterung seit den 1990er Jahren wurde das legitime Sicherheitsinteresse Russlands übergangen und der lange Weg zu dessen Krieg mit der Ukraine, zu Eskalation statt Entspannung beschritten (Verheugen, Erler, 2024). Das alte Feindbild Russland ist wieder  voll entflammt. Und Geschichte wiederholt sich in neuen Formen: jahrzehntelange Zusammenarbeit zur Versorgung mit Öl und Gas ist beendet, ein Pipelinestrang Nordstream- Pipeline durch Sabotage zerstört, umfassende Sanktionspakete zur Strangulierung russischer Wirtschaft sind auf den Weg gebracht. Inzwischen wachsen Kriegsgefahren durch immense Aufrüstungen, fehlende Abrüstungsschritte und die bereits vor Jahren begangenen, einseitigen Kündigungen des ABM- und INF-Vertrages seitens der USA. Der alte Kampf für Frieden, Abrüstung, Zusammenarbeit und Völkerverständigung bleibt weiter auf der Tagesordnung.

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Literatur:

Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens, Reclam Verlag, Stuttgart 2003; Gitermann, Valentin: Geschichte Russlands Bd 1-3, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1949;

Hofbauer, Hannes: Feindbild Russland – Geschichte einer Dämonisierung, Promedia Verlag, Wien 2016;

Komlosy, Andrea; Nolte, Hans-Heinrich, Sooman, Imbi (Hg.) Ostsee 700 – 2000. Gesellschaft-Wirtschaft-Kultur, Promedia Verlag, Wien 2008;

Lehnstaedt, Stephan: Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919 – 1921 und die Entstehung des modernen Osteuropa, Beck Verlag, München 2019;

Luhmann, Jochen: unveröffentlichter Entwurf für eine Buchbesprechung zu Stephan

Lehnstaedts Buch „Der vergessene Sieg….“, 2020);

Nolte, Hans-Heinrich: Geschichte Russlands, Reclam Verlag, Stuttgart 2024;

Schildhauer, Johannes; Fritze, Konrad; Stark, Walter: Die Hanse, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1981;

Terras, Riho: „Wenn die Russen kommen, schiesst in Estland jeder Baum“, Interview mit Lara Lattek, aktualisiert am 17.6.2025, in: https://www.gmx.ch/magazine/politik/russland-  krieg-ukraine/riho-terras-russen-schiesst-estland-baum-41083006; Abruf: 23.6.2025; Topolski, Jerzy: Die Geschichte Polens, Verlag Interpress, Warszawa 1985;

Verheugen, Günter; Erler, Petra: Der lange Weg zum Krieg, Wilhelm Heyne Verlag München 2024.

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Detlef Bimboes ist Mitglied im Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin

Die reichsten Deutschen – wie sich Macht und Vermögen verteilen

Do, 23/10/2025 - 15:18

Zur gleichen Zeit, in der die CDU/CSU-SPD-Koalition neue Scheußlichkeiten ausbrütet, um Bürgergeldbezieher noch mehr zu kujonieren, ihnen damit drohen, bei Terminversäumnissen das Bürgergeld um 30% bis zu 100 % zu kürzen, ja selbst die Wohnungskosten nicht mehr zu übernehmen (aber damit wird, laut Merz, "niemand in die Obdachlosigkeit getrieben"), veröffentlicht das Manager Magazin sein alljährliches Sonderheft über den Reichtum in Deutschland: "Die 500 Reichsten Deutschen. Wie sich Macht und Vermögen verteilen."

Scheinbar kritisch (aber durchaus richtig!) schreibt die Redaktion über ihre Reichenliste: "Noch nie war sie so notwendig wie heute. Denn Vermögen bedeutet Macht." Und über die Verteilung von Vermögen und Macht soll mit der Veröffentlichung Transparenz hergestellt werden. Ja, selbst Thomas Piketty ("Das Kapital im 21. Jahrhundert") wird zitiert, der die Debatte um die wachsende Ungleichheit in westlichen Gesellschaften enorm beschleunigt habe.

Festgestellt wird: "Obwohl die deutsche Wirtschaft seit drei Jahren stagniert, gibt es hierzulande… immer mehr Milliardäre" – ihre Zahl stieg von 226 auf 256. Sieht man sich nur die hundert Reichsten an, so hat sich ihr Vermögen seit 2001 (dem ersten Jahr der Reichenliste) von 263 Mrd. Euro auf 758 Mrd. Euro in 2025 fast verdreifacht; das Bruttoinlandsprodukt hat sich im selben Zeitraum "nur" verdoppelt. Damit stieg der Anteil der Top 100 am BIP von 12% auf 17,7%. Und auch seit dem letzten Jahr, mit einer Wirtschaft in der Rezession, ging es "für die meisten der Top 500 auch im vergangenen Jahr vermögensmäßig bergauf" – erfreulich, nicht wahr?

Aber auch eine beunruhigende Frage wird aufgeworfen: "Werden Milliardäre bald höher besteuert?" – "Nicht auszuschließen", lautet die Antwort. Aber gemach: Zwar plädiere die Regierungspartei SPD in ihrem Wahlprogramm dafür, jedoch: "Mit dem Koalitionspartner CDU/CSU dürfte das allerdings kaum umsetzbar sein." Wohl wahr: Wenn es dafür nicht eine breite gesellschaftliche Bewegung unter Einschluss der Gewerkschaften gibt, müssen sich die Superreichen auch in den kommenden Jahren keine Sorgen machen.

Einige Einzelheiten: Der reichste Deutsche ist, wie schon im letzten Jahr, Dieter Schwarz, der sein Geld mit Einzelhandel (Lidl, Kaufland), Entsorgung, IT und Immobilien "verdient", mit 46,5 Mrd. Euro; verdienstvoll vom Manager Magazin ist es, dass bei allen Reichen die Quellen ihrer Vermögen aufgeführt werden. So werden bei den mit 36,5 Mrd. Zweitplatzierten, den Familien Susanne Klatten und Stefan Quandt, nicht nur BMW, sondern auch ihre Beteiligungen an sehr unterschiedlichen Firmen aufgeführt. Die Familie Porsche findet sich nach einem herben Rückgang von knapp 4 Mrd. Euro im Vergleich zum Vorjahr mit 15,5 Mrd. Euro auf Platz 12, die Schäfflers wiederum (Autozulieferer, Maschinenbau), die einen großangelegten Arbeitsplatzabbau durchführen, rückten mit einem Zuwachs von 2,5 Mrd. auf 10,1 Mrd. Euro um einige Plätze nach oben, auf Platz 21. Auch Medienunternehmer wie Mohn (Bertelsmann, Platz 29 mit 7,2 Mrd. Euro Euro), Familie Holtzbrinck (3,3 Mrd., Platz 79), Friede Springer und Mathias Döpfner (Springer Verlag, 2,9 Mrd. Euro und Platz 94) finden sich unter den Milliardären.

"In Deutschland stieg 2024 das Gesamtvermögen der Superreichen um 26,8 Milliarden US-Dollar auf inzwischen 625,4 Milliarden US-Dollar. Neun Milliardäre kamen hinzu, insgesamt seien es jetzt 130. Deutschland (83,5 Mio. Einwohner) hat damit nach den USA (345 Mio. Einwohner), China (1.437 Mrd. Einwohner) und Indien (1.417 Mrd. Einwohner) die meisten Milliardäre." (Oxfam "Bericht "Takers not Makers", 20.1.2025)

Das Magazin stellt fest: "Lange Jahre schien es, als sei Deutschland ein Land des alten Geldes – im Gegensatz etwa zu den USA." Doch seit 2001 tauchen auch Tech-Milliardäre auf wie etwa Dietmar Hopp (Platz 11 mit 15,8 Mrd. Euro) und Hasso Plattner (Platz 9 mit 17,7 Mrd Euro), beide SAP-Gründer.

Familie Kraut, die mit Elektrogeräten ("Bizerba") ein Vermögen von "nur" 450 Millionen scheffelte und damit am Ende der Reichstenliste zu finden ist, hat ihr Mitglied Nicole Hoffmeister-Kraut als Wirtschaftsministerin in die baden-württembergische Landesregierung geschickt. Diese direkte Wahrnehmung von "politischer Verantwortung" ist, im Gegensatz zu den USA, noch (?) ungewöhnlich für die Kaste der Allerreichsten.

"Als schnellster Weg, reich zu werden, gilt gemeinhin das Erben.", schreibt das Manager Magazin. Und bringt als Beispiel für "dumm gelaufen" die Erben von Heinz Hermann Thiele (Knorr Bremse), die bei seinem Tod ein Vermögen von 15 Mrd. Euro erbten; allerdings hatte er juristisch ungenügend vorgesorgt, sodass sie an den Freistaat Bayern (die Erbschaftssteuer ist eine Ländersteuer) 4 Mrd. Euro zahlen mussten. Mit 9 Mrd. Euro und Platz 23 geht es den beiden Töchtern aber wahrscheinlich doch recht gut.

Steuerpolitik im Interesse der Superreichen

Superreiche und ihre Konzerne profitierten weltweit von Steuersenkungen und großzügigen Ausnahmeregelungen, während die Steuern für Milliarden von Menschen stiegen. In Deutschland spielen Lobbyverbände wie „Die Familienunternehmer e.V.“ und die „Stiftung Familienunternehmen und Politik“ bei der Durchsetzung einer solchen Steuerpolitik eine wesentliche Rolle. Das Ergebnis: Milliardärinnen und Multimillionärinnen zahlen vielerorts weniger Steuern auf ihr Einkommen als der Rest der Bevölkerung.

Gewinne für Superreiche durch steigende Konzernmacht

Weitere Vorteile für Superreiche ergeben sich aus der zunehmenden Monopolisierung der Wirtschaft. Einzelne Branchen werden von immer weniger Unternehmen dominiert. Die 20 reichsten Menschen der Welt sind EigentümerInnen oder GroßaktionärInnen von Großkonzernen, von denen viele durch eine marktbeherrschende Stellung so mächtig wurden. Aus Oxfams Bericht zu sozialer Ungleichheit. Milliardärsmacht beschränken, Demokratie schützen.
 

Die Reichstenliste "bietet Nutzwert für Menschen, die sich professionell mit Hochvermögenden befassen.", schreibt die Redaktion. Aber auch für Menschen, die sich mit einem Gesellschaftssystem nicht abfinden wollen, in dem die Reichsten immer reicher und mächtiger werden, haben diese Sonderhefte mit ihren akribisch zusammengestellten Zahlen und Fakten großen Nutzwert für gewerkschaftliche und politische Arbeit.

„Vertrauenskrise“ des Kapitalismus in Deutschland – doch wem nützt es?

Do, 23/10/2025 - 11:27

Der „Herbst der Reformen“ zeigt wenig Wirkungskraft: Die eingesteuerten politischen Maßnahmen der Deregulierung, steuerliche Entlastungen für Industrie-Konzerne sowie die Einsparungen für soziale Errungenschaften vermögen es nicht, das verloren gegangene Vertrauen deutscher Unternehmen in die Zukunft aufzuhalten.

Die vom Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag von FTI-Andersch durchgeführte Befragung von 169 Industrieunternehmen, Mitte Oktober 2025, liefert Erkenntnisse des verbreiteten Zukunfts-Pessimismus in Deutschlands zentralen Industrie-Branchen. Ein erheblicher Teil der Firmen (51 %) bezweifelt die eigene künftige Wettbewerbsfähigkeit und prognostiziert Stagnation oder Abschwung im Geschäftsverlauf der nächsten zwölf Monate. Besonders betroffen geben sich die Auto-Zulieferer: 60 Prozent von ihnen sehen keine Chancen mehr, eine Geschäftstätigkeit im boomenden Automarkt China aufzunehmen, und über die Hälfte der Maschinenbauer befürchtet, die derzeit in Teilbereichen noch angenommene Technologieführerschaft bald an internationale Wettbewerber zu verlieren. Unternehmen energieintensiver Sektoren, etwa aus Chemie und Stahl, geben zu 94 Prozent an, eine Verlagerung ihrer Produktionsanlagen ins Ausland ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Globale Unsicherheiten, wirtschafts- und geopolitische Krisen sowie Störungen in den Lieferketten verstärken die Herausforderungen aus Sicht der Betriebe. 83 % der Studien-Teilnehmer berichten von einer deutlich erschwerten Planbarkeit, infolgedessen 63 % ihre Investitionen verschieben.

Die jüngsten Reformmaßnahmen der Bundesregierung werden von den Unternehmen bislang wenig als Erfolgstreiber empfunden und das Zutrauen in eine starke Reform-Politik bleibt aus. (1) Laut der Studie beurteilen 83 Prozent der Unternehmen die Planung der Geschäftsentwicklung der kommenden Monate inzwischen als sehr schwierig und demzufolge verschiebt jeder zweite der Befragten (63 Prozent) anstehende Investitionen.

Der gewählte Studientitel „Deutsche Unternehmen verlieren ihr Vertrauen an die Zukunft“ offenbart anscheinend eine massive „Vertrauenskrise“ im deutschen Industriesektor und führt zu der Annahme, dass die Industriebranche nicht mehr auf die Wirtschaftskraft eines exportlastigen, aber innovations-retardierenden Volkswirtschaft vertraut und den Versprechen der politischen Entscheidungsträger immer weniger Glauben schenkt. Gemeint sind hier die großmannsüchtigen Ankündigungen der aktuellen CDU/CSU/SPD-Regierung, dass im Sinne deutscher konkurrenzfähiger Wirtschaftspolitik jetzt alles besser und der Abstiegssog bald „reformerisch“ gestoppt werde. (2); (3)

Nach Auffassung der mit der Befragung beauftragten Beratungs-Firma FTI-Andersch zeigt die Studie, dass viele Unternehmen selbst zu verantwortende strukturelle Probleme in ihren Geschäftsmodellen hätten und Deutschland nicht nur aufgrund schlechter externer Rahmenbedingungen im internationalen Wettbewerb zurückgefallen sei.

Neben den Beispielen Maschinenbau und Chemie-u. Stahl-Industrie führt die Studie aus, dass es 8 von 10 Firmen der Autozuliefer-Branche nicht gelungen sei, an dem mächtig wachsenden Elektro-Automobilmarkt China teilzuhaben und den Rückgang der Belieferung deutscher Automobilunternehmen dadurch mindestens zu kompensieren.

Einen Ausweg sehen 79 Prozent der Auto-Zulieferer durch die Ausweitung ihrer Tätigkeit in anderen Branchen wie etwa der Energiebranche, der Medizintechnik, der Luftfahrt oder der Bahntechnik und vor allem durch die Ausweitung und Teilhabe an dem in Deutschland sich aufblähenden Rüstungsbereich. Die Aussichten auf eine Teilhabe an den schuldenfinanzierten Rüstungs-Milliarden drängt die Auto- und Zulieferbranche zur Geschäftserweiterung. Eine solche Teilhabe am Bau von Panzern und Drohnen wäre für die Zulieferbranche und Auto-Konzerne eine profitable Erweiterung ihres angestammten Geschäftsfeldes ziviler Fahrzeug-Produktion. (4)

Während führende Wirtschaftsinstitute noch argumentieren, die Rückgänge bei Auftragseingängen, Absatz, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit seien normale zyklische Schwankungen, erkennen inzwischen selbst Vertreter dieser Schulen, dass es sich um strukturelle Krisenerscheinungen handelt. Diese lassen sich nicht mehr durch kurzfristige Reformprogramme, Zugeständnisse an die privatwirtschaftlichen Unternehmen sowie Ausgaben-Kürzungen sozialer Leistungen in das „Lot“ der kapitalistischen Wirtschaftslogik zurückführen, sondern erfordere einen grundlegenden wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Umbau. (5)

Es handelt sich also um strukturell geprägte Widersprüche, die sich aus den sich verschlechternden Verwertungsbedingungen der spätkapitalistischen Produktionsweise ergeben. So räumt auch die Bundesbank ein, dass die deutsche Wirtschaft in einer längeren Phase verhaltener Wachstumsperspektiven, erforderlicher struktureller Anpassungen und sozialen Verwerfungen stehe. Derartige makrowirtschaftliche Prognosen der Bundesbank, des ifo-Instituts und des Instituts der deutschen Wirtschaft führen aus, dass die Ursachen weit über zyklische Abschwächungen hinausreichen und auf eine mehrdimensionale Strukturkrise hindeuten. Sie legen den Schluss nahe, dass die deutsche Wirtschaft vor einem Übergang zu einem postindustriellen, durch Wohlstandsverluste und Fragmentierung geprägten Entwicklungszyklus stehe. (6) Die Analysen räumen ein, dass ein tiefgreifender Wandel der gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen anstehe, der auf die strukturellen Widersprüche innerhalb der spätkapitalistischen Produktionsweise verweist.

Diese Widersprüche entspringen aus gesellschaftskritischer Sicht aber nicht einzelnen Fehlentwicklungen oder kurzfristigen Marktstörungen, sondern sind den sich verschlechternden Verwertungsbedingungen des Kapitals selbst zuzuschreiben.

Schwindendes Vertrauen der Unternehmen – in was?

So betrachtet ist die Aussage der zuvor zitierten Allensbach-/FTI-Studie, dass deutsche Unternehmen eine Phase großen Vertrauensverlusts in ihr eigenes kapitalistische Wirtschaften „durchmachen“, eher als moralischer oder psychologischer Zustandsbericht zu bewerten, der die ideologische Struktur des bürgerlichen Bewusstseins widerspiegelt.

Die eigentliche Grundlage der wirtschaftlichen Stagnation eines Produktionsprozesses wird demgegenüber in der Studie nur als Randnotiz erwähnt, bei dem die Organisation, Steuerung und Zielsetzung der Produktion primär auf die Erzielung von Profit ausgerichtet ist und die wirtschaftliche Verwertbarkeit und maximale Kapitalrendite als Wirtschaftsziel bestimmt.

Besonders für Deutschland ist es in der jetzigen Wirtschaftssituation zutreffend, dass die über Jahre auf Waren-Export basierende Profit-logik zunehmend an ihre inneren und äußeren Grenzen stößt: Globale Märkte sind weitgehend erschlossen, natürliche Ressourcen übernutzt und technologische Rationalisierung führt zu einer Entwertung menschlicher Arbeit in einem Ausmaß, das den Übergang zu neuen Zyklen der Kapitalakkumulation erschwert. Immer größere Mengen an Kapital finden keine hinreichend profitable Anlagemöglichkeit in der Produktion realer Güter, so dass spekulative, renditeträchtige Finanzmärkte die reale Wertschöpfung ersetzen.

Hinzu kommt eine wachsende Diskrepanz zwischen Produktionsvermögen und gesellschaftlichem Bedarf. Während technische Produktivität und globale Lieferketten ein potenziertes materielles Produktionsniveau ermöglichen, bleiben weite Teile der Bevölkerung von dieser Produktivität ausgeschlossen und sie werden von allgemeinen Wohlstandsgewinnen ausgeschlossen. Eine staatliche Nachfragestimulierung durch eine an der Mehrheit ausgerichteten Wirtschaftspolitik würde in erster Linie der Masse der privaten Haushalte als die wichtigsten Nachfrager zugutekommen. (7)

Der Wohlstand für die Bevölkerung stagniert

Nachdem dies aber weitestgehend ausbleibt, entstehen neue Formen sozialer Prekarität, verschärfte Konkurrenz und Abbau von Arbeitsplätzen sowie eine Übernutzung von natürlichen Ressourcen. (8) Und das BIP, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als wichtiger Wohlstandsindikator, stagniert insbesondere in Deutschland. Diese Stagnation bedeutet nicht nur ausbleibendes Wirtschaftswachstum, sondern auch stagnierende Realeinkommen für große Teile der Bevölkerung. Ein kontinuierlicher Anstieg des BIP pro Kopf, der früher Wohlstandsversprechen erfüllte, verweist heute signifikant auf die erreichten Grenzen des wachstumsorientierten Modells.

Im folgenden Schaubild zeigt sich die Wohlstandentwicklung für Deutschland im internationalen Vergleich in den vergangenen 10 Jahren.

Die Ursachen liegen wie oben angeschnitten in der Überakkumulation von Kapital, sinkenden Profitraten und der Verlagerung von Wertschöpfung in spekulative Bereiche, d. h. in Aktivitäten, die nicht unmittelbar zur Produktion von realen Gütern oder Dienstleistungen beitragen, sondern primär auf Finanzgewinne durch Spekulation abzielen (Han del mit Aktien, Anleihen etc. ausgerichtet sind. Der technologische Fortschritt führt gleichzeitig zu Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau, ohne dass neue, gleichwertige Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen. Der materielle Wohlstand der Lohnbeschäftigten stagniert. Der "Wohlstand" konzentriert sich zunehmend bei Kapitaleigentümern, während die Mehrheit der Bevölkerung von den Produktivitätszuwächsen abgekoppelt wird. Die BIP-Stagnation signalisiert somit eine systemische Krise des Kapitalismus.

Die vorherrschende Unternehmer-Mentalität in Deutschland 

Die durch die Allensbach-Studie ermittelte „Vertrauenskrise“ ist dieser Argumentation folgend also nicht in „Mentalitätsproblemen“ der Unternehmer zu suchen, sondern in der inneren Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Die Denkweise der Unternehmer ist kein persönlicher Charakterzug, sondern spiegelt ein Bewusstsein wider, das aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen der Produktion hervorgeht. Sie entsteht nicht im Einzelnen, sondern in jener Ordnung, die Gewinnstreben zur obersten Maxime macht.

Mit anderen Worten: Wenn Unternehmer über schrumpfende Profite und schlechte Verwertungsbedingungen jammern, so wie die Studie es zum Ausdruck bringt, ist dies weniger als ein psychologisches Versagen zu verstehen, sondern vielmehr als eine durch Fakten belegbare Reaktion auf abnehmende Gewinnmöglichkeiten. Das „Jammern“ über schrumpfende Profite spiegelt eher die reale ökonomische Situation wider als eine anfällige psychologische Haltung der Unternehmer.

Es ist die langfristige Tendenz im kapitalistischen Wirtschaftssystem, bei der die Profitrate, also das Verhältnis von Profit zum eingesetzten Kapital, trotz technischem Fortschritt und Produktivitätssteigerungen langfristig abnimmt.

Sollte sich der tendenzielle Fall der Profitrate nicht aufhalten lassen, würde er zu einer unüberwindbaren Grenze der kapitalistischen Akkumulation werden und könnte die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gefährden. (Karl Marx); (9)

Und so erklären sich generell die Handlungsoptionen kapitalistischer Unternehmen, Profit-Einschränkungen nach Möglichkeit durch Kosten-Einsparungen, technologische Rationalisierung, Produktionsoptimierungen und Verlagerungen zu kompensieren, was die Zahl der Beschäftigten reduziert und zugleich die gesamtgesellschaftliche Nachfrage senkt. (10)

Der daraus resultierende Nachfragemangel wird in der bürgerlichen Ökonomie als „Konsumzurückhaltung“ gedeutet, während er in Wahrheit Ausdruck der krisenhaften Dynamik der Überproduktion ist. Die strukturelle Perspektivlosigkeit bleibt bei fortgesetztem Personalabbau dabei ungelöst bestehen.  Eine wahrhaft echte Perspektive wäre durch den Fokus auf die Aufhebung der Ausbeutung und der Schaffung gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse zu sehen, statt auf individuelles Konsumverhalten. (11)

Die politische Rhetorik der aktuellen Bundesregierung verstärkt die „Vertrauenskrise“

Die angekündigte Reformoffensive im Herbst durch die Bundesregierung zielt darauf ab, staatliche Aufgaben zurück in private Hände zu überführen und die Arbeitsmärkte zu deregulieren. Diese Maßnahmen werden politisch begleitet mit der Aufforderung an Gewerkschaften und Interessensvertreter der Arbeiterschaft, bei Lohnverhandlungen, Forderungen nach Weihnachtsgeld sich zurückzuhalten, um zum Erhalt von Arbeitsplätzen beizutragen. Gleichzeitig wächst auch der Druck auf die Vertretungen der Beschäftigten, insbesondere der Gewerkschaften, welche sich im Rahmen einer vermeintlichen Tarifpartnerschaft und einem gesellschaftlichen Konsens darauf konzentrieren sollen, die Profitabilität zu gewährleisten, anstatt die gesellschaftliche Reproduktion sicherzustellen.

Die derzeitige Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD übernimmt dabei die Rolle des „ideellen Gesamtkapitalisten“, der die langfristigen Bedingungen für die Kapitalverwertung schafft und absichert. Aber das scheint bei den Unternehmern und Kapital-Verwaltern nicht anzukommen und den Erwartungen nicht zu entsprechen. So betrachtet wird die beschriebene „Vertrauenskrise“ zur ideologischen Frage der fortschreitenden Verwertungsprobleme innerhalb der Kapitalfraktion des in der Studie berücksichtigten Industrie-Sektors.

Festzuhalten bleibt, dass die hier behandelte „Vertrauenskrise“ als eine Erscheinungsform bürgerlicher Ideologie eingeordnet werden kann. Eine Vertrauenskrise ist in der kapitalistischen Vergesellschaftung keine Störung sozialen Zusammenhalts, sondern Ausdruck ihrer strukturellen Widersprüche. Vertrauen wurzelt in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht im direkten persönlichen Kontakt, in gemeinsamer Erfahrung oder gegenseitiger Verlässlichkeit, wie es in gemeinschaftlichen Strukturen der Fall wäre. Stattdessen entsteht es durch abstrakte, unpersönliche Mechanismen, über den Markt, über das Geld und über das Eigentum. Menschen vertrauen nicht direkt einander, sondern den Institutionen und Mechanismen des Kapitalismus, die ihre gesellschaftlichen Beziehungen durch Konkurrenz und Profitstreben vermitteln.

Wenn diese Vermittlungen – etwa in Finanz- oder Produktionskrisen – brüchig werden, erscheint der Verlust von Vertrauen als moralisches oder psychologisches Problem, als Versagen einzelner Akteure, Institutionen oder als Brüche im Glauben an den Markt, aber nicht als Folge des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Und dadurch überdeckt die Rede von der Vertrauenskrise die eigentliche Ursache: die Instabilität kapitalistischer Vergesellschaftung selbst.

Die Untersuchungsergebnisse der Allensbach-Studie Unternehmer verweisen u. a. auf massiv geplante Produktionsverlagerungen der deutschen Industrie-Unternehmen. Es geht den Unternehmen offensichtlich darum, gezielt Standorte mit günstigeren Steuergesetzen und weniger bürokratischen Hürden im Ausland zu nutzen. Erwartet werden niedrige Körperschaftssteuersätze, Steuervergünstigungen für Investitionen sowie flexible Arbeitsgesetze, um eine merkliche Erhöhung des Nettoprofits realisieren zu können. In der Folge belegen die befragten Unternehmen ihr offen vorgetragenes Interesse am Sozialabbau und an Steuerentlastungen. Die Unternehmerklasse übt (auch) dadurch politischen Druck aus, damit der Standort Deutschland vor allem für sie wettbewerbsfähig bleibt. Die aktuelle Bundesregierung kommt diesen Forderungen mit steuerpolitischen Reformen entgegen, beispielsweise durch Senkung der Körperschaftssteuer und Entlastung bei Stromkosten. Doch für viele Unternehmen erfolgt dies offenbar zu langsam oder ist von ihrer Wirksamkeit für sie zu wenig.

Die Lohnabhängigen in Deutschland tragen die negativen Folgen dieser sich abzeichnenden Strukturverlagerungen; Arbeitsplatzverlust, Lohndruck und die Gefahr von Sozialabbau sind direkte Ergebnisse geplanter und sich vollziehender Auslandsverlagerung der Produktion. Das Kapital nimmt dies in Kauf, da die Sicherung der Profitrate im globalen Maßstab Vorrang vor nationalen sozialen Interessen hat.

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Quellen:

(1) https://www.handelsblatt.com/unternehmen/mittelstand/industrie-deutsche-unternehmen-verlieren-laut-umfrage-glauben-an-die-zukunft-01/100158277.html

(2) W. Sabautzki: Reine Klassenpolitik, in Marxistische Blätter,4/2025;

(3) https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/editorial-das-alarmierende-misstrauensvotum-der-industrie/100164244.html

(4) https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5357-auto-hersteller-und-zulieferer-ruestungsgeschaeft-als-geschaeftserweiterung

(5) https://www.bundesbank.de/de/presse/reden/die-deutsche-wirtschaft-konjunkturschwankungen-bewaeltigen-und-langfristiges-wachstum-ankurbeln

(6) https://www.iwkoeln.de/studien/wie-vier-disruptionen-die-deutsche-wirtschaft-veraendern-herausforderungen-und-loesungen.html#:~:text=den%20Wohlstand%20in%20Deutschland%20gef%C3%A4hrden

(7) https://www.relevante-oekonomik.com/2025/10/18/falsche-diagnose-falsche-politik-die-unternehmen-leiden-weil-ihre-freunde-falsche-therapien-empfehlen/

(8) Ulf Immelt: Transformation, Krise, Deindustrialisierung, in Marxistische Blätter, 4/25

(9) https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/der-tendenzielle-fall-der-profitrate/

(10) https://www.derfunke.de

(11) H. Zdebel: Klassenkampf statt Konsumkritik, in: nd Journalismus von links, 2017

Wer verdient am Krieg?

Do, 23/10/2025 - 08:37

Kaum ein Industriezweig ist so mächtig und zugleich so unsichtbar wie die Rüstungsindustrie. Während Politikerinnen und Politiker von „Sicherheit“ sprechen und Medien neue Waffensysteme als Fortschritt feiern, arbeitet im Hintergrund ein Netzwerk aus Unternehmen, Banken und Lobbygruppen daran, dass das Geschäft mit dem Krieg weiterläuft. Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) hat mit ihrem Beitrag „Überblick zu den Akteuren der Rüstungsindustrie“ eine wichtige Bestandsaufnahme vorgelegt. (1) Auf dieser Grundlage lohnt es sich, genauer hinzusehen: Wer sind die eigentlichen Profiteure, wie ist dieses System organisiert – und warum scheint es in unserer Gesellschaft so selbstverständlich geworden zu sein?

Die Netzwerke des Krieges

Die Rüstungsindustrie ist weit mehr als nur Panzer, Raketen und Flugzeuge. Hinter den sichtbaren Symbolen militärischer Macht verbirgt sich ein eng verknüpftes Geflecht aus Herstellern, Zulieferern, Forschungsinstituten, Finanzinvestoren und politischen Entscheidungsträgern. Es gibt die großen Namen – Rheinmetall, Hensoldt, Airbus Defence – aber daneben gibt es unzählige kleinere Firmen, die Sensoren, Software, Elektronik oder Spezialteile liefern (5). Zusammen bilden sie eine internationale Wertschöpfungskette, deren Bestandteile sich über Kontinente verteilen. Ein Waffensystem, das in Deutschland gebaut wird, enthält Bauteile aus Frankreich, den USA oder Südkorea; das Kapital stammt oft aus internationalen Fonds. Krieg ist ein globalisiertes Geschäftsmodell. (2)

Diese globale Struktur hat Geschichte. Schon im Kalten Krieg war die Rüstungsindustrie der Motor eines gigantischen technologischen Wettlaufs. Nach 1990 hofften viele auf eine „Friedensdividende“, auf Abrüstung und zivile Umorientierung. Doch statt Stillstand kam die Umrüstung: Rüstungsfirmen suchten neue Märkte, neue Bedrohungsnarrative, neue Produkte. Aus der klassischen Waffenproduktion wurde ein High-Tech-Sektor, der sich mit Schlagwörtern wie „Cyberabwehr“, „Künstliche Intelligenz“ oder „Drohnen“ neu erfand. Der Krieg modernisierte sich – und mit ihm die Industrie, die davon lebt. (3)

Entscheidend für ihr Überleben war und ist die Politik. Denn ohne staatliche Aufträge gäbe es diese Branche nicht. Regierungen sind ihre besten Kunden. Wenn es um Verteidigungsbudgets geht, wird nicht gespart, sondern investiert. Politikerinnen und Politiker rechtfertigen das mit denselben Argumenten, die sich seit Jahrzehnten bewährt haben: Arbeitsplätze sichern, technologische Souveränität wahren, internationale Verpflichtungen erfüllen (4). Wer dagegenhält, gilt schnell als „unverantwortlich“ oder „naiv“. 

Demnach lebt die Rüstungsindustrie nicht vom freien Markt – sie lebt von der Politik. Der IMI-Artikel zeigt deutlich, wie eng Industrie und Politik miteinander verflochten sind. Exportbeschränkungen werden gelockert, Aufträge bevorzugt an nationale Anbieter vergeben, bürokratische Hürden abgebaut. Regierungen präsentieren das als notwendige Maßnahme zur „Sicherheit“, tatsächlich aber dient es oft dazu, wirtschaftliche Interessen zu stabilisieren. Die Branche ist dabei höchst profitabel – nicht, weil sie gesellschaftlichen Nutzen stiftet, sondern weil sie von einem garantierten Absatzmarkt lebt. Solange Staaten aufrüsten, fließt das Geld. (5)

Dass Rüstung kein normales Wirtschaftsgut ist, wird gern verschleiert. Volkswirtschaftlich betrachtet ist sie unproduktiv: Sie erzeugt nichts, was man konsumieren oder wiederverwenden könnte. Ihre Produkte dienen dazu, zu zerstören. Trotzdem gilt die Branche als Wachstumssektor. (6) Sie profitiert von Unsicherheit, von geopolitischen Spannungen, von Kriegen. Jede Krise, jede Eskalation lässt die Aktienkurse steigen. In diesem System ist Frieden kein ökonomisches Ziel, sondern ein Risiko.

Sprache, Macht und Transparenz

Parallel zur wirtschaftlichen und politischen Verflechtung hat sich ein professionelles Netzwerk etabliert, das die öffentliche Wahrnehmung steuert. Lobbyverbände beraten Ministerien, Think Tanks schreiben Studien über „Sicherheitsbedarfe“, PR-Agenturen polieren das Image. In Medien erscheinen Vertreterinnen und Vertreter der Branche regelmäßig als Expertinnen und Experten, die vermeintlich objektiv erklären, warum Aufrüstung unausweichlich sei. So verschwimmen die Grenzen zwischen Information, Meinung und Interessenvertretung. Je komplexer die Strukturen, desto schwerer fällt es, Verantwortlichkeiten zu erkennen. Wer verdient eigentlich an einem Krieg? Wer liefert, wer genehmigt, wer finanziert? Diese Fragen bleiben oft unbeantwortet, weil sie in einem Geflecht aus Geheimhaltung, technischer Sprache und politischen Phrasen untergehen.

Besonders auffällig ist die Macht der Sprache. Begriffe wie „Verteidigungsgüter“ oder „Sicherheitskooperation“ verwandeln Waffenexporte in etwas Harmloses, beinahe Notwendiges. Rhetorisch wird aus „Aufrüstung“ die „Stärkung der Verteidigungsfähigkeit“, aus „Kriegsgerät“ ein „Beitrag zur Friedenssicherung“. Medienberichte übernehmen diese Vokabeln oft unkritisch. Neue Panzer oder Drohnen werden wie Innovationen im Technikteil präsentiert – es geht um Reichweite, Präzision, Effizienz. Über Ethik, über die sozialen und ökologischen Folgen militärischer Produktion wird selten gesprochen. So entsteht ein Klima, in dem militärische Logik zur Normalität wird. (7)

Doch auch wenn die Rüstungsindustrie ihre Strukturen geschickt verbirgt, ist sie nicht unangreifbar. Die IMI zeigt mit Projekten wie den „Vernetzten Waffenschmieden“, wie viel sich offenlegen lässt, wenn man gezielt recherchiert. (2) Transparenz ist der erste Schritt: Wer die Verflechtungen kennt, kann sie benennen – und kritisieren. Ebenso wichtig ist es, den öffentlichen Diskurs zu verändern. „Sicherheit“ darf nicht länger automatisch „Militär“ bedeuten. Echte Sicherheit entsteht durch Bildung, soziale Gerechtigkeit, Energieunabhängigkeit und internationale Kooperation, nicht durch immer neue Waffenprogramme.

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(1)  https://www.imi-online.de/2025/09/25/ueberblick-zu-den-akteuren-der-ruestungsindustrie/ 

(2)  https://www.rosalux.de/vernetzte-waffenschmieden 

(3)  https://www.imi-online.de/download/IMI_Handbuch_Ruestung_web.pdf 

(4)  https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/ruestung-aufschwung-100.html 

(5)  https://www.dw.com/de/r%C3%BCstungsindustrie-boomt-wer-profitiert-davon/a-73115190 

(6)  https://taz.de/Wirtschaftlichkeit-von-Aufruestung/!6075375/ 

(7) https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/vom-koenigstiger-bis-zum-puma-im-zoo-des-krieges-li.2262517

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Siehe auch isw-report 140 "Die Zeitenwende und der Militär-Industrie-Komplex

 

 

Syrien – ein Schauplatz widerstreitenden Ringens um die Neugestaltung des Nahen und Mittleren Ostens

Do, 23/10/2025 - 08:17

Wenn es um die heutige Neugestaltung der nah- und mittelöstlichen Regionalordnung geht, so bildet Syrien aktuell dafür einen der Hauptschauplätze. Mit dem Sturz von Baschar Al-Assad im Dezember 2024 ist dieses durch die Stellvertreterkriege arg gebeutelte Land nunmehr zu einem Schlüsselglied dabei geworden, auf welcher Grundlage die künftige Ordnung in der Region verfasst sein wird. 

Während es für die USA und Israel, namentlich für US-Präsident Donald Trump und Israels Premier Benjamin Netanjahu, anscheinend nahezu selbstverständlich ist, dass die neuen Machtverhältnisse in Syrien dem von ihnen unter beider Ägide angestrebten Neuen Nahen und Mittleren Osten in die Karten spielen; versuchen andere Staaten der Region hingegen, diese Entwicklungen zu nutzen, um eine Regionalordnung zu begründen, die auf fairem Interessenausgleich sowie auf dem Prinzip von Dialog und Diplomatie statt auf einseitigen Sicherheits- und Hegemonieansprüchen basiert. 

USA und Israel auf vermeintlichem Siegeszug 

Aus Sicht der USA scheint klar zu sein, dass sie in Syrien gewonnen haben. Der Regime-Change, auf den sie fast ein Jahrzehnt lang gezielt hingearbeitet hatte, (1) ist nunmehr Realität. Das bedeutet für die USA, nach fast sechs Jahrzehnten dezidiert antiwestlicher Ausrichtung syrischer Politik jetzt wieder unmittelbaren Einfluss auf die Politikgestaltung in Damaskus nehmen zu können – zumal die neuen Machthaber sichtlich in ihrer Schuld stehen und sich dementsprechend offen zeigen müssen. Denn sowohl ihre Machtübernahme als auch ihre nachfolgende Anerkennung auf der internationalen Bühne verdanken sie in hohem Maße den USA. Wie sonst wäre es vorstellbar gewesen, dass Personen, die zuvor auf US-Terrorlisten gestanden und auf deren Ergreifung sogar Kopfgelder in Millionenhöhe ausgesetzt worden waren – wie beispielsweise Interimspräsident Ahmed Al-Scharaa noch unter seinem Kampfnamen Al-Julani – sich, ohne je zur Rechenschaft gezogen worden zu sein, als die neuen Hoffnungsträger vor der UNO präsentieren? Ganz abgesehen davon hängt es hauptsächlich von den USA ab, inwieweit die noch gegen Syrien bestehenden, und das Land knechtenden Sanktionen in Gänze aufgehoben werden. Nicht umsonst bemühten sich sowohl Interimspräsident Al-Scharaa als auch Außenminister Asaad Hassan Al-Shaibani während ihres Besuches in den USA und den dabei geführten Gesprächen auf offizieller Ebene – darunter auch im Senat (2) – um eine Aufhebung aller dieser Sanktionen.

Ein wichtiges Anliegen der US-Politik gegenüber Syrien besteht erklärtermaßen darin, dass Syrien die Normalisierung der Beziehungen zu Israel vorantreibt – offenkundig unabhängig davon, welche Politik Israel gegenüber Syrien verfolgt. Weil es letzten Endes um das gemeinsame Ziel geht, die Hegemonie in der Region zu sichern.

Offenbar beabsichtigt Israel, basierend auf seinen Erfolgen auf dem Schlachtfeld und dem darauf gegründeten Dominanzanspruch in der Region, die politische Landkarte Syriens völlig neu zeichnen. Ziel scheint zu sein, die bestehende territoriale Struktur des Landes zu verändern, um – gemäß seinem einseitigen Sicherheitsverständnis – sicherzustellen, dass Syrien künftig keine Bedrohung mehr für Israel darstellt. Statt weiterhin als einheitlicher Staat zu existieren, soll Syrien möglichst in mehrere Entitäten auf der Basis religiöser bzw. ethnischer Merkmale - eine drusische, eine alawitische, eine sunnitische sowie eine kurdische – aufgespaltet werden. 

Sicherlich nicht zufällig kursieren neuerdings im israelischen Regierungs-Diskurs frühere zionistische Pläne eines Groß-Israel – wie beispielsweise der Yinon Plan, (3) der in seiner Grundstruktur jener Teilung Syriens in mehrere separate Provinzverwaltungen zu Zeiten der französischen Kolonialherrschaft ähnelt. So ließe sich auch erklären, warum sich Israel ausgerechnet zur Schutzmacht der syrischen Drusen ausgerufen hat. Nach Berichten von Haaretz und Reuters (Mitte September) unterstützt es inzwischen drusische bewaffnete Kämpfer mit Geld, Munition und anderem Kriegsgerät. Ebenso werden die Kurden auch weiterhin dazu ermuntert, ihre Eigenständigkeit gegen Damaskus zu behaupten.

Nicht zuletzt scheint es für Israel darum zu gehen, weiteres syrisches Territorium – mehr oder weniger offiziell – kontrollieren zu können, nachdem es bereits die Kontrolle über die gesamten Golan-Höhen und den Berg Hermon völkerrechtswidrig  an sich gerissen hat. Umso mehr wird abzuwarten sein, wie das Sicherheitsabkommen dann tatsächlich aussieht, über welches seit einigen Monaten zwischen beiden Seiten verhandelt wird. Bislang bekannte Eckpunkte lassen darauf schließen, dass Israel seinen Anspruch auf die von ihm 1967 besetzten und 1981 annektierten syrischen Golan-Höhen künftig vertraglich absichern könnte. (4) Bereits während seiner ersten Amtszeit hatte US-Präsident Donald Trump – unter Bruch allen Völkerrechts – die syrischen Golan-Höhen als israelisches Staatsgebiet anerkannt. Ein Verzicht auf dieses Territorium dürfte von der syrischen Gesellschaft allerdings kaum widerspruchslos hingenommen werden. 

In seiner Rede vor der UNO verurteilte der syrische Interimspräsident die auch noch nach dem Assad-Sturz am 8. Dezember 2024 beständigen  israelischen Angriffe auf Syrien als Bedrohung – nicht nur für sein Land, sondern für die gesamte Region. 

Regionalmächte als immer entschlossenerer Gegenpart

Insbesondere die beiden Regionalmächte Türkei und Saudi-Arabien, die – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – zu den Gewinnern des Assad-Sturzes zählen, versuchen, ihre Positionen hinsichtlich der Syrien-Frage zu nutzen, um Israels Streben nach uneingeschränkter Machtdominanz in der Region entgegenzuwirken. Dies geschieht allerdings jeweils entlang ihrer eigenen Interessen und unter Beibehaltung enger Beziehungen zu den USA, was durchaus teilweise erhebliche politische Spannungen impliziert. Immerhin ist die Türkei NATO-Mitglied, während Saudi-Arabien seit Jahrzehnten in einer strategischen Partnerschaft mit den USA steht. 

Für die Türkei, deren Beziehungen zu den neuen Machthabern besonders eng sind – manche Beobachter sprechen von Syrien bereits als einem türkischen Protektorat – steht die Kurdenfrage mit an vorderster Stelle. Die Türkei widersetzt sich jeglicher Abtrennung jener hauptsächlich von Kurden getragenen Autonomen Administration in Nord- und Ost-Syrien (AANES). Ebenso drängt sie auf die Integration der dortigen Kampfeinheiten, der Syrian Democratic Forces (SDF), in die reguläre syrische Armee und fordert eine zügige Umsetzung des am 10. März zwischen der SDF und Damaszener Machthabern unterzeichneten Abkommens. Umso herausfordernder stellt sich dementsprechend für sie das Bestreben Israels dar, die Kurden für die mögliche Realisierung des von Netanjahu bereits positiv goutierten Groß-Israel-Konzepts zu instrumentalisieren zu suchen. 

Um dem zu begegnen, intensiviert die Türkei ihre Beziehungen mit Damaskus in allen Bereichen, darunter insbesondere auch auf nachrichtendienstlichem und militärischem Gebiet. Auf der Grundlage des im August zwischen beiden Ländern vereinbarten Militärabkommens will die Türkei insbesondere daran mitwirken, eine einheitliche, reguläre syrische Armee aufzubauen – was gleichfalls Israels Ambitionen auf ein verteidigungsunfähiges Syrien als Nachbarn entgegensteht. 

Für Saudi-Arabien, das eine zentrale Rolle als regionale Führungsmacht mit globaler Ausstrahlung anstrebt, ist Syrien schon aufgrund seiner geografischen Lage in der Levante von besonderer strategischer Bedeutung. 

Im Mittelpunkt der saudischen Syrien-Politik steht vor allem, das Land politisch und ökonomisch nach Kräften stabilisieren zu helfen. Nicht ohne Eigennutz hat sich Saudi-Arabien vehement für die Anerkennung der neuen Damaszener Machthaber und deren Aufnahme in die arabische Staatenfamilie eingesetzt. Zudem vermittelte es die Kontaktaufnahme zwischen Trump und Al-Scharaa und trug damit wesentlich zu dessen internationaler Reputation bei. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet engagiert sich Riad vielfältig für Syrien. Nicht nur hat es zusammen mit Qatar für die syrischen Weltbank-Kredite gebürgt; überdies wurden verschiedene Abkommen im Umfang von Milliarden USD zur Entwicklung wirtschaftlicher Schlüsselindustrien wie zur Trümmerbeseitigung vereinbart. 

Ungeachtet aller Interessenunterschiede zwischen der Türkei und Saudi-Arabien auf syrischem Boden besteht indessen ausdrückliches Einvernehmen darüber, die Einheit und territoriale Integrität Syriens in seinem bisherigen Bestand zu bewahren und jeglicher Aufgliederung des Landes in einzelne Entitäten entschieden entgegenzutreten. Ebenso verurteilen beide Staaten das gegenwärtige militärische Vorgehen Israels in der Region.

Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass Ankara und Riad – im Kontext der politischen Umbrüche in Syrien sowie des immer aggressiveren Vorgehens Israels  – ihre Zusammenarbeit zunehmend auch auf den Sicherheitsbereich ausdehnen. So erhob unlängst der türkische Außenminister, Hakan Fidan, die Forderung nach einem gemeinsamen Sicherheitsmechanismus, der der neben ihnen insbesondere auch Ägypten sowie weitere Staaten der Region einbeziehen soll. Ziel ist es offenbar, eine größere strategische Autonomie zu erreichen und so die entstehende Regionalordnung im Sinne der Prinzipien friedlicher Koexistenz zwischen den Staaten und Völkern des Nahen Ostens aktiv mitzugestalten 

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(1) Bis dann dahin, wie der US-Botschafter zu Assads Zeiten, Robert Ford, Mitte Mai in einem Gespräch mit dem Baltimore Council on Foreign Affairs ausgeplaudert hat, von einer britischen, mit dem MI6 in Zusammenhang gebrachten NGO angesprochen worden zu sein, aus Al-Julani einen Politiker von staatsmännischem Format machen zu sollen. Ihn also – im Zuge eines Regime-Change der besonderen Art – zu dem heutigen Al-Scharaa werden zu lassen.

(2) So traf sich Al-Shaibani am 19. Mai mit Mitgliedern des Komitees für Internationale Beziehungen beim US-Senat, zum Gespräch über die Dringlichkeit eines stabilen, wirtschaftlich prosperierenden Syriens sowie die daraus resultierende Notwendigkeit der Sanktionsaufhebung. Vgl. dazu https://sana.sy/en/politics/2268352/  

(3) Ein Plan, der in den 1980er Jahren vom israelischen Journalisten Oded Yinon entwickelt worden sein soll und der auf die Errichtung zweier sunnitischer Staaten – einen um Aleppo und einen um Damaskus gruppiert –, eines alawitischen Staates entlang der syrischen Mittelmeerküste sowie eines drusischen Staates im Süd-Südwesten Syriens optiert hat und bei dem die Kurden als befreundet ausgewiesen sind

(4) Was unter der Assad-Herrschaft für Israel nicht zu erreichen gewesen ist. So waren gerade daran die einst noch unter der Präsidentschaft von Hafez Al-Assad geführten Verhandlungen über ein Friedensabkommen mit Israel gescheitert.

Das isw trauert um Conrad Schuhler

So, 05/10/2025 - 21:14

Mit dem Tod von Conrad Schuhler verliert das isw einen seiner qualifiziertesten Mitarbeiter und langjährigen Vorsitzenden. Conrad hat entscheidend zum Profil des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung beigetragen. Hauptanliegen seiner wissenschaftlichen und Forschungsarbeit war die Analyse und das Ergründen der Bewegungsgesetze des globalen Kapitalismus, dazu hat er wichtige Beiträge geleistet. Dabei versuchte er auch immer, Anstöße zu Alternativen zu geben. Conrad sah eine wirksame Gegenbewegung in gleichgerichteten Aktionen von Friedensbewegung, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, national und international. Und in Zeiten, wo andere sich schon resigniert zurückgezogen haben, hat er trotz schwerer Krankheit unermüdlich bis zum letzten Moment weitergearbeitet, nie aufgegeben.

Conrad hat seine Erkenntnisse auf isw-Foren, Friedensratschlägen, Gewerkschaftskonferenzen, vielen Veranstaltungen und in Streitgesprächen zur Diskussion gestellt. Dabei war es sein besonderes Anliegen, mit jungen Menschen die Ideen des Marxismus zu diskutieren.

Conrad war nicht nur der scharfe Analytiker. Wer mit ihm zusammengearbeitet hat, kennt auch seine Wärme, seine Geduld, seinen Humor und seine Streitlust. Er hat Freundschaften gepflegt und Solidarität gelebt. Conrad war ein Beispiel dafür, dass Wissenschaft und Menschlichkeit zusammengehören. Er wird uns fehlen als Mitstreiter, Lehrer und Genosse.

In tiefer Trauer und großer Dankbarkeit.

isw-Redaktion